Jauja (2014)

VERLOREN IN DER PAMPA

6,5/10


jauja© 2014 Arte


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, USA, NIEDERLANDE, FRANKREICH, MEXIKO, USA 2014

REGIE: LISANDRO ALONSO

BUCH: LISANDRO ALONSO, FABIAN CASAS

CAST: VIGGO MORTENSEN, GHITA NØRBY, VIILBJØRK MALLING AGGER, ADRIÁN FONDARI, ESTEBAN BIGLIARDI, BRIAN PATTERSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Ein Ex-Häftling irrt wortlos durch den Dschungel, auf der Suche nach seiner Tochter. Das ist ein Film des Argentiniers Lisandro Alonso aus dem Jahre 2004, mit dem ernüchternden Titel Los Muertos – Die Toten. Zehn Jahre später hat der eigenwillige Filmemacher, dessen Stil ganz sicher nicht den Mainstream bedient, ein Drama ähnlichen Inhalts gedreht. Allerdings prominent besetzt. Viggo Mortensen nämlich spielt Gunnar Dinesen, einen dänischen Ingenieur Ende des 19. Jahrhunderts, der in Argentinien auf Seiten Kolonial-Spaniens gegen die aufständische indigene Bevölkerung kämpft. Mit auf dem fernen Kontinent weilt seine Teenager-Tochter Ingeborg, die den Einheimischen schöne Augen macht und gar vorhat, mit einem der jungen Soldaten durchzubrennen. Vater Mortensen sieht sowas gar nicht gern, er will seine Tochter beschützen – vor ihrem eigenen Willen und vor den lüsternen Augen der anderen. Doch die Jugend hat nun mal ihren eigenen Kopf und so kommt es, dass sich Ingeborg tatsächlich irgendwann des Nächtens aus dem Staub macht. Gunnar Dinesen hinterher, zuerst noch auf dem Pferd, dann nur noch zu Fuß, und irgendwann verschlingt ihn die Pampa, das steppenhafte Hinterland Argentiniens, in dessen Weite man das Gefühl für Zeit und Raum verliert, wo Orientierung nur dem Namen nach existiert und nicht nur Vergangenheit und Zukunft, sondern auch alternative Universen einander überlappen. Aus dem streng komponierten Historiendrama wird ein metaphysisches Vexierspiel rund um Verwirrung und dem Zulassen seltsamer Begebenheiten.

Wenn man schon einen Filmemacher mit dem unverwechselbaren thailändischen Film-Visionär Apichatpong Weerasethakul (u. a. Memoria) vergleichen könnte, dann nur zu Recht Lisandro Alonso. Wie Weerasethakul Zeit und Raum auf lakonische und geheimnisvolle Weise aushebelt, ohne angestrengtes Effektgewitter zu bemühen, so weiß Alonso ebenso, das Unmögliche in eine nüchterne, völlig pragmatische Realität zu setzen. Wie eine Tatsache, die nicht ergründet werden, sondern nur akzeptiert werden darf. Dabei fordert Jauja – die Bezeichnung für ein Land, in dem Milch und Honig fließt, ähnlich dem Paradies oder einer Art Schlaraffenland – bereits zu Beginn eine gewisse Bereitschaft von seinem Publikum ein, seine unorthodoxe Erzählweise zu akzeptieren. Im Format 4:3 und mit abgerundeten Ecken sehen wir geradezu unbewegliche Landschaftstableaus irgendwo an der Küste Argentiniens. Naturalistische Details rücken in den Fokus, dann wieder uniformierte Männer, deren fixierte Blicke wohl auf das junge Mädchen gerichtet sind, die mit ihrem Vater stoisch verharrt. In der Ruhe findet sich eine gewisse erzählerische Tiefe, die allerdings Geduld erfordert; eine meditative Gelassenheit, wenn sie nicht als sperrig gelten will, was durchaus leicht passieren kann. Mortensen lässt sich fast intuitiv und assoziativ treiben, er scheint zu improvisieren, lässt sich fallen in diese seltsame Odyssee, in die er später verloren geht, auf der Suche nach seinem Kind, jenseits des Rationalen.

Alonso hat seine ganz eigenen Visionen und ist ein Filmemacher, der alle Freiheiten zu genießen scheint. Filmkunst ist hier das höchste Gut, Anbiederung an breit gefächerte Sehgewohnheiten verachtenswert. Wie Weerasethakul lädt er nur jene zu seinem Film ein, die willens sind, sich genauso treiben zu lassen wie Mortensen. Was sie bekommen, ist ein indirekt phantastischer Film im Gewand eines südamerikanischen Westerns, in welchem das Mysterium des Verschwindens in der Weite dieser Welt zur Attraktion wird.

Jauja (2014)

Memoria

I HEAR YOU KNOCKING

7/10


memoria© 2021 24Bilder Film GmbH


LAND / JAHR: KOLUMBIEN, THAILAND, GROSSBRITANNIEN, MEXIKO, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: APICHATPONG WEERASETHAKUL

CAST: TILDA SWINTON, JEANNE BALIBAR, JUAN PABLO URREGO, ELKIN DIAZ, DANIEL GIMÉNEZ CACHO U. A.

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


Es gibt manche Filmemacher, die haben so klare Alleinstellungsmerkmale, dass man sie spielerisch in einem Random-Filmquiz richtig zuordnen würde. Diese Leute sind allesamt Visionäre und fest im Sattel, was ihre gestalterischen Prinzipien angeht. Manche davon wollen natürlich auch ihr Publikum und ihre Fangemeinde glücklich wissen – manche sagen aber: Das, was ich mache, ist meine Kunst. Jene, denen das gefällt, die kommen von ganz alleine.

Und ja, manche haben recht damit. Da kommen nicht nur die Fans (es mögen nicht so wahnsinnig viele sein, aber doch) und vor allem auch die Kritiker. In Cannes ist zumindest dieser Herr äußerst beliebt: Der Thailänder Apichatpong Weerasethakul. Der unaussprechliche Name steht allerdings auch für den unmöglichen Versuch, dessen Filme in einem Satz wiederzugeben. Was sich aber sagen lässt: Weerasethakul ist ein Mystiker, und einer, der das Genre des phantastischen Films vertritt. Gut, da gibt es vieles. Vieles mit Monstern, Universen, Weltraumschlachten und Planeten, mit Zwergen und Orks und Zeitreisen. Da lassen sich Bilderbücher kreieren, die Leute wie ich nur allzu gerne durchblättern. Der Thailänder hat hier einen ganz anderen Zugang. Er verzichtet auf all das – zumindest weitgehend. Wenn, dann sind das nur Nuancen, kurze Szenen ohne Worte. Für sich alleinstehende Tableaus, die die Rätselhaftigkeit und das Transzendente lediglich aufzufangen gedenken; diesem Paranormalen letzten Endes eine kleinen Kick versetzen oder einen Nährboden geben, aus welchem der Zuseher eine Art Bewunderung ob der magischen Zustände schöpft, die plötzlich passieren.

Und so erwacht in Weerasethakuls drittem Langspielfilm Tilda Swinton mitten in der Nacht durch ein seltsames Geräusch. Durch einen dumpfen, erdigen Knall, der auch eher ein Hammerschlag sein kann, der auf Gestein trifft. Irgendwie in diese Richtung. Swinton alias Jessica, eine in Medellín, Kolumbien lebende Amerikanerin, ist verstört und irritiert. Vermutet gar neuronale Ursachen und will das Geräusch in einem Tonstudio mithilfe des Musikers Hernan rekonstruieren. Doch damit beginnt Jessicas rätselhafte Reise erst, die sie ins Hinterland Kolumbiens führt und wo sie einen Fischer trifft, der sich ebenfalls Hernan nennt, der totenähnliche Nickerchen macht und dessen Erinnerungen Jessica plötzlich als die ihren empfindet. Und natürlich ist das Geräusch immer noch da.

So weit, so surreal. David Lynchs Filme lassen sich ähnlich schwer entschlüsseln. Memoria ist ein Werk, dass sich im Gegensatz zu Uncle Bonmee erinnert sich an seine früheren Leben oder Cemetery of Splendour zumindest für mich so gut wie gar nicht erklären lässt. Und dennoch spürt man in alle den Geschehnissen, die sich wie immer in fast minutenlangen Einstellungen offenbaren und im beiläufigen Dialog zwischen den Protagonisten greifbar werden, eine gewisse Logik. Eine mathematische Formel für eine Metaphysik, die völlig pragmatisch, abstrakt und gestaltlos über die uns vertrauten Naturgesetze hereinbricht. Da ist etwas anders im Existierenden, da ist etwas anders im Drumherum, nur was genau? Wie bei Lynch bleibt dieses Gefühl vage, mulmig und dennoch erschreckend fremdartig, weil sich Ursache und Absicht nicht deuten lassen.

Memoria ist entschleunigtes Kino, steht fast still und irrt suchend im Kreis umher. Wenn Tilda Swinton den Kopf neigt, um genauer hinzuhören, ist man versucht, es ebenfalls zu tun. Kann ja sein, dass man plötzlich auch etwas hört, das nicht erklingen darf, weil es nichts gibt, was es unmittelbar erzeugt. So imaginäre Erfahrungen haben wir wohl alle mal gehabt, vielleicht im Halbschlaf, vielleicht in Trance – Weerasethakul erzeugt aus diesem Phänomen absonderlicher Momente die Geometrie eines Wachtraums.

Memoria