Memoria

I HEAR YOU KNOCKING

7/10


memoria© 2021 24Bilder Film GmbH


LAND / JAHR: KOLUMBIEN, THAILAND, GROSSBRITANNIEN, MEXIKO, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: APICHATPONG WEERASETHAKUL

CAST: TILDA SWINTON, JEANNE BALIBAR, JUAN PABLO URREGO, ELKIN DIAZ, DANIEL GIMÉNEZ CACHO U. A.

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


Es gibt manche Filmemacher, die haben so klare Alleinstellungsmerkmale, dass man sie spielerisch in einem Random-Filmquiz richtig zuordnen würde. Diese Leute sind allesamt Visionäre und fest im Sattel, was ihre gestalterischen Prinzipien angeht. Manche davon wollen natürlich auch ihr Publikum und ihre Fangemeinde glücklich wissen – manche sagen aber: Das, was ich mache, ist meine Kunst. Jene, denen das gefällt, die kommen von ganz alleine.

Und ja, manche haben recht damit. Da kommen nicht nur die Fans (es mögen nicht so wahnsinnig viele sein, aber doch) und vor allem auch die Kritiker. In Cannes ist zumindest dieser Herr äußerst beliebt: Der Thailänder Apichatpong Weerasethakul. Der unaussprechliche Name steht allerdings auch für den unmöglichen Versuch, dessen Filme in einem Satz wiederzugeben. Was sich aber sagen lässt: Weerasethakul ist ein Mystiker, und einer, der das Genre des phantastischen Films vertritt. Gut, da gibt es vieles. Vieles mit Monstern, Universen, Weltraumschlachten und Planeten, mit Zwergen und Orks und Zeitreisen. Da lassen sich Bilderbücher kreieren, die Leute wie ich nur allzu gerne durchblättern. Der Thailänder hat hier einen ganz anderen Zugang. Er verzichtet auf all das – zumindest weitgehend. Wenn, dann sind das nur Nuancen, kurze Szenen ohne Worte. Für sich alleinstehende Tableaus, die die Rätselhaftigkeit und das Transzendente lediglich aufzufangen gedenken; diesem Paranormalen letzten Endes eine kleinen Kick versetzen oder einen Nährboden geben, aus welchem der Zuseher eine Art Bewunderung ob der magischen Zustände schöpft, die plötzlich passieren.

Und so erwacht in Weerasethakuls drittem Langspielfilm Tilda Swinton mitten in der Nacht durch ein seltsames Geräusch. Durch einen dumpfen, erdigen Knall, der auch eher ein Hammerschlag sein kann, der auf Gestein trifft. Irgendwie in diese Richtung. Swinton alias Jessica, eine in Medellín, Kolumbien lebende Amerikanerin, ist verstört und irritiert. Vermutet gar neuronale Ursachen und will das Geräusch in einem Tonstudio mithilfe des Musikers Hernan rekonstruieren. Doch damit beginnt Jessicas rätselhafte Reise erst, die sie ins Hinterland Kolumbiens führt und wo sie einen Fischer trifft, der sich ebenfalls Hernan nennt, der totenähnliche Nickerchen macht und dessen Erinnerungen Jessica plötzlich als die ihren empfindet. Und natürlich ist das Geräusch immer noch da.

So weit, so surreal. David Lynchs Filme lassen sich ähnlich schwer entschlüsseln. Memoria ist ein Werk, dass sich im Gegensatz zu Uncle Bonmee erinnert sich an seine früheren Leben oder Cemetery of Splendour zumindest für mich so gut wie gar nicht erklären lässt. Und dennoch spürt man in alle den Geschehnissen, die sich wie immer in fast minutenlangen Einstellungen offenbaren und im beiläufigen Dialog zwischen den Protagonisten greifbar werden, eine gewisse Logik. Eine mathematische Formel für eine Metaphysik, die völlig pragmatisch, abstrakt und gestaltlos über die uns vertrauten Naturgesetze hereinbricht. Da ist etwas anders im Existierenden, da ist etwas anders im Drumherum, nur was genau? Wie bei Lynch bleibt dieses Gefühl vage, mulmig und dennoch erschreckend fremdartig, weil sich Ursache und Absicht nicht deuten lassen.

Memoria ist entschleunigtes Kino, steht fast still und irrt suchend im Kreis umher. Wenn Tilda Swinton den Kopf neigt, um genauer hinzuhören, ist man versucht, es ebenfalls zu tun. Kann ja sein, dass man plötzlich auch etwas hört, das nicht erklingen darf, weil es nichts gibt, was es unmittelbar erzeugt. So imaginäre Erfahrungen haben wir wohl alle mal gehabt, vielleicht im Halbschlaf, vielleicht in Trance – Weerasethakul erzeugt aus diesem Phänomen absonderlicher Momente die Geometrie eines Wachtraums.

Memoria

The Card Counter

HINTER DEM POKERFACE

7,5/10


cardcounter© 2021 FOCUS FEATURES LLC. ALL RIGHTS RESERVED


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN, CHINA 2021

BUCH / REGIE: PAUL SCHRADER

CAST: OSCAR ISAAC, TYE SHERIDAN, TIFFANY HADDISH, WILLEM DAFOE, ALEXANDER BABARA, EKATERINA BAKER U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Star Wars-Fans kennen Ihn als Fliegerass Poe Dameron in der teils ungeliebten Sequel-Trilogie, anderen wiederum bleibt er als Atreides-Adeliger aus Denis Villeneuves Dune zumindest noch bis zum nächsten Teil in Erinnerung: Oscar Isaac, der Mann mit dem intensiven Blick und einem schauspielerischen Können, dass sich vielleicht noch nicht so richtig offenbart zu haben scheint, mit Paul Schraders The Card Counter aber seine Sternstunde feiert. In diesem schwer einschätzbaren Streifen gibt der Mann einen stoischen, in sich gekehrten Ex-Häftling, der über acht Jahre im Knast gesessen und dort so richtig zu schätzen gelernt hat, wie es ist, wenn ein Leben nach unverrückbaren Bahnen verläuft. Aus der Obhut des Staates entlassen, vertreibt William Tell (nein, es gibt keinerlei Bezug auf den Schweizer Nationalhelden) seine Zeit damit, in amerikanischen Casinos vorwiegend beim Black Jack die Karten zu zählen und so, mit siegessicherer Hand und gerade in einem Ausmaß, damit die Security nicht Blut leckt, ordentlich Kohle abstaubt. So zieht er von Stadt zu Stadt, mit einem Koffer und wohnhaft in Motels, deren Interieur er jedes Mal in weiße Tücher hüllt, so wie es Christo seinerzeit gemacht hat, nur in größeren Dimensionen. Der Zuseher begreift bald: Tell trägt eine Vergangenheit mit sich rum, die ihn selten ruhig schlafen lässt. Es sind dies die Foltergräuel aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib, an welchen er selbst beteiligt war – ein Umstand, der sich nicht relativieren geschweige denn reinwaschen lässt. Es sei denn, es gibt da eine Hintertür: Und die zeigt sich bald, in Gestalt eines jungen Mannes, dessen Vater aufgrund ganz ähnlicher Untaten den Freitod gewählt hat. Es wäre die Gelegenheit, wenn schon nicht das eigene Leben, dann zumindest ein anderes wieder in richtige Bahnen zu lenken.

Unter der Voraussetzung, dass man weiß, dass The Card Counter aus der Feder von Paul Schrader stammt und darüber hinaus noch vom alten Taxi Driver-Veteran inszeniert wurde, erscheinen die Aussichten auf verzeichnende Erfolge jenseits des Kartentisches vorzugsweise ernüchternd. Schraders verlorene Gestalten spielen in einer Welt der verkommenen Moral, der Reuelosigkeit und mit Füßen getretenen Fairness. Im Zentrum stehen – wie Travis Bickle – selbsternannte Anti-Helden, die ihre Bestimmung erkennen und mutterseelenallein den Ausfall wagen. Sie sehen sich verpflichtet, eine unrettbare Welt besser zu machen, koste es, was es wolle. Dabei weicht das eigene Leben, ohnedies gefüllt mit leeren Automatismen, einer potenziellen Selbstaufgabe. Eine düstere Figur, muss sich Oscar Isaac gedacht haben. Allerdings: herausfordernd. Der Schauspieler meistert diese Aufgabe mit grimmigem Understatement. Sein Wilhelm Tell ist in sich gekehrt und desillusioniert; traumatisiert und orientierungslos. Mitunter aber hegt er Zuneigung für so manche Person, entwickelt Wärme, wo man sie nicht für möglich hält, quält sich aber durch einen nachhaltigen Alptraum, der schubweise an die Oberfläche dringt und in verzerrten Bildern des Grauens sein Publikum verstört. Dann wieder die geordnete Dynamik eines Pokerturniers, das Kartenwälzen am Black Jack-Tisch und die völlig verwirrenden Regeln des Spiels. Gut, die muss man nicht kennen, um den Film auf gewisse Weise beeindruckend zu finden, obwohl Schrader es einem nicht leicht macht. Seine Szenen sind nüchtern und sperrig, bleiben unnahbar und lakonisch. Oscar Isaac allerdings entfesselt einen unberechenbaren Sog, zeigt sich sowohl verletzlich als auch unberührbar. Wenn er zu Co-Star Tye Sheridan spricht, gibt’s nur die Pflicht, seinen Worten zu gehorchen. Wenn er laut denkt, als Stimme aus dem Off, ist der Film Noir wieder zurück. Und Isaac spielt und denkt und kämpft ums Weiterleben. 

The Card Counter ist kein gefälliger Film, und auch nichts für Zwischendurch. Blickt in Abgründe, wie seinerzeit in Taxi Driver oder First Reformed. Gequälte Seelen, die Absolution finden wollen, das alles in spartanischer Optik und unterlegt mit melancholisch-jammernden Songs, die so klingen, als wäre ein Aufraffen gar nicht mehr möglich. Pessimismus also, in seiner edelsten Form.

The Card Counter

Petite Maman – Als wir Kinder waren

ELTERN AUF AUGENHÖHE

7,5/10


petitmaman© 2021 pyramidfilms


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: CÉLINE SCIAMMA

CAST: JOSÈPHINE SANZ, GABRIELLE SANZ, NINA MEURISSE, STÉPHANE VARUPENNE, MARGOT ABASCAL U. A. 

LÄNGE: 1 STD 12 MIN


Je älter man wird, umso schwerer wird das Leben. Da sollte man meinen: wenn schon schwerer, dann zumindest sollte das Kind in einem selbst ausreichend Resilienz gewährleisten, denn kommt dieses zu kurz, schaut’s trostlos aus. Bei Erwachsenen ist das oftmals so. Die Welt der Großen ist nichts zum Lachen, denn all die Schwierigkeiten, die einem dann begegnen, können nur mit einer gewissen Ernsthaftigkeit und einem präventiven Hang zum Pessimismus bewältigt werden. Langweilig! Und ein völlig falscher Ansatz. In diesem Dunstkreis will Erziehung folglich auch noch funktionieren. Aber wie, wenn das Kind nur von oben herab seine Anweisungen bekommt. Ihm gesagt wird, dass es die Probleme der Erwachsenen ohnehin nicht versteht. Nochmal: langweilig! Und schade um jeden Tag. Da wär’s doch mal schön, sich selbst noch mal als Kind zu begegnen, in der Hoffnung, vielleicht diesmal die juvenile Sicht der Dinge mitzunehmen in die knochentrockene Realität. Zu oft vergisst man: wir alle waren mal selbst verspielt. Und was wäre gewesen, hätten wir, jung und unschuldig, mit unserem eigenen Nachwuchs die Zeit verbracht?

Céline Sciamma (Portrait einer jungen Frau in Flammen) hat darüber eine die Grenzen des Realen aushebelnde Parabel formuliert, in welchem sich Vergangenheit und Gegenwart überlappen. Inmitten dieser erstaunlichen metaphysischen Begebenheit findet sich die achtjährige Nelly, die gemeinsam mit ihren Eltern das Haus der kürzlich verstorbenen Großmutter entrümpeln soll. Gar nicht so eine einfache Sache, zumindest für Nellys Mutter nicht. Diese trauert ob des Verlustes, hat überhaupt eine gewisse Schwermut in sich, mit der Nelly wenig anfangen kann. Der Vater ist da eher distanziert, aber fürsorglich. Eines Tages verschwindet Mama, keiner weiß wirklich, wohin. Am selben Tag aber lernt Nelly im Wald nahe dem Haus ein Mädchen kennen, dass ihr auffallend ähnlich sieht. Seltsamerweise trägt sie den gleichen Namen wie ihre Mutter. Und auch das Haus, in dem sie wohnt, gleicht jenem der eigenen Oma sogar bis auf die Küchentapete.

Diese wundersame Begegnung ist ein Mysterium, das der polnische Kinomagier Krysztof Kieslowski (Die zwei Leben der Veronika) wohl vielleicht selbst gerne inszeniert hätte, würde er noch leben. Fernab jeglichen Budenzaubers und sonstiger phantastischer Versatzstücke ist die Inhärenz einer anderen Zeit und das Treffen von Mutter und Tochter im Kindesalter eine Begebenheit, die selbst nicht Thema des Films ist. Sie ist auch nicht Thema der beiden Kinder, die um alles in der Welt versuchen würden, das Geheimnis zu lüften. Dieses ist einfach da – wie so vieles auf dieser Welt. Viel wichtiger und erquickender ist der Umgang miteinander, das Ergründen des Wesens der jeweils anderen und das Abenteuer, das beide miteinander erleben. Dazu gehören Unfug, Humor, kreatives Teamwork und die Erkundung magischer Orte. Das gemeinsame Übernachten und das Backen von Crêpes. Sciamma inszeniert zurückhaltend und scheint gar, die beiden Zwillinge improvisieren zu lassen, fängt dabei ihre unverfälschte Dynamik ein und bildet daraus eine eigene (sozial)pädagogisch orientierte Meinung. Was, wenn unsere Kinder uns selbst auf Augenhöhe begegnen? Könnten Sie uns dann, als Erwachsene, besser verstehen? Diese Chance bekommt Nelly zum Geschenk.

Ein kleines Geschenk ist Petite Maman – Als wir Kinder waren auf alle Fälle. Nicht nur für Mutter und Tochter im Film, sondern auch für uns Zuseher. Trotz der recht reduktionistischen und lakonischen Ausgestaltung entstehen an diesem Ort zwischen den Zeiten ganz eigene, zärtlich formulierte Momentaufnahmen kindlicher Sichtweisen, die wie Balsam nicht nur auf den Seelen desillusionierter Erwachsener wirken. Mit Petit Maman ist vorübergehend mal Schluss mit dem Belächeln derer, die sich ihr Kindsein bewahrt haben. Die beste Voraussetzung, Generationen zu verbinden.

Petite Maman – Als wir Kinder waren

Große Freiheit

NÄHE UNTER MÄNNERN

7/10


grossefreiheit© 2021 Filmladen


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: SEBASTIAN MEISE

BUCH: SEBASTIAN MEISE, THOMAS REIDER

CAST: FRANZ ROGOWSKI, GEORG FRIEDRICH, THOMAS PRENN, ANTON VON LUCKE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Im Präkambrium sexueller Freiheit war die Vorstellung von Regenbogenparaden, Schwulenbars oder Gay-Communities die absurde Zukunftsvision einer moralisch verwahrlosten Gesellschaft. Homosexualität – ja, die gab es immer. Sie entweder als Krankheit zu behandeln oder eben zu unterdrücken – die einzigen Möglichkeiten, damit klarzukommen. Und ja: Homosexualität mag zwar eine biologische Anomalie sein, doch die Natur ist voll solcher nonlinearen Richtungswechsel, die zum Konzept gehören und somit auch nicht widernatürlich sind. Das zu akzeptieren, fällt einer christlich geprägten Gesellschaft schwer, die Sitte und Kultur auf dem Segen der Päpste aufgebaut hat. Nicht, dass der Prozess bereits ein durchgestandener ist. Es mag zwar alles besser geworden sein – den schiefen Blick gibt es aber immer noch, trotz des Predigens einer modernen Toleranzgesellschaft. Die war Ende der Sechziger noch nicht mal geboren, denn Paragraph 175 – sexuelle Strafhandlungen unter Männern – war eben noch nicht abgeschafft. Einer wie Hans Hoffmann (Franz Rogowski) landet dadurch immer wieder im Knast, erstmals sogar schon nach Ende des Krieges, und zwar raus aus dem KZ und rein in die Zuchtanstalt. Dabei teilt er sich mit dem Wiener Viktor, der Schwule zutiefst ablehnt, eine Zelle. Anfangs stellt sich das Zusammenleben als schwierig heraus, später aber entsteht sowas wie eine indirekte Freundschaft zwischen den beiden, welche die Liebschaften Hoffmanns überdauert.

Es ist, als wäre Sebastian Meises hochgelobter dritter Spielfilm die Gay-Version von Frank Darabonts Die Verurteilten – nur ohne der spannungsgeladenen Komponente eines Ausbruchs. Denn das ist Große Freiheit gar nicht, viel eher sind es die zwischenmenschlichen Intimitäten, die dem großen Gefängnisklassiker aus den Neunzigern ähneln. Und die gehen entschieden in eine Richtung, für die das starke Geschlecht niemals so wirklich Worte finden kann. Für Sebastian Meise gibt es keinerlei Berührungsängste in Sachen Zärtlichkeiten zwischen Männern. Ein Umstand, den ein männliches, heterosexuelles Publikum vielleicht durchaus peinlich berühren kann. Durch die gleichgeschlechtliche Liebe gibt es die Verteilung von Rollen nicht mehr: Der Mann wird zum beschützenden Partner, zumindest einer der beiden ruht als zweitweise schwächeres Geschlecht in den Armen des anderen. Das ist etwas, das unserer Kultur fremd vorkommt. Umso intensiver und ehrlicher nähert sich Meise diesem Umstand, um Vertrauen zu schaffen. Ein Kaliber wie Rogowski, der allerdings verbal schwer zu verstehen ist, hat damit genauso wenig Probleme wie Österreichs genialer Dialektredner Georg Friedrich – und keiner von beiden stiehlt dem anderen die Show. Zwischendurch und auch nur temporär schürt einer wie Thomas Prenn auf authentische Weise das sexuelle Verlangen eines Mannes für einen Mann. Neben Timothée Chalamet (Call Me by Your Name) wird auch Prenn zum klassischen Jüngling, welcher der Nähe unter Männern im sozialen Fegefeuer eines Gefängnisses so etwas zeitlos Schönes wie Romantik schenkt.

Derweil befindet sich Große Freiheit auf der Shortlist für den Auslandsoscar. Ob dieser offene Umgang mit einer etwas anderen sexuellen Freiheit wie dieser tatsächlich auch abseits von Cannes ausreichend Stimmen erhält? Mich jedenfalls hat das Schwulen- und Freundschaftsdrama einerseits an den heterosexuellen Rand gedrängt, andererseits aber sorgt die Tatsache, dass die neue Zärtlichkeit zwischen Männern auch ganz anderer Art sein kann, für ein Umdenken in einer Welt harter Kerle.

Große Freiheit

Noche de Fuego

IM SCHATTEN DES KARTELLS

7/10


nochedefuego© 2021 Netflix


LAND / JAHR: MEXIKO, DEUTSCHLAND, BRASILIEN, SCHWEIZ, USA, KATAR 2020

BUCH / REGIE: TATIANA HUEZO

CAST: ANA CRISTINA ORDÓÑEZ GONZALES, MARYA MEMBREÑO, MAYRA BATALLA, NORMA PABLO U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Man muss nur genau hinhören. Darin wird die junge Ana trainiert. Sie hört die Kühe des Nachbarn auf freiem Feld, sie hört das Bellen des Hundes die Straße runter. Sollte sie das Motorengeräusch eines Vierradantriebs hören, muss sie sich verstecken. Denn die Schergen des Kartells sind hinter ihr her. Dabei hat sie die Bösen gar nicht provoziert, ganz im Gegenteil. Zu ihrem eigenen Schutz nimmt der LKW sie frühmorgens gar mit auf die Mohnfelder. Das Kartell ist hinter ihr her, weil sie ein Mädchen ist. Und Mädchen, insbesondere die hübschen, bringen im kranken Wirtschaftsverständnis der Verbrecherwelt Mexikos ordentlich Profit. So einen erschütterten Einblick erhält man mitunter auch im brasilianischen Sozialthriller 7 Gefangene. Da schnürt es einem die Kehle zu, das ist schwer mitanzusehen. Dabei ist das nicht mal notwendig, der Stein liegt schon im Magen, wenn plötzlich eine von Anas Freundinnen verschwindet. Ein Umstand, der schlimmer ist als der Tod. Unter diesem Schatten wächst Ana also auf, mit ihren besten Freundinnen, die untereinander versuchen, ihre Gedanken zu lesen. Ihr Leben sollte das unbekümmerte eines jungen Mädchens aus dem Dorf sein, wäre da nicht diese andauernde Bedrohung, unter der Anas Mutter leidet, da sie das Schutzgeld für ihre Familie nicht bezahlen kann. Der Vater schickt kein Geld mehr. Mohn ist der einzige Garant, doch selbst der bremst die Gier der Bewaffneten nicht, die so plötzlich kommen wie ein Tornado über die nordamerikanischen Ebenen.

Bereits beim diesjährigen Cannes-Festival in der Rubrik Un Certain Regard lobend erwähnt und auf der Viennale 2021 vertreten, ist diese etwas andere Coming-of-Age-Story der salvadorianischen Filmemacherin Tatiana Huezo das sensible, pietätvolle Tagebuch eines Alltags irgendwo im mexikanischen Hochland – in einem Dorf, wo die staatliche Exekutive fast nichts zu sagen hat und jene Kartelle, die sich gerade an die Macht gemeuchelt haben, alles. Noche de Fuego (oder auch A Prayer for the Stolen) lässt seine Protagonistinnen aus freien Stücken das empfinden, was sie wohl für eine gute Freundschaft empfinden würden, dabei gerät die Interaktion der drei zu einem authentischen, bezaubernden Miteinander, das unter ständiger Gefahr gelebt werden kann: Das erste Kokettieren mit einem Jungen, die erste Monatsblutung, der schulische Unterricht und der Twist mit der Mutter, die nicht will, dass Ana zu ihrer Weiblichkeit steht. Schminke ist verboten, das Haar muss kurz geschoren sein. Im Vergleich zur direkten Unterdrückung der Frau in Afghanistan ist diese indirekte Unterdrückung nicht weniger belastend. Da bangt man um jede Szene in Freiheit, da spürt man schon den aufkommenden Schrecken. Da stresst der Moment und macht Angst, wenn Ana in der Grube im Garten hyperventiliert, wenn die Menschenhändler kommen.

Noche de Fuego ist ein ruhiger, sanfter, aber auch ungemein erschreckender Film, der das Unmögliche verortet und mit Fürsorglichkeit und Mitgefühl für seine verletzlichen Figuren den Fokus vom nahen Osten auf Mittelamerika legt, wo das Menschenrecht genauso wenig zählt – weil es nicht eingefordert werden kann.

Noche de Fuego

Bergman Island

IM GEISTE ALTER SCHWEDEN

7/10


bergmanisland© Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, SCHWEDEN, BELGIEN, DEUTSCHLAND 2021

BUCH / REGIE: MIA HANSEN-LØVE

CAST: VICKY KRIEPS, TIM ROTH, MIA WASIKOWSKA, ANDERS DANIELSEN LIE U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


In guter Stimmung? Dem kann abgeholfen werden, und zwar am besten mit einem der Filme von Ingmar Bergman, dem Meister des depressiven Kinos in Richtung Psychose. Doch es gibt auch Sanfteres aus seinem Œuvre, wie zum Beispiel das grandiose Epos Fanny & Alexander. Ein Kult schlechthin: Das siebente SiegelMax von Sydow spielt Schach mit dem Tod. Diese Szene kennt fast ein jeder. Hartgesottenen wäre Das Schweigen oder Die Stunde des Wolfs nahezulegen. Für Melancholiker mit Liebe zum Surrealen das für mich beste Werk seines Schaffens: Wilde Erdbeeren. Einige davon haben die Breitenseer Lichtspiele, eines der ältesten Kinos der Welt, vor ewigen Zeiten mal in einer Retrospektive gebracht. Filmgeschichte für Feinschmecker. Wenn man nach sowas nicht schon genug oder aber an Ingmar Bergman einen Narren gefressen hat, so bucht man gleich den nächsten Urlaub auf der schwedischen Insel Fårö, auf welcher der Altmeister und Vater von neun Kindern aus sechs Beziehungen bis zu seinem Tod gelebt hat. Und damit nicht genug: das pittoreske Eiland bietet auch allerhand Filmschauplätze, die tatsächlich im Rahmen einer sogenannten Bergman-Safari zu besichtigen sind.

Falls aber gerade das nötige Kleingeld und auch die Zeit fehlt, tun es auch die knapp zwei Stunden Film von Mia Hansen-Løve: Bergman Island. Dabei scheint es fast unmöglich, im Zuge eines tatsächlichen Ausflugs auf die Insel mehr zu erfahren als während dieser knietiefen Verbeugung vor einem Idol des europäischen Autorenkinos. Es ist, als wäre man dort gewesen. Und man weiß auch: das Haus aus dem Film Wie in einem Spiegel hat es zum Beispiel nie gegeben. Insiderwissen für Filmnerds. Allen anderen, die Ingmar Bergman nicht kennen oder noch nie einen Film von ihm gesehen haben, werden sich während dieser zwei Stunden aufgrund irrelevanter Informationen regelrecht langweilen.

Ich gehöre nicht dazu, ich kenne Ingmar Bergmans Schaffen zu einem beträchtlichen Teil. Auch Tim Roth und Vicky Krieps sind im Bilde, reisen sie doch zur Erweiterung ihres kreativen Schaffens als Filmemacher an dieses Fleckchen europäische Erde, um in einem herrlichen Ferienanwesen einschließlich des Ehebettes aus dem Film Szenen einer Ehe nächste Projekte zu erarbeiten. Tim Roth alias Tony, ein renommierter Regisseur, fällt das Arbeiten leicht, da sprudeln die Ideen. Vicky Krieps alias Chris tut sich im Schatten ihres Künstlerpartners sichtlich schwerer und muss erst mal die Gegend in sich aufnehmen, um auf andere Gedanken zu kommen. Was dabei entsteht, ist der Stoff für einen Film mit autobiographischen Zügen.

Bergman Island ist ein spezieller Film für ein spezialisiertes Publikum, für Filmhistoriker und Autorenfilmfans, die vielleicht selbst gerne schreiben, über Inspiration selbst einiges zum Besten geben können und Schreibblockaden als etwas wirklich Schmerzliches empfinden. Vicky Krieps, seit Der seidene Faden mit internationalen Stars auf Augenhöhe, erforscht mit respektvoller Neugier Bergmans Geist, der über allem schwebt – ihr fiktives Alter Ego Mia Wasikowska ist dann bereit für die Wehmut einer unerfüllten, grenzenlos scheinenden Liebe aus schmerzlichen Erinnerungen und neuem Auflodern. Mit dem Einbruch einer zweiten narrativen Ebene, die am Ende geschickt mit der Realität kokettiert, erhält die vom schwedischen Fremdenverkehrsamt sicherlich mit einem ganzen Jahresbudget gesponserte Künstlerelegie dann auch die notwendige Tiefe und Emotion, um als das Mystery-Psychogramm einer Autorenfilmerin meine Empfehlung zu erlangen.

Bergman Island