Zeit der Kannibalen (2014)

GEFANGEN IN DAGOBERTS GELDSPEICHER

4/10


zeitderkannibalen© 2014 Farbfilm


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2014

REGIE: JOHANNES NABER

BUCH: STEFAN WEIGL

CAST: SEBASTIAN BLOMBERG, KATHARINA SCHÜTTLER, DEVID STRIESOW U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Johannes Nabers sarkastisches Stück deutscher Fremdschäm-Politik konnte mich vor zwei Jahren so ziemlich begeistern: Curveball – Wir machen die Wahrheit. Aufgespielt haben der sensationelle Sebastian Blomberg als einer, der nicht weiß, wie ihm geschieht, weiters Michael Wittenborn und Thorsten Merten. Alle drei wie für Satire gemacht, noch dazu vor dem erschütternden Hintergrund einer Realgroteske, die den Lauf der Geschichte nachhaltig verändert hat. Ich sage nur: Biowaffen im Irak. Und warum die USA letztendlich Saddam Hussein gestürzt und das Land in irreparables Chaos versinken ließ. Von so einer Brisanz ist Nabers zweiter Spielfilm, Zeit der Kannibalen, leider weit entfernt. Doch nichts für ungut, das ist nur meine Meinung, denn wenn man sich so umhört in den Nachrichtenarchiven rund um Kino und Kunst, so kommt Zeit der Kannibalen ziemlich gut weg – als ein auf den Punkt gebrachtes Kammerspiel zu Gier und Moral, Kapitalismus und Ausbeutung.

Der Inhalt liest sich zugegebenermaßen tatsächlich so, als wäre ein spannender Zermürbungskrieg zu erwarten, der die drei global agierenden Investment-Junkies Devid Striesow, Katharina Schüttler und natürlich wieder Sebastian Blomberg gegeneinander so lange aufhetzt, bis sie sich entsprechend zerfleischen. Schadenfreude garantiert, denn bei so viel kapitalistischer Arroganz macht es Spaß, die Verantwortlichen für die klaffende Arm-und-Reich-Schere sich selbst den Garaus machen zu sehen. Vielleicht aber hätte man nicht erwartet, dass Zeit der Kannibalen unbedingt so abstrakt sein will wie das Bühnenstück eines sich selbst überschätzenden Theatermachers. Naber bettet seine zynische Dialogkomödie nicht in eine Realität wie später bei Curveball, sondern lässt seine Protagonisten in generischen Hotelzimmern ihrer Arbeit nachgehen, während draußen vor den Fenstern eine aus Würfeln errichtete Skyline ebenso generischer Dritte-Welt-Städte das Gefühl von Internationalität vermittelt. Wenn schon die Kulisse der Hotels als wohlige Blase für Gier und Missgunst anmutet, ist die künstliche Außenwelt eine zweite, die das ganze Geschehen von der Wahrhaftigkeit abschirmt. Mag sein, dass diese Reduktion den Fokus viel mehr auf das Erstarken und Fallen einer geldmachenden Welt reduziert – die Rechnung geht dennoch nicht auf.

Dabei ließe sich allerhand aus diesen Spinnereien, die in diversen Kämmerleins gesponnen werden, abschöpfen. Der Plot ist nämlich dieser: Striesow und Blomberg geben zwei Wirtschaftsvertreter einer ominösen Company, die für alle Konzerne dieser Welt stehen kann – ins Detail geht Naber dabei nie. Diese erfahren, dass sie statt ihres dritten Kollegen Hillinger, der, wie sich später herausstellen wird, Suizid begangen hat, eine aufstrebende Quereinsteigerin namens Bianca zugeteilt bekommen. Während sie von einem zu schröpfenden Staat in den nächsten reisen, entsteht so das satirische Bild eines Trio Infernal, das sich gegenseitig aufhetzt, erniedrigt oder belehrt. Währenddessen allerdings scheint die Company, für die sie arbeiten, seltsame Entwicklungen zu durchleben, die nicht gerade sinnbildlich sein sollen für das goldene Zeitalter des Kapitalismus.

Naber hätte eher beim Sezieren realer Ereignisse bleiben sollen, anstatt den Zynismus gefühlskalter Globalisierungssöldner in ein ebenso zynisches Lehrstück zu packen. Dabei bringen die verbalen Duelle keine der Figuren weiter, sie sind in ihren Ansichten genauso gefangen wie wir als Zuseher in diesen unleidigen sterilen Räumlichkeiten. Zeit der Kannibalen bleibt viel zu künstlich, kaltschnäuzig und unnahbar. Als die kleine Chronik eines selbstgemachten Untergangs vermag lediglich die am Ende hereinbrechende Anarchie eines Krieges ein bisschen Menschlichkeit in Form von Panik aus den zweidimensionalen Figuren herauszukitzeln.

Zeit der Kannibalen (2014)

Die Aussprache

DIE ENTBEHRLICHKEIT DER MÄNNER

6/10


womentalking© 2022 Orion Releasing LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: SARAH POLLEY

BUCH: SARAH POLLEY, NACH DEM ROMAN VON MIRIAM TOEWS

CAST: ROONEY MARA, CLAIRE FOY, JESSIE BUCKLEY, BEN WISHAW, FRANCES MCDORMAND, JUDITH IVEY, SHEILA MCCARTHY, KATE HALLETT, LIV MCNEIL, EMILY MICTHELL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Alle Männer sind böse. Zumindest hat das Jessie Buckley zuletzt in Alex Garlands surrealem Kunsthorror Men so erlebt. Jeder Mann, dem Buckley da begegnet war, hat das selbe Gesicht getragen. Wie gruselig. Und beklemmend obendrein. Jetzt ist Jessie Buckley wieder dieser Testosteron-Hydra ausgesetzt. In Sarah Polleys Regiestück Die Aussprache (im Original: Women Talking) ist aber dann doch nicht jeder einzelne innerhalb dieses genitalgesteuerten Patriarchats so richtig schlecht. Ben Wishaw zumindest nicht. Doch der ist aus seiner Sicht ein Verlierer, ein ehemaliger Verstoßener, der nur deswegen zu seiner mennonitischen Gemeinde irgendwo in Bolivien zurückkehren durfte, weil er für jene als Lehrkraft von Nutzen sein kann. Er ist es auch, der Protokoll führt, sitzend auf einem Ballen Stroh, das Notizbuch vor sich liegend und als einziger des Alphabets mächtig. Die Frauen sind das nicht, aber zumindest dem Willen Gottes unterworfen oder besser gesagt jenem Willen, denn die evangelische Freikirche den Männern zugestanden hat. Man sieht wieder: Religion und Gleichheit vertragen sich nicht. Und haben es niemals getan. 

Und eines Nachts ist es dann passiert: Einer der Männer aus der Gemeinde wird während eines sexuellen Übergriffs ertappt – um sich aus der Sache rauszuwinden, verpfeift er alle anderen, die dasselbe getan haben – jahraus, jahrein. Der Glaube sagt: duldet nur, dafür kommt ihr ins Himmelreich. Die Frauen meinen: Mumpitz, so geht das natürlich nicht weiter. Also werden all die Männer angeklagt, die übrigen versuchen, eine Kaution für all die Verbrecher zusammenzubekommen, also bleiben nur die Frauen in der Gemeinde zurück, um zu beraten, was sie nun tun sollen. Da gibt es drei Möglichkeiten: Alles so belassen wie es war und den Männern vergeben (was die Freikirche auch verlangt), zu bleiben und zu kämpfen oder alles Notwendige zusammenzupacken und wegzuziehen. Irgendwohin, wo keine Männer sind, denn die sind ohnehin entbehrlich. Über das Für und Wider zur kommenden Entscheidung wird diskutiert, geredet und geweint, geschrien und gelacht. Dann wieder vorgeworfen und um Verzeihung gebeten. Am Ende wird der Schlussstrich in welcher Form auch immer gezogen werden. Hoffentlich aber im Sinne der Menschlichkeit, der Gleichheit und der Freiheit für das weibliche Geschlecht.

Woher die Kraft beziehen, um die Konventionen zu brechen? Woher den Mut zur Selbstbestimmung? Sarah Polley (u. a. Take this Waltz) will Antworten und hat sich dem auf Tatsachen beruhenden Roman von Miriam Toews angenommen, der sich aber weniger nach Prosa sondern vielmehr nach Bühne anfühlt. Kann sein, dass im Roman die Vorgeschichten der dargestellten Frauen ebenfalls geschildert werden, doch man kann sich insofern glücklich schätzen, in Polleys Film fast keinen Gewaltdarstellungen ausgesetzt zu sein. Auf Vergewaltigung, Missbrauch von Minderjährigen und Schlägen ist man ohnehin nicht neugierig. Es ist mehr als genug, zu sehen, welche Narben und Wunden all die Frauen zu ihrer Aussprache mitbringen. Das reicht von der ungewollten Schwangerschaft bis zum womöglich aus Inzest entstandenen, missgestalteten Kind. Dazwischen Blessuren und blutende Unterleiber. Die wenigen Momente, in denen wir Zeuge von solchem Gräuel werden, reichen, um sowieso einen Hass auf alles Männliche (mit Ausnahme von Ben Wishaw) zu entwickeln, umso mehr auch deswegen, weil Männer ansonsten in diesem Film gesichtslos bleiben und auch keine Chance bekommen, sich zu äußern. Ist das aber nicht eine viel zu einseitige Darstellung? Könnte man meinen – doch kein einziges Wort würde solche Gewalt rechtfertigen. Missstände wie diese lassen sich in einer erzkonservativen Männerwelt leicht für möglich halten. Demnach hätte dem Film auch daran gelegen sein müssen, mit den erstarrenden Dogmen einer Freikirche aufzuräumen, von denen es viele gibt in den Vereinigten Staaten, und die reaktionärer nicht sein könnten. Doch Gott weist hier immer noch den Weg, die Frauen wollen ihm näher sein, hinterfragen aber viel zu wenig ihre eigene Position innerhalb ihres Glaubens. Was sie bewegt, ist die Frage des Befreiens, weg vom Mann. Die Abstimmung um die Ausgliederung aus einer Paargesellschaft gestaltet sich in entsättigten, dunklen Bildern und mutet an wie das Dialogdrama der Zwölf Geschworenen von Reginald Rose – nur im #MeToo-Kontext. Bis alle einer Meinung sind, vergehen Stunden des Diskurses, doch vieles dreht sich auch im Kreis. Wirklich in die Tiefe gehen die Gespräche nicht.

Doch was zählt, ist das aufgebrochene, verkrustete Machtsystem. Polley hilft ihren gezeichneten Gestalten behutsam aus dem Sumpf des Leidens und sucht den Neuanfang; mal panisch, mal resignierend, mal zuversichtlich. Die Aussprache scheint vieles, was zur #MeToo-Thematik filmisch bereits dargestellt wurde, zusammenzuzählen und auf gleichen Nenner zu bringen. Die Konsequenz daraus mag vielleicht nicht unbedingt die richtige Lösung sein. Aber zumindest eine, die auf idealistische Weise etwas verändern kann.

Die Aussprache

Athena

DIE PLEBEJER PROBEN DEN AUFSTAND

6,5/10


athena© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

REGIE: ROMAIN GAVRAS

BUCH: ROMAIN GAVRAS, LADJ LY

CAST: DALI BENSSALAH, SAMI SLIMANE, ANTHONY BAJON, ALEXIS MANENTI, OUASSINI EMBAREK U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Natürlich beginnt jede Revolution damit, dass einer, der sich vom System unverstanden und ausgenutzt fühlt, nicht auf stilles Kämmerlein macht, sondern diesen Missmut in die Welt hinausposaunt. Dazu braucht es Mumm und den notwendigen Groll. Dazu braucht es einen impulsgesteuerten Antrieb und auf gar keinen Fall Vernunftdenken. Denn würde man das tun, gäbe es Alternativen, die nicht sofort die Anarchie beschwören würden, sondern taktisch vorgehen ließen. Aber so gelingt keine Revolution. Ein Aufstand lässt sich nur mit unkontrollierten Emotionen vom Zaun brechen – der wiederum niederbricht, wenn die Exekutive versucht, dieser Wucht an Wut Herr zu werden, indem sie kühlen Kopf bewahrt. Hitzköpfe haben dabei weniger zu verlieren, geben aber lediglich dem Gefühl ihrer persönlichen Kränkung nach, ohne wirklich ein höheres Ziel zu verfolgen. Dass damit ein ganzes Viertel mit in den Untergang gerissen wird, nehmen Wutbürger in Kauf, die niemals gelernt haben, besonnen zu reagieren. So geht Revolution. Ob das als Auszeichnung für den denkenden Menschen zu werten ist?

Zumindest scheint es nicht so, als würde der halbwüchsige Rabauke Karim nach dem gewaltsamen Tod seines kleinen Bruders Idir durch angeblich zwei Polizisten seinen Denkapparat wirklich nutzen. Für ihn zählt Rache, Gewalt und Anarchie. Und die Befriedung der eigenen Befindlichkeit. Oder viel besser noch: Durch dessen Fähigkeit, das altersgenössische Volk als Anführer um sich zu scharen, wie ein mittelalterlicher Heerführer aus Zeiten, in denen Stärke das einzige Argument einer Gesellschaftspolitik war, fühlt sich Abdel trotz seiner Trauer als ein martialischer Heros, der politische Reformgedanken wie Katapulte vor sich herschiebt. Reform ist etwas, dass sich am einfachsten mit Schwert und Schild durchsetzen lässt. Führung mag zwar Karims Stärke sein, Erfahrung ist es nicht. Und somit haben wir den Salat: Der Mob besetzt die Barrikaden eines Wohnblocks und fordert die Herausgabe der Polizisten, die Idir auf dem Gewissen haben. Das aber wäre als Plot zu simpel: Es gibt da noch Bruder Abdel. Der aber arbeitet für die Polizei, findet sich also auf der anderen Seite wieder und setzt alles daran, Karim vom Weg des Hasses, der Gewalt und der Rache abzubringen. Doch wie verbohrt und stur so ein Junge sein kann, der die Jugend des Viertels um sich schart, zeigt Romain Gavras, Sohn von Constantin Costa-Gavras (Z, Vermisst), in einem postmodernen Schlachtenepos, das trotz seines gegenwärtigen Settings ein Flair wie aus dem Hundertjährigen Krieg vermittelt, fernab jeglichen Fortschritts und gefangen in einer granitharten Rechthaberei, die keiner der Parteien auch nur um Millimeter abrücken lässt.

Athena, der bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig gar eine Einladung zum Wettbewerb um den Goldenen Löwen erhalten hat, erinnert nicht von ungefähr an den Oscar-Anwärter Die Wütenden – Les Misérables von Ladj Ly. Dieser verfasste für Athena mit Romain Gavras gemeinsam das Skript, und diesmal haben seine kaum klar definierbaren Pro- und Antagonisten noch weniger zu verlieren als im Thrillerdrama aus dem Jahr 2019. Diesmal entfesselt Gavras ein in Rage geratene Menge in einem hitzigen Spektakel aus Nacht und Nebel; aus Tränengas, Feuerwerkskörpern und Projektilgeschoßen. Der Krieg in Athena fühlt sich echt an, rabiat und natürlich auch dumm. Wie jeder Krieg. Dabei gestaltet es sich äußerst schwierig, für die zentrale Figur des Karim, und dann später auch für Abdel, der im letzten Dritten des Films eine völlig radikale, aber wenig glaubwürdige Wandlung durchläuft, auch nur ansatzweise irgend so etwas wie Nähe, Sympathie oder Verständnis zu empfinden. Wer so vorgeht, zu dem hält man Distanz. Zumindest mir erging es so. Denn die Gewalt, die führt zu nichts, das sieht man als Zuseher von der ersten Minute an, als der Mob das Polizeirevier stürmt und den Waffenschrank plündert. Da sieht man schon, wie wenig vorausschauend das ist. Da wundert man sich nur, zu welchen Widersprüchen und zu welchem autoaggressiven Egoismus dieses Vorgehen führt. Denn: Auch wenn der Tod des jungen Bruders den Bürgerkrieg entfacht, ist das Unglück der Mutter keinen Cent wert.

Diese groteske Unlogik erschwert den Zugang zu einer ansonsten wuchtigen Tragödie, die, mit brachialen gewalttätigen Exzessen gespickt, den Menschen als ein Wesen erkennt, dass sich wohl bis auf ewig von seinen Impulsen wird steuern lassen.

Athena

Je suis Karl

DAS ANAGRAMM DES HAKENKREUZES

5,5/10


jesuiskarl© 2021 Pandora Film Medien GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, TSCHECHIEN 2021

REGIE: CHRISTIAN SCHWOCHOW

CAST: LUNA WEDLER, JANNIS NIEWÖHNER, MILAN PESCHEL, MARLON BOESS, AZIZ DYAB, ANNA FIALOVÁ, MÉLANIE FOUCHÉ U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Re / Generation nennt sich die freiheitliche, europabewusste Organisation, die in Je Suis Karl bereits staatenübergreifend operiert. Dabei fällt deren Logo sofort ins Auge, und man kommt nicht umhin, darin zweifelsfrei das Hakenkreuz zu erkennen, das ehemalige Zeichen der NSDAP, das wiederum eigentlich von ganz woanders abgekupfert und zweckentfremdet wurde, nämlich aus dem Hinduismus. Das eigentliche Zeichen Swastika bedeutet so viel wie Glücksbringer. Tatsächlich besteht das Logo im Film aus vier rechten Winkeln, die ganz einfach anders angeordnet sind. Um die wahre Ambition aber zu verbergen – dafür braucht es schon andere Ideen. Die gibt es. Und die sind so dermaßen perfide, dass sich kein halbwegs vernünftig denkender Mensch vorstellen könnte, auf so etwas eine funktionierende politische Gemeinschaften zu gründen, ohne gefühlt alle Menschenrechte zu verletzen.

Doch Homo sapiens lernt nicht dazu, und deswegen ist der Weg der Gewalt angeblich immer derjenige, der einzig und allein etwas bewegen kann. Glaubt man zumindest. Im kürzlich erschienenen mexikanischen Revolutionsthriller New Order wird klar, wie wenig bockiges Blutvergießen auch nur irgendetwas bewirken kann. In Christian Schwochows politischem Reißer – was anderes ist der Film leider nicht geworden – schlängelt sich der Weg zur nationalsozialistischen Macht der Jungen durch ein Dickicht aus Intrigen, Lügen und trivialer Kolportage. Erschreckend, dass diese Methoden auf fruchtbaren Boden fallen. Eine der „Opfer“ des führenden Orators Karl ist die junge Studentin Maxi Baier, die bei einem Terroranschlag ihre Mutter und ihre beiden Brüder verliert. Von diesem entsetzlichen Schicksal natürlich völlig aus der Bahn geworden ist auch Papa Milan Peschel, der sich in seiner untröstlichen Verlorenheit an sein einzig verbliebenes Fleisch und Blut klammert. Dieses jedoch fällt alsbald in die Hände des vorhin erwähnten Charismatikers Karl, der Maxi zu einer internationalen Tagung seines Vereins einlädt. Dort fährt sie auch hin – und fühlt sich in ihrer Trauer und ihrer Wut mehr als verstanden. Natürlich entstehen zwischen den beiden auch romantische Gefühle, sodass Maxi nicht mehr von Karls Seite weicht. Der allerdings verfolgt ganz andere Pläne, nämlich richtig subversives Zeugs durch die Hintertür, die andere, wüssten sie es nicht besser, als reinste Verschwörungsmythen abtun würden.

Als Bildnis einer Verschwörung ist Je Suis Karl am besten zu verstehen. Aber auch als ein Konstrukt, das Verschwörungsmythen neuen Zunder gibt. Wie Jannis Niewöhner, der den aalglatten, um kein Wort verlegenen Blender Karl durchaus glaubhaft verkörpert, als wilder Fanatiker das große Ganze über alles andere stellt, und vor allem mit welchen Mitteln, ist von ernüchternder Gewissenlosigkeit. Luna Wedler begnügt sich als manipulierbares Nervenbündel, das mit ihrer Trauer ringt, mit einer enervierenden, fast ein bisschen zu deutlich selbstverliebtem Performance, die sie genauso wenig wie fast alle anderen zur Identifikationsfigur macht. Inmitten dieser pseudorevolutionären Eitelkeit halten Milan Peschel und Aziz Pyaf das Zepter der Vernunft als einzige hoch, während ganz Europa in seiner Dummheit ertrinkt. Thomas Wendrichs Drehbuch stuft die Jugend von heute als durch den schönen Schein von Werbung und Social Media bereits vorverweichlichte und daher leicht dirigierbare Lemminge ein, die anscheinend in Windeseile die Macht über einen ganzen Kontinent übernehmen könnten. Diese Sicht der Dinge ist dann doch etwas sehr plakativ und überzogen, und raubt dem politischen Dilemma seine Glaubwürdigkeit. Der polnische Film The Hater ist im Gegensatz dazu die Sache ganz anders angegangen. Dort sind die Sozialen Medien das eigentliche Schlachtfeld. Wie sehr dort gewütet werden kann, zeigt Regisseur Jan Komasa auf geduldigere und deutlich duchdachtere Weise.

Je Suis Karl ist die Antwort auf den ebenfalls deutschen Film Und morgen die ganze Welt, der sich mit – mehr oder weniger – lokalem Linksradikalismus beschäftigt. Auch hier fußt das Handeln der Generation Facebook auf einer zum Scheitern verurteilen Weltsicht. Hätte Schwochows Film nicht gleich ganz Europa mit ins sinkende Boot geholt, wäre die Vision einer Bewegung der neuen Nazis vielleicht fokussierter und spürbar unbequemer geworden. Doch andererseits: vielleicht sind die recht trivial dargestellten Mechanismen politischer Sturmwinde genau deswegen so, damit man sie anfangs nicht ernst nimmt. Und sich demnach nicht dagegen wappnen kann.

Je suis Karl

Judas and the Black Messiah

VERRAT AM VOLKSZORN

7/10


judasblackmessiah© 2021 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved


LAND / JAHR: USA 2020

REGIE: SHAKA KING

CAST: DANIEL KALUUYA, LAKEITH STANFIELD, JERMAINE FOWLER, JESSE PLEMONS, DOMINIQUE FISHBACK, DARRELL BRITT-GIBSON, MARTIN SHEEN, ASHTON SANDERS U. A.

LÄNGE: 2 STD 6 MIN


Es kommt nicht oft vor, dass Academy Award-Filme, insbesondere, wenn sie für den besten Film nominiert sind, sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden und zumindest hierzulande in Österreich nicht mal einen Kino-Release wahrnehmen können. Daran hat natürlich auch Corona Schuld, doch nichtsdestotrotz hätte sich das zumindest mit zwei Trophäen geadelte Werk eine große Leinwand verdient. Ich kann mich noch erinnern, da war The Hurt Locker von Kathryn Bigelow längst auf Silberscheibe draußen, gabs erst nach dessen großem Triumph die bemüßigung, diesen Film nochmal in die Lichtspielhäuser zu bringen. Aber ich kann auch verstehen – angesichts dieser aufgrund des Rückstaus angehäuften Schwemme an Filmen kann der eine oder andere nicht mal mehr als vermisst gelten, weil es ohnehin (fast) niemandem auffällt.

Judas and the Black Messiah lässt sich nunmehr relativ bequem streamen, und wie erwartet tischt Regisseur Shaka King uns interessiertem Publikum eine durchaus packende Kriminaltragödie auf, die im weiteren Sinne Konflikte Bahn brechen lässt, die wir unter anderem aus Departed – Unter Feinden kennen. Es geht um Treue und Verrat, um Idealismus und Politik. Es geht zum Glück weniger um Ehre, denn die ist für ein Vaterland, das in seiner schnöden Version einer subversiven Apartheid Andersfarbige zumindest politisch unterdrückt, praktisch nicht vorhanden. Das wussten Leute wie Martin Luther King oder Malcolm X, bevor sie ermordet wurden. Und das weiß auch Fred Hampton, Bürgerrechtler und Aktivist für die Black Panther Party, die dem FBI schon seit längerem ein Dorn im Auge scheint. Wir schreiben Ende der 60er Jahre, und wie es der Zufall so will, findet FBI-Agent Mitchell (gefährlich jovial: Jesse Plemons) in dem findigen Autodieb William den richtigen Spitzel, um näher an den „Black Messiah“ ranzukommen. Zwischen diesem und Hampton entwickelt sich so etwas wie eine Freundschaft auf Vertrauensbasis, die Ideale für Black Panther werden selbst für William zur ernstzunehmenden Agenda, jedoch hindern ihn diese nicht daran, einen folgenschweren Verrat zu begehen.

Freundschaft, Feindschaft und die Sache mit Judas. Um bei diesem Vergleich zu bleiben: in der Bibel war dem Jünger der Verrat an seinem Herrn einen Beutel voll Silberlinge wert. Wer weiß, unter welchem Zugzwang der Mann wohl noch gestanden hat. Tatsächlich erinnert die neutestamentarische Figur an den ebenfalls von Reue, Angst und Idealismus gebeutelten Afroamerikaner William O’Neal – auch dieser wird sich einige Zeit später das Leben nehmen. Lakeith Stanfield (Knives Out, Der schwarze Diamant), genauso als Nebendarsteller für den Oscar nominiert wie Daniel Kayuula, der ihn ja schließlich erhalten hat, lässt das eigene Heil über volksvereinigenden Idealismus obsiegen, dabei ist ihm ersteres, so wie er es darstellt, nicht zur Last zu legen. Das inkonsistente Changieren der Black Panther zwischen unverhohlenen Terror-Ambitionen, Revolutionsgedanken und sozialem Engagement hat es damals nicht leicht gemacht, das eigene Leben unter eine militanten Linie zu stellen. Daniel Kayuula, seit Get Out im Kino nicht mehr wegzudenken, hat nicht weniger Charisma als Che Guevara, trägt auch artig das Barett und wettert gegen Polizisten – eine starke Performance. Gemeinsam meistern die beiden einen Film, der im Vergleich zu anderen derartigen Politfilmen ungewohnt ausdauernd beim Thema bleibt. Natürlich alles in gewohnten inszenatorischen Bahnen, mit reichlich Zeitkolorit und Privatem dazwischen. Doch Shaka Kings Film wirkt neben seinen rekapitulierenden Auftrag auch in Anbetracht gegenwärtiger Umstände nicht wenig empört.

Judas and the Black Messiah

Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution

WAS FRAUEN WOLLEN

7/10


misswahl© 2020 eOne Germany


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, IRLAND, AUSTRALIEN 2020

REGIE: PHILIPPA LOWTHORPE

CAST: KEIRA KNIGHTLEY, JESSIE BUCKLEY, GUGU MBATHA-RAW, GREG KINNEAR, RHYS IFANS, LESLEY MANVILLE, SUKI WATERHOUSE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Wer ist die Schönste im ganzen Land? Diesen Umstand im Rahmen einer Gala fürs Establishment zu zelebrieren, ist nicht das eigentliche Problem. Schönheit, so subjektiv sie auch sein mag, muss sich nicht verstecken. Das wirkliche Problem, mit dem die Frauenrechtlerinnen Anfang der Siebziger Jahre und auch heute noch zu kämpfen haben, ist der Umstand, dass diese Frauen eben nur als das gesehen werden: als reizvolle Objekte mit den richtigen Maßen und Kurven. Das, finden diese anderen Frauen, ist einfach zu wenig. Ist vielleicht gut, aber zu wenig. Gleiche Chance für das weibliche Geschlecht in Beruf, Bildung und Karriere wäre wichtiger: da lässt sich selbst heute noch ordentlich dran feilen – wie prekär muss die Lage  wohl vor 50 Jahren gewesen sein? Da hieß es: nichts wie raus auf die Straße und demonstrieren. Aufstehen für etwas, das endlich mal Sinn macht.

Das britische BBC Entertainment, das ja stets eifrig dabei ist, historische Biographien und ebensolche Wendepunkte kinematographisch aufzubereiten, um so Unterhaltung und Allgemeinwissen für das filmaffine Volk zu kombinieren, nimmt sich mit Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution (besserer Titel wie so oft im Original: Misbehaviour) den Aktionismus medienwirksamen Ungehorsams zur Brust, indem Regisseurin Philippa Lowthorpe jene Ereignisse nacherzählt, die dem wütenden Zwischenfall bei der Miss World Zeremonie 1970 vorausgegangen waren (Keine Sorge: das Happening selbst bekommt sehr wohl auch seine Sendezeit). Die Misswahl beobachtet auf mehreren Fronten gleichzeitig – insgesamt sind es vier. Da wäre die Storyline rund um Entertainer Bob Hope (großartig herablassend und gleichzeitig charmant: Greg Kinnear), der letzten Endes auf der Showbühne die meiste Häme kassiert. Da wäre die Storyline rund um den Miss World-Organisator Eric Morley, gespielt von Notting-Hill-Faktotum Rhys Ifans als geschäftiger Allrounder. Da wäre die Storyline rund um Gugu Mbatha-Raw als Grenadas Schönheitsgöttin und eben jene um Keira Knightley sowie die draufgängerische Jessie Buckley, die anfangs das eine und das andere Ende der Frauenbewegung bilden, letzten Endes aber an einem Strang ziehen, wenn die Katze aus dem Sack soll. Ein klug gecastetes Ensemble vereint sich um ein straffes Script, dessen Szenen richtig getimt und genau da sind, wo sie hingehören 

Die Misswahl überlässt als zeitgeschichtliche Chronik natürlich nichts dem Zufall – wie denn auch. Die Fakten stehen geschrieben, das ist es nur gut und recht, ihnen auch emotional und wohlrecherchiert gerecht zu werden – künstlerische Freiheiten außen vorgelassen, die müssen sein, sonst wär´s recht trocken. Was Die Misswahl sicher nicht ist. Vielmehr ein kluges Panoptikum aus eigenwilligen Patriarchen, dem schillernden Showbiz und nachhaltigen Mutmacherinnen.

Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution

Ich bin Kuba

VIVA LA REVOLUTION!

5/10


soycuba2© 1964 MK2 Diffusion


LAND: UDSSR, KUBA 1964

REGIE: MIKHAIL KALATOZOV

CAST: LUZ MARIA COLLAZO, JOSÉ GALLARDO, RAUL GARCIA III, SERGIO CORRIERI, JEAN BOUISE U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Vor vielen Jahren hatte der TV-sender ARTE den wirklich sehr selten gezeigten Film Ich bin Kuba im Programm. Diese Tatsache hätte mich wohl nicht sonderlich tangiert, wäre ich nicht Zeuge des dazugehörigen, für ARTE aufbereiteten Trailers geworden, der mich letzten Endes sprachlos machte. Bilder in expressionistischem Schwarzweiß, die so aussehen, als wären sie vom Fotografen Sebastio Salgado geschossen worden, die Linse der Kamera stets im Weitwinkel, nahe an den Gesichtern, der blaue Himmel in dunklem Grau, das Grün der Palmen und Zuckerrohrfelder strahlen in einem cremigen Weiß. Das sind Bilder, die von einem begnadeten Filmemacher kreiert worden sein müssen, der technisch gesehen nicht zwingend, aber durchaus möglich, spätere Künstler wie Terrence Malick oder Alfonso Cuaron (insbesondere zu Roma) inspiriert haben könnte.

Den Film selbst habe ich leider verpasst. Seitdem war ich auf der Suche danach ­– bis er mir in der städtischen Bücherei als DVD in die Hände fiel, im spanischen Original natürlich und mit englischen Untertiteln. Ein durchaus eingehbarer Kompromiss, wichtig ist hier vorrangig die visuelle Bildsprache. Denn Ich bin Kuba aus dem Jahr 1964 war im Grunde ein ungeliebtes Kind, bis es in den 90er Jahren von niemand geringeren als Francis Ford Coppola und Martin Scorsese aus der Versenkung geholt und neu veröffentlicht wurde. Der Grund dafür war ganz einfach: Ich bin Kuba ist ein Pro-Castro-Propagandafilm, inszeniert vom russischen Cannes-Preisträger Mikhail Kalatozov (prämiert 1957 für Die Kraniche ziehen) und wurde weder vom kommunistischen Kuba noch von der kommunistischen Sowjetunion positiv aufgenommen. Fragt sich natürlich, warum. Fidel Castro hätte doch damit zufrieden sein können, kommt doch seine ganz eigene kubanische Revolution letzten Endes mit wehenden Fahnen und skandierten Marschliedern ganz gut davon. Vielleicht, weil Ich bin Kuba Mechanismen beschreibt, die unschwer nachgeahmt werden könnten, sofern der Unmut irgendeiner unterdrückten Bevölkerung den Siedepunkt erreicht. Diesen Leitfaden will natürlich keiner der Mächtigen dem Gehorsam gelobenden Volk zumuten. Also weg damit. Dieser Umstand macht aus Katalosows Film wiederum etwas ganz anderes als nur zu einem politischen Instrument.

Ich bin Kuba ist womöglich eines dieser Werke, über die so manche Filmhistoriker schon die eine oder andere Arbeit geschrieben haben. Das epische Werk lässt sich seitenweise in historischen, gesellschaftlichen oder filmtechnischen Aspekten betrachten, jede Menge gäbe es da zu berichten. Und ja, Ich bin Kuba ist kein Werk, dass der Zerstreuung dient. Es fordert – die Aufmerksamkeit, das Auge, das Sitzfleisch, durchaus setzt es auch eine gewisse landeshistorische Vorkenntnis voraus. Über 60 Jahre später ist Ich bin Kuba kameratechnisch immer noch ein Klasse für sich, seine vier voneinander losgelösten Episoden erzählt Kalatozov fast schon zu simpel, zu generisch, um mit ihrer Wahrhaftigkeit zu fesseln. Gerade gegen Ende spürt man die propagandistischen Ambitionen am stärksten, die Vereinfachung der Emotionen, die klare Trennung von Unrecht und Opfer. Das ist fast schon wie Schulfernsehen, wie ein Bildungsprogramm zur Rekrutierung unschlüssiger Strauchelnder, die nicht mehr wissen wohin mit ihrer Existenz.

Armut, Ausbeutung, Enteignung, dazwischen die Schönheit eines selbstverliebten Landes. Kuba selbst ist die Erzählerin, nach jedem Fallbeispiel geordneter Problematik bekennt sich die Insel zu ihrer Krise, bekennt sich dazu, was es ist und gleichzeitig nicht sein will. Soy Cuba heißt es da: Die reichen und Mächtigen werden sehen, wo sie bleiben. Alsbald formieren sich die Studenten, predigen die Opferbereitschaft, holen auch noch den letzten Bauern aus dem Hinterland. Botschaften, die ganz klar Stellung beziehen. Dessen triviale Machart aber in quälendem Lehrbuchsozialismus die euphorische Lust an dem Bildersturm nimmt, der über zwei Stunden tobt.

Ich bin Kuba

Sunset

HUTMACHER OHNE WUNDERLAND

4/10

 

sunset© Laokon Filmgroup – Playtime Production 2018

 

LAND: UNGARN, FRANKREICH 2018

REGIE: LÁSZLÓ NEMES

CAST: JULI JAKAB, VLAD IVANOV, EVELIN DOBOS, MARCIN CZARNIK, JUDIT BÁRDOS, SUSANNE WUEST U. A. 

 

Der ungarische Regisseur László Nemes wurde für sein erschütterndes Holocaust-Drama Son of Saul mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Kurze Zeit später hat Nemes gleich einen weiteren Film nachgelegt, der sich nicht weniger mit der europäischen Geschichte beschäftigt, dafür aber einige Jahrzehnte zurückdreht in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in die beginnenden Zehnerjahre des 20ten Jahrhunderts sozusagen, als die Popstar-Kaiserin Sissi schon lange tot und der Kaiser Franz Josef sich bereits vermehrt schon gefragt hat, warum ihm denn eigentlich nichts erspart bleibt. Das Kaiserhaus aber ist in Sunset eine Mehrtageskutschenfahrt von Budapest entfernt. Die Vielvölkermetropole an der Donau legt ein frühlingshaft flirrendes Stelldichein an den Tag. Die Straßen sind voll mit gutbetuchten Grüppchen, die sich dieses und jenes leisten wollen, vielleicht auch einen dieser ausladenden Hüte, die es im entsprechenden Salon des Handelshauses Leiter zu bestaunen gibt. In diesen impressionistisch bebilderten Alltag zwischen sonnendurchfluteten Monetbildern und Aquarelle Rudolf von Alts bricht durch die homogene Kakophonie der Mieder, Zylinder und Steckfrisuren das Konterfei einer jungen Frau im Großformat, die mit unsteten Blicken nach ihrer Vergangenheit sucht, die nur im Hutsalon Leiter zu finden ist. Dort ist keiner erfreut, auf das Erbe dieses Unternehmens zu stoßen, das längst von anderen Leuten dirigiert wird. Der Name Leiter ist zur Familie non grata geworden, und das Gerücht, ein unbekannter Bruder treibe in der Stadt sein Unwesen, erhärtet sich.

Das klingt natürlich nach einer spannenden Familiengeschichte. Ein bisschen nach Der Engel mit der Posaune, und wenn man die ersten Minuten des Filmes bereits genossen hat, ließe sich sehr leicht der Stil eines Heimito von Doderers verbergen, der in seinen Romanen sehr viel Wert auf gesellschaftliches Ambiente gelegt hat, ohne den eigentlichen roten Faden seiner Beschreibung konsequent voranzutreiben. Doch ich bewege mich zusehends in Richtung Literatur und verlasse das Medium Kino – was László Nemes nach meiner resümierenden Empfehlung voll eher auch früher als später feststellen hätte sollen. Sunset ist nämlich zu einem zähen, narrativen Ungetüm verhoben worden, das sich sehr bald in vielen Manierismen festfährt, ohne das Kind beim Namen zu nennen.

Dabei ist sein visueller Stil anfangs von betörender, ja geradezu berauschender Art. Panoramen, wie man sie vielleicht erwarten würde, gibt es bei Nemes keine. Sein Kameramann Mátyás Erdély, der auch bei Son of Saul hinterm Sucher saß, komponiert mit sehr viel Objektivunschärfe diffuse Malereien in stark begrenzten Ausschnitten, man erahnt gepinselte Schemen flanierender Personen mit Sonnenschirmen, Kutschen im Hintergrund, die Unruhe einer Monarchie im Abendrot ist spürbar, erlebbar. Ganz vorne, stets zentriert, das Gesicht von Juli Jakab, einmal von vorne, einmal von hinten, dann wieder im Profil, meist mit Hut, und die Kamera weicht ihr nicht von der Seite, niemals, so hat es den Anschein. Bei über zwei Stunden Laufzeit ist dieser wechselnde Stil aus Unschärfe und Portraitaufnahme bald totgelaufen. Vor allem auch deswegen, weil Nemes seine Geschichte nur verhalten weiterbringt, seine Protagonisten meist im murmelnden Flüsterton reden lässt, Juli Jakab versteht man kaum. Der Historienfilm beginnt sich zu ziehen, die Bilder sind nach wie vor stimmig, verlieren aber das Interesse an dem, was sie visualisieren sollen.

Von der Endzeit einer verkommenen Monarchie will Sunset erzählen, von einer Götterdämmerung kaiserlicher Hörigkeit. Das konnte Axel Corti mit seiner phänomenalen Verfilmung des Radetzkymarsch viel besser. Mit Joseph Roth als literarischer Vorlage kann auch nicht viel passieren, seine messerscharfen Beobachtungen rund um den Ersten Weltkrieg sind zeitlos, niemals wehleidig und auf den Punkt gebracht. Nemes ergeht sich in selbstverliebter Schwammigkeit jenseits aller Griffigkeit und ohne fesselnde Akzente zu setzen. Will der Überdruss für ein Politsystem allerdings sein filmisches Pendant finden, dann ist mit Sunset der Wunsch nach dem Ende einer Epoche längst gut genug empfunden.

Sunset

Deutschstunde

EXEMPEL DES UNGEHORSAMS

7,5/10

 

deutschstunde© 2019 Constantin Film

 

LAND: DEUTSCHLAND 2019

REGIE: CHRISTIAN SCHWOCHOW

CAST: ULRICH NOETHEN, TOBIAS MORETTI, LEVI EISENBLÄTTER, SONJA RICHTER, MARIA DRAGUS, JOHANNA WOKALEK U. A.

 

Wer sich einen angenehmen Kinoabend machen möchte und danach den Saal beschwingt verlassen will, der sollte um Deutschstunde einen großen Bogen machen. Die Verfilmung des Romans von Siegfried Lenz ist seit der italienischen Machtparabel Dogman wohl der sauerste, aber im Nachhinein auch schmackhafteste Apfel, in den sich als Kinogeher in der letzten Zeit beißen ließ. Was eben nicht heißen soll, dass ich es bereut hätte, mich der Deutschstunde mit aller literaturaffinen Aufmerksamkeit hinzugeben. Christian Schwochows Film ist wie der Moment nach dem Einschlag einer Fliegerbombe. Der Boden vibriert, und überall fliegen Dreck, Erde und tote Tiere herum. Dieses Nachbeben ist angesiedelt an der Nordküste Deutschlands, dort, wo Wattspaziergänge zur Tagesordnung gehören und der Wind unablässig bläst. Wo es regnet, stürmt und man rund 365 Tage im Jahr Regenmäntel tragen muss, um die Feuchtigkeit draußen zu halten.

Ungefähr so erdig, seltsam zwielichtig und mit Druck auf der Brust ist Deutschstunde auch geworden. Die Weite, das Meer, der Blick in die Unendlichkeit sind Täuschung und unstillbare Sehnsucht. Selten lässt sich Unglück mit Strandspaziergängen vereinbaren – hier schon. Für den jungen Siggi ist das Watt, die Weite des unwirtlichen Nordens ein Fluchtziel, das sich andauernd nach hinten verschiebt, je näher er ihm kommt. Doch wovor flieht er? Vor einem Schatten, den er nicht abschütteln kann, vor dem Schatten seines Vaters, der als fleischgewordenes Opfer der Pflicht seinen Sohn zu einem aufrechten Befehlsempfänger indoktrinieren will. Die Schatten, die sind in Deutschstunde sehr lang, tauchen die ohnehin engen, kargen vier Wände der mit Rietgras bedeckten Häuser in beklemmende Düsternis. Nichts ist wirklich hell in diesem Film, alles verharrt in einer Art Mitternachtsschimmer, wie er in den Sommern des hohen Nordens den Tag unendlich sein lässt. Der Vater als cesarenhaft aufspielender Big Brother, der seinen langjährigen Freund Max Nansen zum Wohle des Reichs verrät, ist eine Bedrohung, gegen die es sich aufzulehnen hat. Dieser Widerstand ist ein stiller, heimlicher, voll der Angst und des trotzigen Mutes. Schwochow hat diese kompromisslose, fast schon entseelte Figur mit einem Ulrich Noethen besetzt, der sich gegen jede Sympathie und mit dem Schneid zur Grauenhaftigkeit entschieden hat, sich einer rücksichtslosen Radikalität hinzugeben. Als sein Freund, Freidenker und Maler, aber auch als ideologischer Feind: Tobias Moretti, ein eremitischer, bescheidener Expressionist, in die Jahre gekommen, gesetzt und irgendwie zärtlich. Einer, der sich stets treu bleibt. Verfechter einer eigenen Meinung, einer Idee über das Leben und die Existenz. Vater Jespen hingegen hat das nicht. Die Figur in Uniform ist eine leere Hülle, befüllt mit den Dogmen jener, die gerade an der Macht sind. Ein Opfer der Pflicht, wie man sagt. Ein Psychopath der Ordnung. Brillant, wie diese Charakterstudie dank des Schauspielers funktioniert.

Siggi Jespen selbst, ein verletzter, gedemütigter Junge, frisch im Geiste und fähig, sein eigenes Weltbild zu entwerfen, entdeckt sehr bald, wie bedrohlich fassadenhaftes Mitläufertum sein kann, und wie unreflektiert die aufoktroyierte Pflicht einer verbrecherischen Ideologie. Erinnerungen an Oskar Mazerath mit seiner Blechtrommel und an die Thematik aus Michael Hanekes Das weiße Band werden wach. Auch hier, in diesem kargen, düsteren Kosmos einer patriarchalen Unterdrückung, beginnt der Widerstand des Nachwuchses in gezielten Terroraktionen gegen die Obrigkeit. eine Studie über die Essenz des menschlichen Konflikts. Deutschstunde zeichnet ein ähnliches, sogar noch komplexeres Bild, ergänzt es mit dem Wert der freien Gedanken, der Lust an der Identität und des Individualismus. Und der immerwährend wachen Fähigkeit, Normen zu hinterfragen.

Mit diesem Manifest auf die freie Wahrnehmung unserer Welt, auf den autarken Intellekt des Einzelnen, treibt Siegfried Lenz in seinem Roman den Widerstand gegen den unerbittlichen Patriarchen anhand eines geradezu aktionistischen Beispiels, welches die parasitären Eigenschaften blinden Gehorsams ad absurdum führt, auf die Spitze. Und wird zu einem wuchtigen Loblied auf das Recht der eigenen Meinung, dem Grundprinzip jeder Demokratie. Das hat Schwochow in tragödienhafter Intensität, mit Feuer, Flamme und dem Symbolismus tröstlicher Endlichkeit eingefangen. Der Tod nämlich, das ist die einzige Pflicht, die wir eingehen. Darüber hinaus sind die Möglichkeiten, sich selbst treu zu bleiben, so vielgestaltig wie das Farbspektrum auf den Werken des Malers Max Nansen, dessen Verlust seiner Bilder, seiner Weltbilder sozusagen, tief betrübt. Die Freuden der Pflicht, so das Thema des Aufsatzes in dieser Deutschstunde, gerät zur epischen Abhandlung, fast schon zum wissenschaftlichen Experiment. Ein großer, starker Film, unbequemer Zündstoff bis in das staubig-modrige Interieur verlassener Gehöfte und muffiger Einzelzellen, und eine so wetternde wie aufmüpfige Anleitung zum Ungehorsam.

Deutschstunde

Gegen den Strom

AND THE BAND PLAYED ON

6/10

 

gegendenstrom© 2018 Pandora Filmverleih

 

LAND: ISLAND, FRANKREICH, UKRAINE 2018

REGIE: BENEDIKT ERLINGSSON

CAST: HALLDORA GEIRHARDSDOTTIR, JÓHANN SIGURÐARSON, JUAN CAMILLO ROMAN ESTRADA U. A.

 

Solange die Musik spielt, ist nicht alles verloren. Das hat man sich auf der Titanic auch gedacht. Also fidelten die Streicher bis zum bitteren Ende, und zwar immer noch, als alles bereits in den Fluten versank. Wer das sonst nirgendwo nachgelesen hat, weiß das seit James Camerons Filmwunder von 1997. Wenn also die Stille nach wohlkomponierten Klängen folgt, wird wohl schon alles so richtig im Argen sein. In der isländischen Tragikomödie, die ich eigentlich gar nicht in das Genre einer Tragikomödie einsortieren will, ist das Schlimmste noch nicht eingetreten. Obwohl die Lage schlimm genug ist. Denn die Combo, die spielt den ganzen Film hindurch. Was nun, das wird sich so mancher Leser denken, in den meisten Filmen sowieso der Fall ist, denn in gefühlt jeder Produktion bis auf die Filme von Michael Haneke oder dem Dogma 95 gibt es einen eigenen Score. In Gegen den Strom zwar auch, nur musizieren die Artisten live im Film, sind also Teil der Kulisse und begleiten unsere Protagonistin Halla im Grunde auf Schritt und Tritt. Auf offenem Felde, in der unwirtlichen Einöde Islands oder in ihren eigenen vier Wänden. Das ist ein interessantes Stilmittel, das habe ich ehrlich so noch nicht gesehen. Die Musik ist also ein weitaus wichtigerer Teil in Hallas Geschichte, um nur als Score eingespielt zu werden. Solange also die Musik läuft, kann Halla noch einiges riskieren. Und das tut sie.

Wenn sie nicht gerade ihre Chorgruppe leitet, rüstet sie „gegen den Strom“. Da haben wir ihn wieder, den doppelten Wortsinn. Denn Halla gelingt es mehrere Male, ohne entdeckt zu werden, mittels Pfeil und Bogen die Spannungsleitungen für die lokale Aluminiumfabrik zu kappen. Denn die ist schlecht für die Umwelt. Durch ihr Tun schreckt sie jede Menge Investoren ab, die da vielleicht mehr im Sinn haben als nur die Fabrik zu übernehmen. Eine Aktivistin also, durch und durch. Gleichzeitig aber auch bereit, ein Flüchtlingskind zu adoptieren, falls sie denn an die Reihe kommt. Da ist also einiges am Köcheln, und klingt nach stressigem Alltag. Den Idealismus, den Mut und die Überzeugung für eine Sache, den hat Regisseur Benedikt Erlingsson in seinem Frauenportrait so richtig groß geschrieben. Die Welt, die will er mit seiner Figur Halla besser machen, es scheint, als würde er sich wünschen, dass mehr Menschen so denken und handeln wie sie, gegen alle Konformität und eigentlich gegen jede Vernunft. Denn die, die kommt später. Wenn das verursachte Chaos Früchte trägt. Wenn der Plan aufgeht.

Vom isländischen Kino bin ich schon einiges gewohnt. Vor allem lakonisches, schwarzhumoriges. Sehr schräges aber auch wuchtiges. Gegen den Strom kann sich da nirgendwo wirklich einordnen. Das kaum bis gar nicht humorvolle Drama ist trotz seiner außergewöhnlichen Heldin ernüchternd normal, immer auf der Spur, selten versponnen. Halldóra Geirharðsdóttir verkörpert die Rolle der Kämpferin mit nüchterner Verbissenheit, die vollends überzeugt ist von ihrem Tun. Eine Hardlinerin, die all die Risiken, die sie beschwört, womöglich nicht abschätzen kann. Das ist nicht wirklich isländisch gefärbt, auch wenn so manche Szene ansatzweise skurril wirkt. Im Endeffekt ist es das aber nicht. Gegen den Strom ist trotz all seiner Aufregung ein unaufgeregter Film, vor allem durch das kontrollierte Spiel der Hauptdarstellerin. Die Welt zu verändern, so die Prämisse des Filmes, ist nichts, was per Multitasking erfüllt werden kann, bei all der Liebe zu den Ambitionen, die das Drama hat. Das mag klarsichtig sein, aufrichtig sein, aber letzten Endes ein Kampf gegen Windmühlen, der vielleicht erwirkt, dass sich die Windmühle weiterdreht, aber kein Monster mehr ist. Weil das eigene Leben immer noch oberste Priorität haben soll. Der Storytwist am Ende macht dann das Unmögliche möglich, erwartbar war er nicht. Ein bisschen bemüht zusammenkonstruiert, aber warum nicht, wenn es doch der guten Sache dient, und sich die Rettung der Welt auf die eines einzelnen herunterbrechen lässt.

Gegen den Strom