Men – Was dich sucht, wird dich finden (2022)

DES MANNES SCHREI NACH LIEBE

6,5/10


Men© 2022 Plaion Pictures


LAND / JAHR: VEREINIGTES KÖNIGREICH 2022

REGIE / DREHBUCH: ALEX GARLAND

CAST: JESSIE BUCKLEY, RORY KINNEAR, PAAPA ESSIEDU, GAYLE RANKIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN 


Vorsicht! Die ersten Szenen dieses Films in ihrer frühlingshaft motivierten Lust könnten darüber hinwegtäuschen, womit man es später zu tun haben wird. Men – Was dich sucht, wird dich finden (Danke an dieser Stelle an den deutschen Verleih für diesen entbehrlichen Titel-Appendix) ist kein Film, der als Zerstreuung für Zwischendurch einen entspannten Abend ausklingen lassen soll, schon gar nicht mit der Partnerin oder dem Partner. Men ist eine mehrfach verschlossene Schatulle, eine Büchse der Pandora, die vielleicht etwas beherbergt, womit niemand konfrontiert werden will. Weil das, was Alex Garland wagt, äußerlich betrachtet an welche Grenze auch immer gehen wird. Jedenfalls wird es das sein – eine Grenze. Vielleicht auch ausgesprochen von Jessie Buckley, die, mit dem blutigen Messer fuchtelnd, ohrenbetäubend laut in die Männerwelt hineinschreit: Stop! Bis hierhin und nicht weiter!

Buckley, diese wunderbare irische Schauspielerin, die gerade im Kino ebenso hinreißend in Kleine schmutzige Briefe an der Seite von Olivia Colman schimpft wie ein Rohrspatz, gibt hier eine junge Frau namens Harper, die nach dem Tod ihres Ehemannes eine Auszeit in der englischen Provinz sucht, irgendwo abgelegen in einem uralten Herrenhaus, das von dem kauzigen Jeffrey (Rory Kinnear) vermietet wird, der ihr mit nicht ganz koscherer Bauernfreundlichkeit das schmucke Anwesen präsentiert. Nichts scheint darauf hinzudeuten, dass die nächsten beiden Wochen nicht problemlos dafür dienen könnten, über das traumatische Erlebnis zumindest etwas hinwegzukommen. Beim ersten Spaziergang durch den nahen Forst, der selbst schon als ein einziger, bedrohlicher Organismus wirkt, ändert sich aber die Sachlage. Harper wird verfolgt. Von einem nackten Mann, lehmbeschmiert und mit blutigen Narben im Gesicht. Was will er? Und was will der Dorfpfarrer, der seltsamerweise so aussieht wie jeder Mann hier im Dorf, auch wie der ungehaltene Knabe mit der Maske einer Fifties-Blondine. Was ist das für ein Baum im Vorgarten, der die verbotenen Früchte trägt und Jessie Buckleys gepeinigte Figur gleich von Anbeginn an mit der Urmutter aller Weiblichkeit verknüpft – mit Eva, die vom Baum der Erkenntnis nascht. Alex Garland sucht nach dem Grund für die epochal andauernde Diskriminierung der Frau bei Stunde Null, bei der Vertreibung aus dem Paradies. Und paart seinen essayistischen Horror mit den zugänglicheren Narrativ des Nachhalls einer wie auch immer überstandenen Ehekrise.

Mit Auslöschung hat Alex Garland die Verfilmung von Jeff VanderMeers eher sprödem Mysterydrama rund um eine ebenso mysteriöse Area X in vielerlei Hinsicht atemberaubend in Szene gesetzt. In Men sind Referenzen an die Bildsprache dieses Films nicht auszuschließen. Mit Ex Machina über die Emanzipation einer Androidin gelingt dem Künstler ein faszinierendes Kammerspiel rund um Selbstbestimmung und den Begriff Individuum. Demnächst startet sein neuestes Szenario in den Kinos: Civil War. Dort schildert er den womöglich größten Albtraum der US-Amerikaner seit Erstürmung des Kapitols – den hauseigenen und hausgemachten Bürgerkrieg. Doch Garland traut sich noch mehr, als die Mechanismen und die Ethik hinter Evolution, Technologie und Politik zu hinterfragen. Mit Men rührt Garland bis zum Ellbogen in der Ursuppe weiblicher Sündenfälle herum und ergründet auf so ungewöhnliche Weise die im schaurigen Unterbewusstsein kauernde Furcht des Mannes, der Gunst der begehrten Weiblichkeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.

Statt des kolportierten Penisneid bei Frauen ist es der Gebärneid der Männer und ihre biologische Entbehrlichkeit nach der Zeugung. Garland tut dies nicht anhand einer profanen Beziehungskiste, anhand eines Liebesdramas oder einer Gesellschaftssatire. Er tut dies in der Ausdrucksform einer surrealen Versuchsanordnung und in einer grotesken Wildheit, aus der eine allegorische Bildsprache wuchert. Wer bereit ist, sich in kryptischen Symboliken von Geburt, Sündenfall und bedrohlicher Männlichkeit fallen zu lassen; wer bereit ist, noch weiter zu gehen als schon Joaquin Phoenix als panisches Muttersöhnchen mit Penis-Komplex in Beau is Afraid und sich auch nicht davor ekelt, den menschlichen Körper in dismorphen Daseinszuständen anzutreffen, die an die krassesten Bilder eines Francis Bacon erinnern, wird Men als einen egozentrischen Kunstfilm zu verstehen wissen, dessen Kern der Erkenntnis unter tonnenweise Symptomen begraben liegt, die wie paranormale Erscheinungen von dem eigentlichen Grund der Anwesenheit solcher ablenken, indem sie Angst erzeugen.

Rory Kinnear als inkarnierte Entität alles Männlichen hat die Ärmel hochgekrempelt, den Talar übergeworfen und die Wampe umgeschnallt. Hat sich seiner Kleider entledigt, den Polizisten markiert und den bärtigen Barmann. Er ist, was alle Männer sind: Ein um die Weiblichkeit buhlender Mob, der die Schwächen des Mannes den Frauen in die Schuhe schiebt. Garland stellt den Motor, der hinter häuslicher, meist vom Manne verursachten Gewalt liegt, als schrägen Kostümreigen dar, der sich von der gesellschaftsfähigen Fassade immer weiter hinabarbeitet bis zu den Wurzelspitzen eines Lovecraft’schen Wahnsinns, wo Finsternis, Blut und nackte Körper sich selbst gebären, immer wieder, bis ein Häufchen Elend freigelegt wird, das mit einer dünnen Stimme nach Liebe schreit.

Men ist ein verstörendes Stück Metapherkino und Kopfgeburt, der es aber immer wieder gelingt, durch akustische Spielereien und dem aufgeweckten Spiel von Jessie Buckley die dicke Luft in diesem Pandämonium durch frische Brisen aufzulockern. Am Ende lässt sich, wie in Ari Asters Beau is Afraid, trotzdem nur mehr schwer Luft holen – da muss man durchtauchen, und zwar robbend, wie durch Morast, um auf der anderen Seite wieder festen Boden zu gewinnen. Ob es sich lohnt? Das ist Ansichtssache.

Men – Was dich sucht, wird dich finden (2022)

The Stranger

DER AUSTRALISCHE FREUND

6/10


thestranger© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: AUSTRALIEN 2022

BUCH / REGIE: THOMAS M. WRIGHT

CAST: JOEL EDGERTON, SEAN HARRIS, EWEN LESLIE, KAMERON HOOD, JADA ALBERTS, STEVE MOUZAKIS, MIKE FOENANDER, FLETCHER HUMPHRYS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Was heuer auf den Filmfestspielen so präsentiert wurde, lässt sich oftmals und gar nicht mal so sehr verspätet auf Netflix finden. Da spart man sich das mühsame Kartenkaufen, vor allem bei Filmen, die sowieso nie das Licht der großen Leinwand erblicken würden und sonst sang und klanglos in den lichtlosen Archiven der Kinogeschichte verschwinden würden. Dabei hätte man vielleicht Lust auf einen neuen Film mit Joel Edgerton, einem charismatischen und stets opaken Darsteller, dessen wahre Gesinnung erst immer gegen Ende seiner Filme zum Vorschein kommt. Edgerton ist ein Kaliber, und auch wenn The Stranger die Finsternis der Filmarchive vielleicht ganz guttun würde – ihm beim Ermitteln zuzusehen, inmitten eines Australiens, das sich ausnahmsweise mal von einer Seite zeigt, die wir nicht aus Bildbänden und Reisemagazinen kennen, hat schon was für sich. Noch dazu, wenn er sich mit einem nicht weniger mysteriösen Charakter herumschlagen muss, der, auf eindringliche Weise von Sean Harris verkörpert, die ganzen dunklen Schatten einer australischen Jetztzeit mit sich herumträgt, ohne es zu wissen. Wie ein Wirt einen Virus birgt, dabei aber selbst nicht erkrankt und nur den ganzen Mist an die anderen abgibt, freilich, ohne vorsätzlich gehandelt zu haben.

Das Fremdenverkehrsamt hat für The Stranger sicherlich keinen Cent locker gemacht. Man könnte meinen, irgendwo sonst auf den gemäßigten Graden dieser Welt unterwegs zu sein. Australien wird hier austauschbar, protzt nicht mit Stränden, Wäldern und artenreichen Wüsten, sondern mit Staub, Einöde und urbaner Verbauung. Ein Bus fährt anfangs durch die kontinentale Nacht, mittendrin eben Sean Harris als einer mit stechendem Blick. Man nennt ihn Henry, und dieser Henry reist von Queensland in den Westen, um Vergangenes hinter sich zu lassen. Paul (Joel Edgerton) ist ebenfalls Fahrgast, und am Ende der Reise angekommen, tun sie sich zusammen. Der eine braucht ein Auto, der andere einen Job. Eine Hand wäscht die andere, beide arbeiten für Australiens Unterwelt, die für zahlungskräftige Kunden falsche Papiere ausstellt, und bald wird aus Teamgeist sowas wie Freundschaft. Was Henry aber nicht weiß: Paul ist als Ermittler undercover unterwegs, um den seltsamen Freund genauer unter die Lupe zu nehmen, gilt der doch als Hauptverdächtiger in einem Fall von Kindesentführung und vermutlich Mord. Keine leichte Sache, das Ganze, denn Henry ist verschwiegen wie ein Grab und gibt keinerlei Hinweise darauf, mit dieser grauenhaften Sache überhaupt etwas zu tun zu haben.

Engagement im Investigieren ist eine Sache. Verbissenheit eine andere. Und so nimmt diese ungesunde Beziehung zwischen den beiden verkappten Männern unangenehme Ausmaße an, die The Stranger auch unangenehm für den Zuschauer werden lassen. In fröstelnder Nüchternheit und traumartiger Herumspinnerei entwickelt Thomas M. Wright eine auf den wahren Fall des 2003 verschwundenen Daniel Morcombe beruhenden Mystery-Thriller, bei welchem lange Zeit völlig unklar zu sein scheint, wessen Identität plausibel genug erscheint, um sie als wahr aufzufassen. Welche Vergangenheit gehört wohl wem? Manchmal scheint es, als würden Sean Harris und Edgerton die Rollen tauschen. Als hätte letzterer das ganze schon mal erlebt, und als wäre Harris nur ein Hirngespinst? The Stranger spielt mit dem Fremdartigen und Dunklen wie David Lynch, hat mitunter auch den Hang zum spukhaften Horror, der sich in Visionen manifestiert. Unwohlsein ist also Wrights oberste Devise in einem Werk, das genauso gut von David Michôd sein könnte, der mit dem postapokalyptischen Streifen The Rover zumindest noch die astralische Wüste als pittoreske Kulisse hochfuhr, wenn schon der Plot genauso finster war. Harris und Edgerton faszinieren – begegnen möchte man aber keinem von beiden, zu unberechenbar wäre die soziale Interaktion. Die beiden scheinen festzustecken in einem Katz- und Mausspiel auf engstem Raum, das Erwin Schrödinger wohl gerne in seiner Kiste veranstaltet hätte. Denn auch bei The Stranger ist das Licht, das auf den Film fällt, so schwach, dass es den Zustand der beiden Protagonisten nicht offenbaren kann. In dieser Atmosphäre ist der Thriller durchaus gelungen. Andererseits bleibt dieser ein sperriges, seltsames Ding. Und im Keller des Unterbewusstseins, da rumort es.

The Stranger

The Innocents

NEHMT DEN KINDERN DAS KOMMANDO

6,5/10


theinnocents© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: NORWEGEN, SCHWEDEN, DÄNEMARK, GROSSBRITANNIEN 2021

BUCH / REGIE: ESKIL VOGT

CAST: RAKEL LENORA FLØTTUM, ALVA BRYNSMO RAMSTAD, MINA YASMIN BREMSETH ASHEIM, SAM ASHRAF, MORTEN SVARTVEIT, KADRA YUSUF, LISA TØNNE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Schön, dass Kinder bereits in jungen Jahren ihrer Talente offenbaren. Da können Eltern gleich einhaken und mit dem Fördern beginnen, vorausgesetzt, der Nachwuchs legt wert darauf. In der Welt des fiktionalen Kinos gibt es aber schon seit jeher auch Fähigkeiten, die aus normalen Menschen letzten Endes Superhelden machen – oder die Geißel unserer Zivilisation. Das sind dann die klassischen Antagonisten, gegen die Superman, Batman oder die Avengers losziehen können – erwachsene Menschen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Die auch nicht nur ans Jetzt denken, sondern auch an all die Konsequenzen, die sie vom Zaun brechen, würden sie über die Stränge schlagen.

Alles beginnt aber mit dem juvenilen Entdecken der eigenen Skills. Und wir können froh sein – wirklich heilfroh sein, dass das, was es im norwegischen Horrordrama The Innocents zu sehen gibt, nicht wirklich passieren kann. Denn wenn doch, wären Kinder an der Macht, die die Welt, so wie wir sie kennen, abschaffen könnten. Da bliebe uns nur noch zu hoffen, dass jemand, der ähnliche Kräfte besitzt, als Menschenfreund durchgeht und ein gewisses gesundes Verständnis für Gerechtigkeit und das Gute hat. Im Science-Fiction-Thriller Brightburn passiert das genau nicht. Ein Junge mit extraterrestrischen Superkräften hat Spaß am Bösen, und das scheinbar grundlos. Die Macht über alle anderen ist das einzige, was ihn antreibt. Helden auf der guten Seite bleiben hier aus. Und auch eine Schule wie die von Professor Xavier gibt es nicht. Das wäre zumindest mal ein Ansatz, um all jene, die nicht wissen, wohin mit ihrer Kraft, im Umgang mit diesen zu unterrichten. In The New Mutants zum Beispiel fristen elternlose Teenager in einem ominösen Waisenhaus ihr Dasein zwischen imaginären Albträumen und ärztlicher Kontrolle. Doch auch als Teenager ist man schon einen Schritt weiter, um ein gesünderes Verständnis für den Umgang mit anderen zu haben als hier, in diesem eiskalten Kinderfilm, der die illustren Fähigkeiten sämtlicher Mutanten aus sämtlichen Comicserien nur belächeln kann. All das scheint wie ein Kindergeburtstag, während das echte Leben kleine Teufel gebiert, die Damien aus Das Omen das Wasser reichen können, ohne dabei aber auf den Leibhaftigen selbst zurückgreifen zu müssen.

The Innocents von Eskil Vogt, Drehbuchautor von Der schlimmste Mensch der Welt und Thelma von Joachim Trier, bleibt zumindest letzterem thematisch treu, begibt sich aber auf den unschönsten und unwirtlichsten Pfad, den man nur einschlagen kann, will man von paranormalen Fähigkeiten und deren Nutzern berichten, die noch weit davon entfernt sind, Verantwortung für sich und ihre Umwelt zu übernehmen. Dabei stoßen nicht alle Kinder, die hier zwischen den Wohnhäusern einer Siedlung nahe am Waldrand gemeinsam die Zeit verbringen, auf seltsame Veränderungen ihrer geistigen Motorik. Da gibt es Ida und ihre autistische ältere Schwester Anna, die keinerlei Worte artikulieren kann und nur so vor sich hin stöhnt. Da gibt es Aisha, die mit Anna, die über telekinetische Fähigkeiten verfügt, in mentaler Verbindung steht. Und da ist Ben, ein von den Eltern misshandelter, emotional verwahrloster Junge, der nicht nur ebenfalls die Kraft beherrscht, Gegenstände allein mit dem Willen zu bewegen, sondern eben auch Menschen dazu bringt, Dinge zu tun, die sie niemals tun würden. Anfangs scheint dieses Kuriosum allen Freude zu bereiten. Die Kids experimentieren und probieren, Autistin Anna blüht geradezu auf. Bis es zu einem tragischen Vorfall kommt, der daraus resultiert, dass Kinder auf dem Weg der Erkenntnis über sich selbst nicht allein gelassen werden können.

Die triste Wohnbausiedlung, erinnernd an Krysztof Kieslowskis Zehn-Gebote-Dekalogie, bietet den Schauplatz für einen garstigen und nahe an der Grenze zum Erträglichen ausgetragenen Krieg der Knöpfe. Hier ist das Phantastische so nahe an der schmerzlichen Realität wie möglich, und dennoch zeigt sich Vogt auf vertrauliche Weise fasziniert von der Wechselwirkung so mancher paranormaler Fähigkeiten, die manchmal auch zum humanistischen Benefit gereichen. Kinder, denen die weitreichende Bedeutung ihres Handelns selten bewusst ist, die im Jetzt existieren und im sozialen Überleben oder in emotionalem Chaos zu drastischen Mitteln greifen, sind mit Superkräften wie diesen nicht weniger gefährlich als bis an die Zähne bewaffnete Kindersoldaten in der Anarchie eines Dritteweltlandes. Nach Bennys Video von Michael Haneke ließ bislang selten ein Film den Notstand so verstörend widerhallen wie das unbequeme, hässliche Psychogramm kindlicher Sonderlinge, die im fröhlichen Spiel eines sonnigen Nachmittags den stillsten Showdown aller Zeiten entfesseln.

The Innocents

The House

DER ALBTRAUM VOM EIGENHEIM

8,5/10


thehouse_02© 2022 Netflix


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

REGIE: EMMA DE SWAEF & MARC ROELS, NIKI LINDROTH VON BAHR, PALOMA BAEZA

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL): MIA GOTH, CLAUDIE BLAKLEY, MATTHEW GOODE, MARK HEAP, MIRANDA RICHARDSON, STEPHANIE COLE, JARVIS COCKER, HELENA BONHAM CARTER U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Dieses Jahr ist nicht nur im Kino bereits reichlich beeindruckend. Netflix zieht mit, und hat einen Animationsfilm im Sortiment, der einem die Sprache verschlägt. Der Episodenreigen mit dem schlichten Titel The House feiert die gute alte Methode der Stop-Motion mit Puppen aus Filz und Fell, deren feine Fasern sich bei jeder Bewegung anders positionieren und der ganzen geschmeidigen Animation das gewisse rustikale Etwas aus den frühen Tagen des DDR-Sandmännchens verleihen. Mit The House bekommt Perfektionist Wes Anderson, der mit Isle of Dogs die Akkuratesse einer solchen Methode auf die Spitze getrieben hat, ernsthafte Konkurrenz. Und wenn man glaubt, mit diesem Trickfilm vergnügliche Familienunterhaltung zu verorten, irrt gewaltig. The House ist düster, beängstigend und so surreal wie seit David Lynch’s Traumgespinste selten ein Film. Dabei ist Dreh- und Angelpunkt dieser absurden Szenarien lediglich ein stattliches, neoklassizistisches Gebäude mit einem kleinen Türmchen in der Mitte, das einmal Menschen, einmal Mäuse und dann wieder Katzen beherbergt, die als klassische Tierfabelfiguren mit ihren eigenen vier Wänden in Clinch gehen.

In Geschichte Nummer 1, inszeniert vom belgischen Animationsduo Emma de Swaef & Marc Roels, schaut eine aus ärmlichen Verhältnissen stammende Familie einem geschenkten Gaul sicherlich nicht ins Maul, als sie in besagtes Haus einzieht. Doch besser, sie hätten es angesichts diverser obskurer Begebenheiten lieber doch gemacht. Geschichte Nr. 2, inszeniert vom Schweden Niki Lindroth von Bahr, lässt im selben Haus einen Mäuserich als Grundstücksmakler, der die Immobilie an die Maus bringen will, an seine Grenzen gehen. Denn die, die sich als einzige für dieses von Ungeziefern heimgesuchte Gemäuer interessieren, sind auch nicht das, was sie scheinen. Zu guter Letzt dann die wohl zuversichtlichste Anekdote von Paloma Baeza, die womöglich ihrer Liebe zu Katzen Tribut zollt. Denn da versucht eine miezende Hausherrin inmitten stetig steigenden Hochwassers all ihre Räumlichkeiten zu renovieren, um doch noch Mieter anzulocken. Womöglich vergeblich – oder doch nicht?

Häuser, die ein Eigenleben führen oder ihre Bewohner zur Verzweiflung treiben, gibt es viele in der Filmwelt. Erst kürzlich klapperten Giebel und Fensterläden in Disneys Encanto fröhlich vor sich hin. Doch Gotte behüte, wenn die Villa mal einen schlechten Tag hat wie zum Beispiel in Roman Polanskis Der Mieter. In Hinterholz 8 oder Geschenkt ist noch zu teuer sind Häuser der Granit, an dem sich motivierte Selfmen die Zähne ausbeißen. In diesen Gutenachtgeschichten hier führt es den Bewohner noch tiefer in die metaphysischen Eingeweide seltsam verwunschener Bauten und scheinbar eleganter Räumlichkeiten. In The House findet nichts eine Erklärung, verschwinden Räume und Treppen, krabbeln Käfer aus allen Ritzen, ist das Ende der Sesshaftigkeit nur bedingt ein neuer Anfang. In detailverliebter Ausstattung Marke Puppenküche und mit auf den ersten Blick zwar herzigen, aber letzten Endes befremdlichen Filzköpfen geraten die Gutgläubigen in einen Sog unheilbringender, höherer Mächte und erinnern an die bis zum großen Knall ausgearbeiteten Visionen eines Eugene Ionesco oder Gert Jonke, die die Sehnsucht nach dem bürgerlichen Wohlstand und heimeliger Glückseligkeit hinters Licht führen – dorthin, wo es finster genug ist, um sich auszumalen, was gar nicht sein kann.

Vor allem aufgrund dieser Rätselhaftigkeit der punktgenau ausformulierten Kurzgeschichten ist The House ein zauberhaft unbequemes Faszinosum, das gegen den Strom gefälliger Feelgood-Plots schwimmt und die Begrifflichkeit des Wohnens, gerade zur Zeiten der Pandemie wieder wichtig geworden, in schwarzgezeichnetem Wohlwollen für den Bewohner und seiner Psyche hinterfragt.

The House

Oxygen

ATMEN ALS WERTVOLLSTES GUT

7/10


oxygen© 2021 Netflix


LAND / JAHR: FRANKREICH, USA 2021

REGIE: ALEXANDRE AJA

CAST: MÉLANIE LAURENT, MATHIEU AMALRIC, MALIK ZIDI U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Zumindest verbraucht hier das Licht nicht den guten Sauerstoff – im Gegensatz zu Ryan Reynolds Feuerzeug in Buried – Lebend begraben. Dieses Licht hier in Oxygen, dem neuen Streifen von Horror-Spezialist Alexandre Aja (u. a. Crawl), ist kalt und klar und synthetisch. Die 20% an Sauerstoff, die gehören voll und ganz einer eben erst erwachten und ziemlich orientierungslosen Mélanie Laurent, die überhaupt keine Ahnung hat, wer sie ist, wo sie sich befindet und warum sich diese vermaledeite Cryokapsel (das zumindest weiß sie) einfach nicht öffnen lässt. Die vorerst Namenlose ist in einen organisch gewebten Overall gezwängt und hängt an diversen Schläuchen. Panik macht sich augenblicklichst breit – zum Glück gibt’s die recht kommunikative KI, die für diese High-Tech-Nussschale den Hausmeister gibt. Richtig viel Auskunft geben kann sie aber nicht, das Teil öffnen ebenso wenig – hierzu bräuchte es einen Administratorcode, welcher der frisch Erwachten mit Gedächtnis-Hangover partout nicht einfallen will. Vielleicht ist das auch besser so. Oder doch nicht? Nichts weiß man, nur, dass der Sauerstoff stetig zur Neige geht. Ein Umstand, der sich für den biologischen Apparat namens Mensch relativ ungesund auswirken könnte.

Klaustrophobiker sollten sich, wenn möglich, nicht auf die hier dargestellte Situation des Eingesperrtseins konzentrieren. Am besten wäre es, gemeinsam mit unserer bangenden Protagonistin tief durchzuatmen, ruhig auszuatmen, aber auch wiederum nicht zu viel zu atmen, sonst rutscht die Luftanzeige schneller nach unten als einem lieb ist. Vielleicht wäre es gut, sich auch auf etwas Schönes zu konzentrieren, so wie es unsere Unbekannte tut. Deren Erinnerungen sind vage, aber assoziative Eindrücke wie eingestreute Gegenlicht-Inserts von Wiesen und Baumkronen gibt es dennoch. Das macht die Situation etwas leichter. Wenn man in so einer Situation überhaupt Erleichterung schaffen kann. In seinem souverän beklemmenden, gut durchdachten Szenario lässt Alexandre Aja nämlich so gut wie nichts anbrennen. Mélanie Laurent allerdings auch nichts unversucht. Es kommt in Filmen ja selten vor, dass man als Zuseher der Meinung ist, genauso zu handeln wie die Heldin oder der Held – im Falle von Oxygen hätte ich persönlich nichts hinzuzufügen, denn unter Stress ist alles, was hier abgeht, durchaus plausibel. Nach dem Motto: Was geht, geht – was nicht geht, könnte funktionieren. So atmet und fuchtelt und telefoniert Laurent um ihr Leben, während Aja keinen Leerlauf zulässt. Auch dann nicht, nachdem die Katze aus dem Sack ist. Ich weiß schon, bei kleinen, dreckigen Independent-Filmen schüttelt man solche Twists gerne zum Grande Finale aus dem Ärmel – Oxygen findet seinen erhellenden Peak allerdings schon viel früher. Was aber nicht heissen soll, die Luft wäre dann draußen. Stattdessen bekommt Aja erstaunlich gut die Kurve und baut seinen kleinen, subversiven High-Tech vs. Biomasse-Thriller ganz plötzlich zu so etwas ähnlichem aus wie epischer Science Fiction.

Oxygen

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

NÄCHSTER HALT: IRRENANSTALT

5/10

 

obskur_zugreisender© 2020 Neue Visionen

 

LAND: SPANIEN 2020

REGIE: ARITZ MORENO

CAST: LUIS TOSAR, PILAR CASTRO, ERNESTO ALTERIO, QUIM GUTIÉRREZ, BELÉN CUESTA, MACARENA GARĆIA U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN

 

Vorsicht ist die Mutter der Eintrittskarten für diesen Film. Dessen Titel führt nämlich in die Irre, denn Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden könnten natürlich so etwas sein wie all die verschroben-phantasievollen Begebenheiten, die einer Amelie passiert sind. Oder er erinnert vielleicht an die poetischen Filme eines Veit Helmer, wie zum Beispiel an den Lokführer, der die liebe suchte. Dem Trailer nach ja, dem Trailer nach könnte der Film eine etwas deftigere Version, aber eine Version von so etwas sein, wenn schrullige Anekdoten von der Skurrilität des Lebens erzählen.

Dem ist nicht so. Regisseur Aritz Moreno führt sein Publikum in seinem spanischen Episodenfilm schlichtweg in menschliche Abgründe. Wer da nicht drauf vorbereitet ist, könnte schon in der ersten Episode, die da heißt „Eine trügerische Hochzeit“ (warum, weiß keiner) leicht verstört mit dem Gedanken spielen, das Kino zu verlassen.

Alles beginnt mit einer wie der Titel schon sagt Zugfahrt, während jener ein Psychiater seinem Vis a vis von unglaublichen Geschichten aus den Erinnerungen seiner Patienten berichtet. Die sind entweder schizophren oder paranoid oder haben sonst irgendeine schwerwiegende Psychose. Erzählt wird zum Beispiel von einem Soldaten im Kosovo (voller Spielfreude: Luis Tosar), der kriegsversehrt vom Einsatz heimkehrt, sichtlich gezeichnet, und wiederum von einem dubiosen Handel mit Waisenkindern beichtet, die für Schreckliches missbraucht werden. Das will natürlich niemand sehen, ich jedenfalls nicht, doch sobald einem klar wird, dass es die Treppen abwärts geht in die Finsternis, kommt man irgendwie nicht mehr aus. Zum Glück ist das nicht die einzige Geschichte. Da gibt’s noch die mit dem Hundebesitzer, dessen Freundin immer mehr zum Vierbeiner werden muss. Perverse sexuelle Abgründe? Jawohl – und um nichts bequemer! Und wie ist das mit der Müll-Verschwörung? Zeitgemäßer geht´s kaum. Angesichts dieser Geschichten ist der Mensch selbst die Wurzel allen Übels, dessen Überforderung den Geisteskranken ins Gesicht geschrieben steht.

Angekündigt und kommentiert wurden Die obskuren Geschichten des Zugreisenden damit, den Surrealismus im Kino wiederentdeckt zu haben. Luis Bunuel wurde erwähnt. Allerdings auch nur, weil der Meister des Surrealen selbst das Wort „obskur“ in einem seiner Filme hatte. Sonst ist an Morenos Reigen des Irrsinns nichts surreal, und das ist eigentlich das Erschreckende daran. Dem Menschen wäre all dies zuzutrauen, und tatsächlich passieren womöglich Dinge, die den Film geradezu alt aussehen lassen, obwohl mir das schon reicht. Den Inhalt aus Ulrich Seidls Hundstage wollte ich auch nicht kennenlernen, und tatsächlich haben beide Episodenfilme gewisse ähnliche Eigenschaften. Seidls wie auch Morenos Film schildern auf zynische Weise den Dreck unter den Fingernägeln menschlichen Überschnappens, und beide entwickeln eine Faszination für das Abnormale. Dabei sind Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden immerhin von einer farbsatten, üppigen Ästhetik, wie man es aus Filmen eines Jean-Pierre Jeunet gewohnt war, wie zum Beispiel aus Delicatessen oder Micmacs. Trotz dieser erlesenen Bildsprache ist dieser Film nichts für angenehme Kinostunden. Im Gegenteil: auch bei all dieser überzeichneten Lust am puppentheatralischen Wahnsinn einer Freakshow bleibt ein ganz mieses Gefühl.

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden