Der Spinnenkopf

I BRAUCH MEI ÜBERDOSIS G’FÜHL

6/10


spinnenkopf© 2022 Netflix


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JOSEPH KOSINSKI

CAST: CHRIS HEMSWORTH, MILES TELLER, MARK PAGUIO, JURNEE SMOLLETT, TESS HAUBRICH, NATHAN JONES U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN 


Netflix will sich zur Zeit nicht nur auf seinen wuchtigen Straßenfeger Stranger Things verlassen – langsam spielt der Mediengigant auch andere gute Karten aus. Zumindest Karten, die illustre Besetzungen vorweisen können, wie Chris Hemsworth, den Marvel-Thor, der übrigens in Kürze wieder auf der Leinwand sein Beliebtheitsskala wohl mit Natalie Portman teilen wird müssen. Dieser Chris Hemsworth kann tatsächlich mehr als nur den etwas bauernschlauen, aber herzensguten Donnergott geben – er kann tatsächlich auch, wenn es die Rolle verlangt, auf Selbstironie verzichten und sich wie immer äußerst fesch, geschnäuzt und gebürstet zwar, aber durchaus auch in ambivalenter Geisteshaltung in Szene setzen. Zur Seite steht ihm Miles Teller, der erst kürzlich im Kino mit der F-18 gefährliche Manöver flog. Das geschah unter der Regie von Joseph Kosinski, ein von Tom Cruise hoch geschätzter Regisseur, der bereits Oblivion mit ihm abgedreht hat und sich diesmal aber Mavericks Co-Star weiterverpflichten ließ. Der Science-Fiction-Film, der eben erst kürzlich zu streamen ist, nennt sich Der Spinnenkopf und beruht auf einer Kurzgeschichte von George Saunders. Bei Kurzgeschichten, so viel ist klar, geht es in erster Linie darum, gerade mal ein Szenario anzudenken, dass sich längst nicht allen Plausibilitätsprüfungen unterziehen muss, da es vor allem erlaubt sein darf, kreative und auch richtig obskure Gedanken laut auszusprechen, ohne sich logisch absichern zu müssen. Kurzgeschichten sind Inspiration. Den Rest ergänzt der Leser in einer eigenen imaginären Fortsetzung oder spinnt die Theorie eines aus dem Ruder laufenden Experiments gerne selber weiter.

Kosinskis Film macht aus dieser verspielten Kritik an der Pharmaforschung jenseits aller Ethik ein grob skizziertes Kino-Kammerspiel über Gefühlsarmut und der Sehnsucht nach dem Erspüren überwältigender Empfindungen. In einer Welt, in der die emotionale Metaebene des zwischenmenschlichen Kommunizierens morschen Boden hinterlässt, testet in einem trendig-schmucklosen Betonbunker irgendwo am Meer Chris Hemsworth als Projektleiter Steve die Chemie hirnrelevanter Botenstoffe aus. Einmal mehr Liebe, einmal weniger Angst, dann wieder mehr Redseligkeit und dann wieder, weil‘s so schön war, die rosarote Brille, die alles schönfärbt. Das klingt nach klassischen Drogen – und ja, das sind sie auch, diese kleinen Ampullen, die sich Probanden wie Miles Teller in ihrem kleinen biomechanischen Zählerkasten irgendwo im unteren Bereich der Wirbelsäule haben einpflanzen lassen. Was Leute wie er davon haben, hier freiwillig mitzuwirken, liegt wohl daran, dass der gesetzliche Maßnahmenvollzug wohl sonst in der simplen Haftanstalt über die Bühne gehen würde – hier, an diesem idyllischen Ort, der aussieht als wäre es eine große Wohngemeinschaft aus Straffälligen, haben die Testpersonen ihre eigene Zuflucht und alle Annehmlichkeiten der Welt. Nur fort dürfen sie nicht – erst wenn das Strafmaß abgesessen ist. Währenddessen verbringt Hemsworth Stunden und Tage damit, seine „Opfer“ allen möglichen Stimuli auszusetzen, auch dem sogenannten Dunkelflux, das gleichzusetzen ist mit einer akuten, schweren Depression.

Klar, dass diese Studie natürlich nicht ganz legal vonstatten geht, und klar, dass Miles Teller letztendlich die Botenstoff-Party crashen wird. Mit dieser im Grunde feinen sowie reizvollen Idee, neuronale Defizite in einer reizüberfluteten Welt ausgleichen zu wollen, fährt Kosinski gemeinsam mit seinen Drehbuchautoren über Berg und Tal, ohne genau darauf zu achten, ob das Werkelchen Schaden erleidet. Denn so wirklich sinnvoll erscheinen diese Drogentests alle nicht. Was genau bezweckt der gelackte Anzugträger Steve damit, der sich jeden Morgen jovialen Smalltalk mit seinen Probanden erlaubt? Der Plot gerät konfus, irgendwann weiß man vor lauter Seren eigentlich nicht mehr, wer wann welches davon ausgeschüttet bekommt. Was aber Eindruck hinterlässt, ist Hemsworths im Zickzackkurs laufendes Minenspiel, von der Schulterklopfrhetorik über wissenschaftlichen Erklärbär bis zum emotional völlig verwirrten Häufchen Elend.

Klar, Filme wie diese folgen klaren Formeln, und wenn es die Zeit nicht erlaubt, eine Vorlage anders als sonst zu adaptieren, tut es auch das. Der Spinnenkopf ist zwar nicht zu Ende gedacht und hängt auch anfangs recht orientierungslos herum, im Kern aber gibt‘s Momente, die Saunders Kurzgeschichte in ihrer Polemik wohl gerecht werden.

Der Spinnenkopf

Milla Meets Moses

KAUM ERWACHSEN, SCHON ALLES VORBEI

5/10


MillaMeetsMoses© 2020 X-Verleih


LAND: AUSTRALIEN 2019

REGIE: SHANNON MURPHY

BUCH: RITA KALNEJAIS, NACH IHREM THEATERSTÜCK

CAST: ELIZA SCANLEN, TOBY WALLACE, BEN MENDELSOHN, ESSIE DAVIS, EMILY BARCLAY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Erstmals aufgefallen ist mir die junge Dame in Greta Gerwigs Literaturadaption Little Women: Eliza Scanlen. Ein Gesicht, das man nicht so schnell vergisst. Ein Gesicht, das so traumverloren durch die Gegen blickt, das zumindest ich niemals den Mut dafür aufbringen könnte, diesen Tagtraum zu unterbrechen. Der junge Moses, ein von der Familie verstoßener Junkie, schafft beides. Und das nahezu auf den ersten Blick. Zumindest für Milla, die leider Gottes ein schweres Schicksal mit sich herumtragen muss. Sie ist an Krebs erkrankt. Was für eine Art Krebs wird nie genau thematisiert. Überhaupt verhängt Regiedebütantin Shannon Murphy fast schon ein Tabu über diesen Umstand, der eine ganze Familie in einen selbstvergessenen Sog aus Medikamenten und unkontrollierten Affekthandlungen stürzen lässt.

Diesem Moses, stets auf der Suche nach dem nötigen Kleingeld, kommt ganz gelegen, dass Milla auf ihn steht. Er wird kurzerhand zum Essen eingeladen, taucht dann immer mal wieder auf, bricht des Nächtens sogar in die Wohnung ein. Die Eltern (Essie Davis und Ben Mendelsohn mal nicht als Schurke) widert dieses Verhalten an. Doch was gut für die Tochter ist, muss auch gut für sie sein. Eine Erkenntnis, die einige Anläufe braucht, um auch zu den Erwachsenen durchzudringenn. Und das gerade in Anbetracht des womöglich viel zu kurzen Lebens, das Tochter Milla ausgefasst hat.

Im Original nennt sich dieses australische Independentdrama Babyteeth – Milchzähne. Tatsächlich hat Milla noch einen, und das als Teenager. Ein Milchzahn also als letztes Hindernis zum Erwachsenwerden? Fällt auch dieser aus, ist das Leben vorbei. Denn erwachsen zu sein und nichts davon zu haben wäre geradezu unfair. So ist der nahende Tod als gewisse Ahnung über allem hängend.

Es gibt da eine klitzekleine Sequenz, die ist wohl die beste Episode in dieser Abfolge mehrerer, mit bunten Lettern betitelten Szenen: es ist jene, in der Milla mit dem Tod kommuniziert. Ein abstraktes Intermezzo, in der Eliza Scanlen eine metaphysische Eingebung widerfährt. Ein erstauntes Gesicht, ein leichtes Lächeln. Ein Ansatz, der Milla Meets Moses vielleicht ganz neue Aspekte auf ein Thema abgerungen hätte, welches Shannon Murphy bewusst zurückdrängt. Das ganze Ensemble sträubt sich gegen diese Wahrheit, und alle treiben scheinbar ziellos ohne Selbststeuerung über einen Ozean, dessen Strömungen vielleicht irgendwann irgendwohin führen. Für ein Krankheitsdrama ist die Verfilmung eines Theaterstücks von Rita Kalnejais viel zu vage, als Romanze recht oberflächlich, als Familiendrama vielleicht noch am ehesten tragend, doch auch hier fällt es schwer, starke innerfamiliäre Bindungen zu erkennen – zu selbstbezogen werden die Eltern umrissen. Das macht es schwierig, Nähe zu den Menschen aufzubauen, denen selbst es unglaublich schwerfällt, Nähe zuzulassen. Sie sind Meister der Verdrängung – so wie der ganze Film den Fokus auf Verdrängung legt.

Milla Meets Moses