Under the Skin (2013)

DIE FRAU, DIE VOM HIMMEL FIEL

8,5/10


under-the-skin© 2013 Senator Home Entertainment


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2013

REGIE: JONATHAN GLAZER

DREHBUCH: JONATHAN GLAZER, WALTER CAMPBELL, NACH DEM ROMAN „DIE WELTENWANDERIN“ VON MICHEL FABER

CAST: SCARLETT JOHANSSON, JOE SZULA, KRYŠTOF HÁDEK, ADAM PEARSON, PAUL BRANNIGAN, MICHAEL MORELAND, GERRY GOODFELLOW, DAVE ACTON U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Der neue Film des Briten stürmt gerade eben die Nominierungslisten der Oscar-Academy: The Zone of Interest. Mit diesem verstörenden Perspektivwechsel auf den vergnüglichen Alltag einer nationalsozialistischen Vorzeigefamilie, die am Rande des Konzentrationslagers Auschwitz ihre Zelte aufgeschlagen hat, mag Jonathan Glazer in seinem erst vierten Spielfilm dem Subgenre des Holocaust-Films neue Aspekte hinzufügen. Nicht all die Opfer würden diesmal für Betroffenheit sorgen, sondern die mit dem Blut an den Händen. Dabei mag am meisten verstören, dass die Identifikationsfiguren diesmal gänzlich fehlen, die glückliche Familie in Braun aber wie der teufel in der Wüste sämtliche Schienen legen möge, um hineinzufinden in einen Alltag, der uns auf unheimliche Weise vertraut vorkommen mag.

Diesem Sichtwechsel, dieses Umstülpen einer narrativen Ordnung, lässt Glazer auch in seinem zehn Jahre zurückliegenden letzten Film alle möglichen Freiheiten, um sich auszutoben. Under the Skin ist Science-Fiction, wie man sie noch nicht gesehen hat. Wie man sie womöglich auch niemals wieder sehen wird. Und die eine diebische Freude daran hat, nichts erklären zu müssen. Im hoch budgetierten Studiofilm wäre so etwas undenkbar, viel zu unorthodox und um Gottes Willen kein bisschen massentauglich. Gut so, denn in dieser Unabhängigkeit eines Künstlers liegen jene Motoren, die die kreative Evolution im Film weitertreiben und nicht auf der Stelle treten lassen, wie es derzeit im Comicfilm zum Problem wurde. Under the Skin ignoriert Schablonen, Versatzstücke und gängiges Vokabular. Es scheint, als erfinde es eine neue, erzählerische Sprache, wie klingonisch oder elbisch – dafür aber in Bildern und einer gegen die Wuchsrichtung gebürsteten Anordnung. Mittendrin in dieser wortkargen Versuchsanordnung einer urbanen Alien-Ballade findet sich jemand, der längst im großen Studiofilm Furore gemacht hat: Scarlett Johansson. Ein Skript wie dieses ausschlagen? Gerade in solchen mutigen Werken liegt die eigentliche Freude am Schauspielern, wenn einem erlaubt scheint, den ganzen Star-Glimmer abzulegen, um die Mutprobe eines ungefälligen Kunststückes zu wagen, das Under the Skin klarerweise darstellt.

Wie schon David Bowie als vom Himmel gefallener humanoider Alien, der dem Mammon und sonstigen menschlichen Versuchungen erliegt, ist Scarlett Johansson ein ähnlich extraterrestrischer Besucher (oder Besucherin, ganz genau weiß man das nicht), der in Gestalt einer attraktiven Frau allerlei Männer anbaggert, diese nachhause abschleppt, seinem Willen unterwirft und in eine schwarze, ölige Flüssigkeit taucht. Dieses Innere der Wohnung ist ein Ort der undurchdringlichen Schwärze, während der Boden zwar nicht für das Alien, für den Menschen aber zu Treibsand wird. In diesem surrealen Nirgendwo möchte man selbst tunlichst nicht vorbeisehen müssen, es ist wie das Tor in eine andere Welt, die gefühlskalt und erbarmungslos als eine übergeordnete Entität dem Dasein des Mannes den Albtraum seiner Vergänglichkeit bereitet. Irgendwann jedoch findet Johanssons aparte Figur Gefallen an dieser Welt, an den Wesen, vor allem an einem unter Neurofibromatose erkrankten jungen Mann (Adam Pearson, A Different Man), der so anders aussieht als alle anderen. Der so anders empfindet, sich anders verhält, der selbst wie ein Alien fremd und ausgestoßen bleibt. Diese Gemeinsamkeit bringt Johansson zum Umdenken. Und in höchste Gefahr.

Was Jonathan Glazer aus dieser allen Gewohnheiten entkoppelten Geschichte macht, grenzt an Horizonterweiterung. Die Kunst der Reduktion, des Nicht-Erklären-Wollens, des Assoziierens und Nachempfindens weniger karger, uns bekannter Verhaltensmuster macht Under the Skin zu einer geheimnisvollen Begegnung mit einer dritten Art, schafft aber gleichermaßen die Studie einer Menschwerdung, angereichert mit humanistischen Überlegungen und die Hinterfragung von Akzeptanz und Würde. Glazers Film ist einer, in dem man sich fallen lassen muss, bei dem es sich lohnt, nichts ergänzen oder analysieren zu wollen. Den man auditiv und visuell erfahren kann, so, als würde man seinen von der Sonne bestrahlten und erhitzten Kopf in kühles Wasser tauchen. Dieser Sinneseindruck, der dabei entsteht, lässt sich mit Under the Skin vergleichen. Was man dann sieht, ist nichts, womit man rechnen wird. Und dann ist da diese seltsame Verstörung zwischen den Bildern, die keine Metaebenen preisgeben, und diese Poesie des Schmerzes, den eine Lebensform empfindet, die sich dem Mysteriösen eines Abenteuers stellt und die Frage aufwirft: Was ist der Mensch, und was ist er nicht?

Under the Skin (2013)

The House

DER ALBTRAUM VOM EIGENHEIM

8,5/10


thehouse_02© 2022 Netflix


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: EMMA DE SWAEF & MARC ROELS, NIKI LINDROTH VON BAHR, PALOMA BAEZA

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): MIA GOTH, CLAUDIE BLAKLEY, MATTHEW GOODE, MARK HEAP, MIRANDA RICHARDSON, STEPHANIE COLE, JARVIS COCKER, HELENA BONHAM CARTER U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Dieses Jahr ist nicht nur im Kino bereits reichlich beeindruckend. Netflix zieht mit, und hat einen Animationsfilm im Sortiment, der einem die Sprache verschlägt. Der Episodenreigen mit dem schlichten Titel The House feiert die gute alte Methode der Stop-Motion mit Puppen aus Filz und Fell, deren feine Fasern sich bei jeder Bewegung anders positionieren und der ganzen geschmeidigen Animation das gewisse rustikale Etwas aus den frühen Tagen des DDR-Sandmännchens verleihen. Mit The House bekommt Perfektionist Wes Anderson, der mit Isle of Dogs die Akkuratesse einer solchen Methode auf die Spitze getrieben hat, ernsthafte Konkurrenz. Und wenn man glaubt, mit diesem Trickfilm vergnügliche Familienunterhaltung zu verorten, irrt gewaltig. The House ist düster, beängstigend und so surreal wie seit David Lynch’s Traumgespinste selten ein Film. Dabei ist Dreh- und Angelpunkt dieser absurden Szenarien lediglich ein stattliches, neoklassizistisches Gebäude mit einem kleinen Türmchen in der Mitte, das einmal Menschen, einmal Mäuse und dann wieder Katzen beherbergt, die als klassische Tierfabelfiguren mit ihren eigenen vier Wänden in Clinch gehen.

In Geschichte Nummer 1, inszeniert vom belgischen Animationsduo Emma de Swaef & Marc Roels, schaut eine aus ärmlichen Verhältnissen stammende Familie einem geschenkten Gaul sicherlich nicht ins Maul, als sie in besagtes Haus einzieht. Doch besser, sie hätten es angesichts diverser obskurer Begebenheiten lieber doch gemacht. Geschichte Nr. 2, inszeniert vom Schweden Niki Lindroth von Bahr, lässt im selben Haus einen Mäuserich als Grundstücksmakler, der die Immobilie an die Maus bringen will, an seine Grenzen gehen. Denn die, die sich als einzige für dieses von Ungeziefern heimgesuchte Gemäuer interessieren, sind auch nicht das, was sie scheinen. Zu guter Letzt dann die wohl zuversichtlichste Anekdote von Paloma Baeza, die womöglich ihrer Liebe zu Katzen Tribut zollt. Denn da versucht eine miezende Hausherrin inmitten stetig steigenden Hochwassers all ihre Räumlichkeiten zu renovieren, um doch noch Mieter anzulocken. Womöglich vergeblich – oder doch nicht?

Häuser, die ein Eigenleben führen oder ihre Bewohner zur Verzweiflung treiben, gibt es viele in der Filmwelt. Erst kürzlich klapperten Giebel und Fensterläden in Disneys Encanto fröhlich vor sich hin. Doch Gotte behüte, wenn die Villa mal einen schlechten Tag hat wie zum Beispiel in Roman Polanskis Der Mieter. In Hinterholz 8 oder Geschenkt ist noch zu teuer sind Häuser der Granit, an dem sich motivierte Selfmen die Zähne ausbeißen. In diesen Gutenachtgeschichten hier führt es den Bewohner noch tiefer in die metaphysischen Eingeweide seltsam verwunschener Bauten und scheinbar eleganter Räumlichkeiten. In The House findet nichts eine Erklärung, verschwinden Räume und Treppen, krabbeln Käfer aus allen Ritzen, ist das Ende der Sesshaftigkeit nur bedingt ein neuer Anfang. In detailverliebter Ausstattung Marke Puppenküche und mit auf den ersten Blick zwar herzigen, aber letzten Endes befremdlichen Filzköpfen geraten die Gutgläubigen in einen Sog unheilbringender, höherer Mächte und erinnern an die bis zum großen Knall ausgearbeiteten Visionen eines Eugene Ionesco oder Gert Jonke, die die Sehnsucht nach dem bürgerlichen Wohlstand und heimeliger Glückseligkeit hinters Licht führen – dorthin, wo es finster genug ist, um sich auszumalen, was gar nicht sein kann.

Vor allem aufgrund dieser Rätselhaftigkeit der punktgenau ausformulierten Kurzgeschichten ist The House ein zauberhaft unbequemes Faszinosum, das gegen den Strom gefälliger Feelgood-Plots schwimmt und die Begrifflichkeit des Wohnens, gerade zur Zeiten der Pandemie wieder wichtig geworden, in schwarzgezeichnetem Wohlwollen für den Bewohner und seiner Psyche hinterfragt.

The House