Sunset

HUTMACHER OHNE WUNDERLAND

4/10

 

sunset© Laokon Filmgroup – Playtime Production 2018

 

LAND: UNGARN, FRANKREICH 2018

REGIE: LÁSZLÓ NEMES

CAST: JULI JAKAB, VLAD IVANOV, EVELIN DOBOS, MARCIN CZARNIK, JUDIT BÁRDOS, SUSANNE WUEST U. A. 

 

Der ungarische Regisseur László Nemes wurde für sein erschütterndes Holocaust-Drama Son of Saul mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Kurze Zeit später hat Nemes gleich einen weiteren Film nachgelegt, der sich nicht weniger mit der europäischen Geschichte beschäftigt, dafür aber einige Jahrzehnte zurückdreht in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in die beginnenden Zehnerjahre des 20ten Jahrhunderts sozusagen, als die Popstar-Kaiserin Sissi schon lange tot und der Kaiser Franz Josef sich bereits vermehrt schon gefragt hat, warum ihm denn eigentlich nichts erspart bleibt. Das Kaiserhaus aber ist in Sunset eine Mehrtageskutschenfahrt von Budapest entfernt. Die Vielvölkermetropole an der Donau legt ein frühlingshaft flirrendes Stelldichein an den Tag. Die Straßen sind voll mit gutbetuchten Grüppchen, die sich dieses und jenes leisten wollen, vielleicht auch einen dieser ausladenden Hüte, die es im entsprechenden Salon des Handelshauses Leiter zu bestaunen gibt. In diesen impressionistisch bebilderten Alltag zwischen sonnendurchfluteten Monetbildern und Aquarelle Rudolf von Alts bricht durch die homogene Kakophonie der Mieder, Zylinder und Steckfrisuren das Konterfei einer jungen Frau im Großformat, die mit unsteten Blicken nach ihrer Vergangenheit sucht, die nur im Hutsalon Leiter zu finden ist. Dort ist keiner erfreut, auf das Erbe dieses Unternehmens zu stoßen, das längst von anderen Leuten dirigiert wird. Der Name Leiter ist zur Familie non grata geworden, und das Gerücht, ein unbekannter Bruder treibe in der Stadt sein Unwesen, erhärtet sich.

Das klingt natürlich nach einer spannenden Familiengeschichte. Ein bisschen nach Der Engel mit der Posaune, und wenn man die ersten Minuten des Filmes bereits genossen hat, ließe sich sehr leicht der Stil eines Heimito von Doderers verbergen, der in seinen Romanen sehr viel Wert auf gesellschaftliches Ambiente gelegt hat, ohne den eigentlichen roten Faden seiner Beschreibung konsequent voranzutreiben. Doch ich bewege mich zusehends in Richtung Literatur und verlasse das Medium Kino – was László Nemes nach meiner resümierenden Empfehlung voll eher auch früher als später feststellen hätte sollen. Sunset ist nämlich zu einem zähen, narrativen Ungetüm verhoben worden, das sich sehr bald in vielen Manierismen festfährt, ohne das Kind beim Namen zu nennen.

Dabei ist sein visueller Stil anfangs von betörender, ja geradezu berauschender Art. Panoramen, wie man sie vielleicht erwarten würde, gibt es bei Nemes keine. Sein Kameramann Mátyás Erdély, der auch bei Son of Saul hinterm Sucher saß, komponiert mit sehr viel Objektivunschärfe diffuse Malereien in stark begrenzten Ausschnitten, man erahnt gepinselte Schemen flanierender Personen mit Sonnenschirmen, Kutschen im Hintergrund, die Unruhe einer Monarchie im Abendrot ist spürbar, erlebbar. Ganz vorne, stets zentriert, das Gesicht von Juli Jakab, einmal von vorne, einmal von hinten, dann wieder im Profil, meist mit Hut, und die Kamera weicht ihr nicht von der Seite, niemals, so hat es den Anschein. Bei über zwei Stunden Laufzeit ist dieser wechselnde Stil aus Unschärfe und Portraitaufnahme bald totgelaufen. Vor allem auch deswegen, weil Nemes seine Geschichte nur verhalten weiterbringt, seine Protagonisten meist im murmelnden Flüsterton reden lässt, Juli Jakab versteht man kaum. Der Historienfilm beginnt sich zu ziehen, die Bilder sind nach wie vor stimmig, verlieren aber das Interesse an dem, was sie visualisieren sollen.

Von der Endzeit einer verkommenen Monarchie will Sunset erzählen, von einer Götterdämmerung kaiserlicher Hörigkeit. Das konnte Axel Corti mit seiner phänomenalen Verfilmung des Radetzkymarsch viel besser. Mit Joseph Roth als literarischer Vorlage kann auch nicht viel passieren, seine messerscharfen Beobachtungen rund um den Ersten Weltkrieg sind zeitlos, niemals wehleidig und auf den Punkt gebracht. Nemes ergeht sich in selbstverliebter Schwammigkeit jenseits aller Griffigkeit und ohne fesselnde Akzente zu setzen. Will der Überdruss für ein Politsystem allerdings sein filmisches Pendant finden, dann ist mit Sunset der Wunsch nach dem Ende einer Epoche längst gut genug empfunden.

Sunset

Alice im Wunderland 2 – Hinter den Spiegeln

WUNDERLAND IST ABGEBRANNT

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Der britische Schriftsteller Lewis Carroll erschuf in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine phantastische Kindergeschichte, die er auf Bitten von Alice Liddell, einem ihm bekannten und verehrten Mädchen, zu Papier brachte. Wobei nur der erste Band, Alice im Wunderland, eine durchgehende Geschichte war. Alice hinter den Spiegeln, der rund zehn Jahre später erschienene Folgeband, war nur mehr eine Sammlung aus Kurzgeschichten und Gedichten aus einer surrealen Wunderwelt, wo alles möglich zu sein scheint und jedes noch so bizarre Lebewesen existieren kann. Neben Michael Endes unendlicher Geschichte und Alfred Kubins Anti-Fantasy Die andere Seite ist Carrols Phantasmagorie wohl eine der psychologisch-phantastischsten und kreativsten Geschichten überhaupt. Aber wie wagt man sich an einen solch überbordenden Stoff heran, wie wird man so einer Fülle an Ideen und Bildern überhaupt gerecht? Die Zeichentrickserie aus den Achtzigern, die meine Generation im Kinderprogramm sehen durfte, hat uns Kleinen etwas mit dieser Welt vertraut gemacht. Nie wieder werden wir vergessen, wer Humpty Dumpty, der Märzhase oder der Hutmacher sind. Vor einigen Jahren aber hat sich niemand geringerer als Visionär Tim Burton an den Stoff herangewagt – allerdings hat er die Story etwas adaptiert und erwachsener gemacht. Und hat eine üppig bebildertes Widersehen mit all den schrägen alten Bekannten organisiert – in mäßigem 3D wohlgemerkt.

Der nachgeschossene zweite Teil, der sich aus dem Motivfundus von Carrolls zweitem Buch bedient, ist allerdings ein bemitleidenswerter Fehlgriff geworden, der alles Kreative und Lebendige in klinischem CGI ertränkt. Ich weiß nicht, wie anders Tim Burton seinen ersten Teil angelegt hat – No Name-Regisseur James Bobin jedenfalls hat es nicht richtig gemacht. Womöglich war er mit dem Stoff überfordert. Womöglich wollten die Studios unbedingt an der Erfolgsgeschichte des Erstlings anschließen. Doch auf Biegen und Brechen lässt sich keine Fortsetzung machen, das wissen wir. Da sind schon viele baden gegangen. Und so auch Alice, die zweite. Was wir hier sehen ist ein albernes Familiendrama rund um den Hutmacher. Natürlich reicht das nicht, da müssen noch die weiße und die Herzkönigin her, und deren Familiengeschichte erzählt werden. Haben die denn alle Carrolls Geschichte nicht verstanden? Der Zauber der Figuren, das Surreale, das Mystische – das liegt im Geheimnis um jede einzelne Figur in diesem metaphysischen Universum. Sie sind einfach da. Sie müssen keine Familie haben. Sie sind von unserer gewohnten Welt vollends entkoppelt. Daher ist es ja ein Wunderland. Wieso nun diese Ahnenforschung? Dieses Vermenscheln traumartiger Gestalten? Das ist ja so, als würde man den zerronnenen Taschenuhren Dalis eine physikalische Ursache für ihren Zustand unterschieben. Will das wer? Ich denke nicht.

Doch abgesehen davon ist Alice im Wunderland 2 – Hinter den Spiegeln ein bestes Beispiel dafür, wie man CGI genau nicht einzusetzen hat. Es ist eine ungeschriebene Regel, dass das Verhältnis computeranimierter und realer Elemente zumindest halbe-halbe sein muss. Besser noch, die CGI ist so perfekt in die Bilderwelt integriert, dass man nicht genau trennen kann, was nach dem Dreh hinzugefügt wurde und von vornherein schon da war. Dieser Film zerstört sich aber selbst, indem er billige Welten auferstehen lässt, die so offensichtlich künstlich sind, dass jeder Charme und jeder Reiz verloren geht. Das Problem hatte bereits Star Wars – Angriff der Klonkrieger, das Problem hatte Gods of Egypt. CGI ist ein wunderbares Werkzeug, doch es sollte dem Zweck dienen, und nicht den Film dominieren. Vor allem, wenn es noch dazu schlecht gemacht ist.

Alice verliert im Sequel ihr Wunderland. Da kann nicht mal die Zeit in Gestalt von Sascha Baron Cohen alle Wunden heilen. Keine Ahnung wie Tim Burton zu diesem Film steht. Wäre zumindest der Plot gut gewesen, hätte ich noch ein Auge zugedrückt. Aber das, was hier hinter den Spiegeln verborgen liegt, lohnt sich nicht, erkundet zu werden.

 

 

 

Alice im Wunderland 2 – Hinter den Spiegeln