La Bête (2023)

DEM TRAUMA HINTERHERGEJAGT

8/10


Labete© 2023 Arte Fránce Cinema


LAND / JAHR: FRANKREICH, KANADA 2023

REGIE: BERTRAND BONELLO

DREHBUCH: BERTRAND BONELLO, GUILLAUME BRÉAUD, BENJAMIN CHARBIT – NACH DER KURZGESCHICHTE VON HENRY JAMES

CAST: LÉA SEYDOUX, GEORGE MACKAY, GUSLAGIE MALANDA, ELINA LÖWENSOHN, DASHA NEKRASOVA, MARTIN SCALI, MARTA HOSKINS, JULIA FAURE, KESTER LOVELACE U. A.

LÄNGE: 2 STD 26 MIN


Ein lieber Verwandter von mir, der die Leidenschaft für Filme ähnlich auslebt wie meine Wenigkeit, hat die Werke Bertrand Bonellos mit einem Wort umschrieben, welches vor allem für sein jüngstes Werk treffender wohl nicht ausfallen könnte: Wundertüte. Was der Franzose, auf dessen Konto Nocturama oder Zombi Child geht, hier alles in seinen Psychotrip buttert, füllt vielleicht auch, wie Forrest Gump sagen würde, eine Schachtel Pralinen. Wundertüte schmeckt mir aber besser. Denn La Bête (engl. The Beast) ist weniger süß und wohlschmeckend wie Schokolade, dafür aber so verwunderlich wie ein absurder Traum, dessen Kern Referenzen in der Realität aufweist, von der man nicht so genau weiß, ob man ihr vertrauen kann. Lose inspiriert von Henry James Kurzgeschichte Das Tier im Dschungel setzte Bonello eine höchst eigentümliche Zukunftsvision in Gang, in der die französische Hauptstadt so aussieht, als wären wir abermals im Lockdown. Nicht nur das: Nur mit Maske – Gasmaske? – lässt es sich außer Haus gehen, soziale Interaktion ist ein Unding aus früheren Zeiten. Und Emotionen sowieso eine Frage der Unzulänglichkeit. Wir schreiben das Jahr 2044 – so zeigt es ein Insert. Künstliche Intelligenz scheint vieles aus unserem Alltag, wie wir ihn kennen, übernommen zu haben. Die nüchterne Vorgehensweise der High-Tech-Gehirne dient als Vorbild für den Menschen, der sich nicht mehr von seinen eigenen irrationalen Gefühlen leiten lassen darf und soll. Daher gibt es spezielle Sitzungen: es sind Reisen in frühere Leben, in denen Traumata nisten, die durchlebt werden müssen, um sie aufzulösen und zu zertrümmern wie einen Nierenstein. In dieser Welt des Bertrand Bonello ist Reinkarnation also Gewissheit und das Hindurchwirken früherer Leben der Grund für unkontrollierte Impulsivität, die dem Bestreben im Weg steht, sich den Verhaltensweisen künstlicher Intelligenz anzupassen – und eben nicht umgekehrt.

So liegt Léa Seydoux in einem mit einer gallertartigen Flüssigkeit gefüllten Becken und wartet darauf, in frühere Leben katapultiert zu werden, während eine Sonde in ihr rechtes Ohr fährt. Erinnerungen an die obskuren, biomechanischen Filmwelten eines David Cronenberg werden wach, doch allerdings nur in Anbetracht dieses Aspekts. Schon schreibt der Film das Jahr 1910, es ist das Jahr, als Paris überflutet wurde. Gabrielle, die Gattin eines Puppenfabrikanten, trifft während einer Festveranstaltung der Pariser Aristokratie auf einen Mann namens Louis Lewinsky, den sie zwar dem ersten Eindruck nach nicht kennt, er aber sie. Beim Gespräch erinnern sich schließlich beide an ein Zusammentreffen vor einem halben Jahr, und an eine dunkle Vorahnung von seitens Gabrielle, die damals schon wusste, dass sich eine verheerende Katastrophe anbahnen wird. In Verbindung steht diese Prophezeiung mit dem Auftreten eines Biests, eines monströsen Wesens, das Tod und Verderben bringt.

Dieser erste Teil eines höchst rätselhaften Films ist schon seltsam genug. Das kryptische Spiel der Erinnerung und der Vorahnung lässt Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad aufleben, nur nicht in Schwarzweiß. Die Flut wird kommen, doch das ist nicht die große Katastrophe. Dieser Schatten des Unbehagens beobachtet Bonellos Film von außen; es ist, als säße man mit einer abstrakten Entität im dunklen Nichts des Kinosaals. Es fühlt sich an, als wäre La Bête aus den Traumnotizen eines David Lynch entstanden. Ganz deutlich wird dieser Umstand beim plötzlichen Wechsel des Schauplatzes. Im Jahr 2014 in Santa Barbara, Kalifornien, ist Gabrielle immer noch Gabrielle, aber eine ganz andere Persönlichkeit – eine, die versucht, als Schauspielerin Fuß zu fassen. Irgendwo anders geistert Louis Lewinsky als ebenfalls jemand ganz anderer durchs Geschehen und filmt sich dabei in seinem Selbstmitleid, auf ewig die einsame Jungfrau zu bleiben.

Wie das alles zusammenpasst? Wie ein abstrakter Traum, den man als unangenehm empfindet, der sich nur schwer erschließen lässt. La Bête ist ein Film, der anfangs ordentlich Schwierigkeiten macht, sich mit ihm anzufreunden. Doch das muss man gar nicht. Vielleicht wäre es besser, sich nur darauf einzulassen, Erwartungshaltungen außen vor zu lassen, die Ungeduld anderen zu überlassen. Wie die Identitätswechsel in Mulholland Drive und die surrealen, alptraumhaften Bedrohungen, die Naomi Watts durchleben muss, so bietet auch Bonellos Existenz-Horror, der aber genauso gut spielerische Romanze und technologischer Thriller ist, das unheimliche Mysterium eines aus der Zeit gehobenen Ist-Zustandes, in dem Léa Seydoux mehrere Persönlichkeiten in sich trägt. George McKay als Verehrer, Eindringling und bekannter Unbekannter ist da nicht weniger gespenstisch. Doch anders als David Lynch, der sich aus Science-Fiction sowieso nicht viel gemacht hat (sieht man mal von Dune ab), fügt Bonello noch eben diese Komponente hinzu: das stalkende, manipulative Bewusstsein einer abgründigen Technologie.

Ob das schon alles war? Natürlich nicht. Auch das Thema Film im Film – wie bei Lynch – bietet eine zusätzliche Ebene, das Unbehagen wächst, die Wundertüte reißt auf, das Innenleben zersplittert auf dem Kachelboden wie eine Ming-Vase. Tausend Scherben, und doch gehören sie alle zusammen, ergeben ein Ganzes und führen zu einer erschütternden Erkenntnis, die Seydoux als sagenhaft gute Scream Queen, gefangen im Alptraum, einen markerschütternden Urschrei entlockt, als wäre ein gigantischer Gorilla drauf und dran, sie zu packen. La Bête ist vieles, vor allem aber ein Erlebnis, das in seinem wechselnden Rhythmus aus kostümierter Opulenz, Zukunftsangst und psychopathischer Hässlichkeit erschaudern lässt.

La Bête (2023)

Memoria

I HEAR YOU KNOCKING

7/10


memoria© 2021 24Bilder Film GmbH


LAND / JAHR: KOLUMBIEN, THAILAND, GROSSBRITANNIEN, MEXIKO, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: APICHATPONG WEERASETHAKUL

CAST: TILDA SWINTON, JEANNE BALIBAR, JUAN PABLO URREGO, ELKIN DIAZ, DANIEL GIMÉNEZ CACHO U. A.

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


Es gibt manche Filmemacher, die haben so klare Alleinstellungsmerkmale, dass man sie spielerisch in einem Random-Filmquiz richtig zuordnen würde. Diese Leute sind allesamt Visionäre und fest im Sattel, was ihre gestalterischen Prinzipien angeht. Manche davon wollen natürlich auch ihr Publikum und ihre Fangemeinde glücklich wissen – manche sagen aber: Das, was ich mache, ist meine Kunst. Jene, denen das gefällt, die kommen von ganz alleine.

Und ja, manche haben recht damit. Da kommen nicht nur die Fans (es mögen nicht so wahnsinnig viele sein, aber doch) und vor allem auch die Kritiker. In Cannes ist zumindest dieser Herr äußerst beliebt: Der Thailänder Apichatpong Weerasethakul. Der unaussprechliche Name steht allerdings auch für den unmöglichen Versuch, dessen Filme in einem Satz wiederzugeben. Was sich aber sagen lässt: Weerasethakul ist ein Mystiker, und einer, der das Genre des phantastischen Films vertritt. Gut, da gibt es vieles. Vieles mit Monstern, Universen, Weltraumschlachten und Planeten, mit Zwergen und Orks und Zeitreisen. Da lassen sich Bilderbücher kreieren, die Leute wie ich nur allzu gerne durchblättern. Der Thailänder hat hier einen ganz anderen Zugang. Er verzichtet auf all das – zumindest weitgehend. Wenn, dann sind das nur Nuancen, kurze Szenen ohne Worte. Für sich alleinstehende Tableaus, die die Rätselhaftigkeit und das Transzendente lediglich aufzufangen gedenken; diesem Paranormalen letzten Endes eine kleinen Kick versetzen oder einen Nährboden geben, aus welchem der Zuseher eine Art Bewunderung ob der magischen Zustände schöpft, die plötzlich passieren.

Und so erwacht in Weerasethakuls drittem Langspielfilm Tilda Swinton mitten in der Nacht durch ein seltsames Geräusch. Durch einen dumpfen, erdigen Knall, der auch eher ein Hammerschlag sein kann, der auf Gestein trifft. Irgendwie in diese Richtung. Swinton alias Jessica, eine in Medellín, Kolumbien lebende Amerikanerin, ist verstört und irritiert. Vermutet gar neuronale Ursachen und will das Geräusch in einem Tonstudio mithilfe des Musikers Hernan rekonstruieren. Doch damit beginnt Jessicas rätselhafte Reise erst, die sie ins Hinterland Kolumbiens führt und wo sie einen Fischer trifft, der sich ebenfalls Hernan nennt, der totenähnliche Nickerchen macht und dessen Erinnerungen Jessica plötzlich als die ihren empfindet. Und natürlich ist das Geräusch immer noch da.

So weit, so surreal. David Lynchs Filme lassen sich ähnlich schwer entschlüsseln. Memoria ist ein Werk, dass sich im Gegensatz zu Uncle Bonmee erinnert sich an seine früheren Leben oder Cemetery of Splendour zumindest für mich so gut wie gar nicht erklären lässt. Und dennoch spürt man in alle den Geschehnissen, die sich wie immer in fast minutenlangen Einstellungen offenbaren und im beiläufigen Dialog zwischen den Protagonisten greifbar werden, eine gewisse Logik. Eine mathematische Formel für eine Metaphysik, die völlig pragmatisch, abstrakt und gestaltlos über die uns vertrauten Naturgesetze hereinbricht. Da ist etwas anders im Existierenden, da ist etwas anders im Drumherum, nur was genau? Wie bei Lynch bleibt dieses Gefühl vage, mulmig und dennoch erschreckend fremdartig, weil sich Ursache und Absicht nicht deuten lassen.

Memoria ist entschleunigtes Kino, steht fast still und irrt suchend im Kreis umher. Wenn Tilda Swinton den Kopf neigt, um genauer hinzuhören, ist man versucht, es ebenfalls zu tun. Kann ja sein, dass man plötzlich auch etwas hört, das nicht erklingen darf, weil es nichts gibt, was es unmittelbar erzeugt. So imaginäre Erfahrungen haben wir wohl alle mal gehabt, vielleicht im Halbschlaf, vielleicht in Trance – Weerasethakul erzeugt aus diesem Phänomen absonderlicher Momente die Geometrie eines Wachtraums.

Memoria