Under the Skin (2013)

DIE FRAU, DIE VOM HIMMEL FIEL

8,5/10


under-the-skin© 2013 Senator Home Entertainment


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2013

REGIE: JONATHAN GLAZER

DREHBUCH: JONATHAN GLAZER, WALTER CAMPBELL, NACH DEM ROMAN „DIE WELTENWANDERIN“ VON MICHEL FABER

CAST: SCARLETT JOHANSSON, JOE SZULA, KRYŠTOF HÁDEK, ADAM PEARSON, PAUL BRANNIGAN, MICHAEL MORELAND, GERRY GOODFELLOW, DAVE ACTON U. A.

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Der neue Film des Briten stürmt gerade eben die Nominierungslisten der Oscar-Academy: The Zone of Interest. Mit diesem verstörenden Perspektivwechsel auf den vergnüglichen Alltag einer nationalsozialistischen Vorzeigefamilie, die am Rande des Konzentrationslagers Auschwitz ihre Zelte aufgeschlagen hat, mag Jonathan Glazer in seinem erst vierten Spielfilm dem Subgenre des Holocaust-Films neue Aspekte hinzufügen. Nicht all die Opfer würden diesmal für Betroffenheit sorgen, sondern die mit dem Blut an den Händen. Dabei mag am meisten verstören, dass die Identifikationsfiguren diesmal gänzlich fehlen, die glückliche Familie in Braun aber wie der teufel in der Wüste sämtliche Schienen legen möge, um hineinzufinden in einen Alltag, der uns auf unheimliche Weise vertraut vorkommen mag.

Diesem Sichtwechsel, dieses Umstülpen einer narrativen Ordnung, lässt Glazer auch in seinem zehn Jahre zurückliegenden letzten Film alle möglichen Freiheiten, um sich auszutoben. Under the Skin ist Science-Fiction, wie man sie noch nicht gesehen hat. Wie man sie womöglich auch niemals wieder sehen wird. Und die eine diebische Freude daran hat, nichts erklären zu müssen. Im hoch budgetierten Studiofilm wäre so etwas undenkbar, viel zu unorthodox und um Gottes Willen kein bisschen massentauglich. Gut so, denn in dieser Unabhängigkeit eines Künstlers liegen jene Motoren, die die kreative Evolution im Film weitertreiben und nicht auf der Stelle treten lassen, wie es derzeit im Comicfilm zum Problem wurde. Under the Skin ignoriert Schablonen, Versatzstücke und gängiges Vokabular. Es scheint, als erfinde es eine neue, erzählerische Sprache, wie klingonisch oder elbisch – dafür aber in Bildern und einer gegen die Wuchsrichtung gebürsteten Anordnung. Mittendrin in dieser wortkargen Versuchsanordnung einer urbanen Alien-Ballade findet sich jemand, der längst im großen Studiofilm Furore gemacht hat: Scarlett Johansson. Ein Skript wie dieses ausschlagen? Gerade in solchen mutigen Werken liegt die eigentliche Freude am Schauspielern, wenn einem erlaubt scheint, den ganzen Star-Glimmer abzulegen, um die Mutprobe eines ungefälligen Kunststückes zu wagen, das Under the Skin klarerweise darstellt.

Wie schon David Bowie als vom Himmel gefallener humanoider Alien, der dem Mammon und sonstigen menschlichen Versuchungen erliegt, ist Scarlett Johansson ein ähnlich extraterrestrischer Besucher (oder Besucherin, ganz genau weiß man das nicht), der in Gestalt einer attraktiven Frau allerlei Männer anbaggert, diese nachhause abschleppt, seinem Willen unterwirft und in eine schwarze, ölige Flüssigkeit taucht. Dieses Innere der Wohnung ist ein Ort der undurchdringlichen Schwärze, während der Boden zwar nicht für das Alien, für den Menschen aber zu Treibsand wird. In diesem surrealen Nirgendwo möchte man selbst tunlichst nicht vorbeisehen müssen, es ist wie das Tor in eine andere Welt, die gefühlskalt und erbarmungslos als eine übergeordnete Entität dem Dasein des Mannes den Albtraum seiner Vergänglichkeit bereitet. Irgendwann jedoch findet Johanssons aparte Figur Gefallen an dieser Welt, an den Wesen, vor allem an einem unter Neurofibromatose erkrankten jungen Mann (Adam Pearson, A Different Man), der so anders aussieht als alle anderen. Der so anders empfindet, sich anders verhält, der selbst wie ein Alien fremd und ausgestoßen bleibt. Diese Gemeinsamkeit bringt Johansson zum Umdenken. Und in höchste Gefahr.

Was Jonathan Glazer aus dieser allen Gewohnheiten entkoppelten Geschichte macht, grenzt an Horizonterweiterung. Die Kunst der Reduktion, des Nicht-Erklären-Wollens, des Assoziierens und Nachempfindens weniger karger, uns bekannter Verhaltensmuster macht Under the Skin zu einer geheimnisvollen Begegnung mit einer dritten Art, schafft aber gleichermaßen die Studie einer Menschwerdung, angereichert mit humanistischen Überlegungen und die Hinterfragung von Akzeptanz und Würde. Glazers Film ist einer, in dem man sich fallen lassen muss, bei dem es sich lohnt, nichts ergänzen oder analysieren zu wollen. Den man auditiv und visuell erfahren kann, so, als würde man seinen von der Sonne bestrahlten und erhitzten Kopf in kühles Wasser tauchen. Dieser Sinneseindruck, der dabei entsteht, lässt sich mit Under the Skin vergleichen. Was man dann sieht, ist nichts, womit man rechnen wird. Und dann ist da diese seltsame Verstörung zwischen den Bildern, die keine Metaebenen preisgeben, und diese Poesie des Schmerzes, den eine Lebensform empfindet, die sich dem Mysteriösen eines Abenteuers stellt und die Frage aufwirft: Was ist der Mensch, und was ist er nicht?

Under the Skin (2013)

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

SKLAVENTREIBEN IN BUKAREST

5,5/10


erwartenichtzuviel© 2023 Mubi


LAND / JAHR: RUMÄNIEN, KROATIEN, FRANKREICH, LUXEMBURG 2023

REGIE / DREHBUCH: RADU JUDE

CAST: ILINCA MANOLACHE, NINA HOSS, KATIA PASCARIU, SOFIA NICOLAESCU, UWE BOLL, LÁSZLÓ MISKE, OVIDIU PÎRSAN, DORINA LAZAR, ALEX M. DASCALU U. A.

LÄNGE: 2 STD 43 MIN


Immer wieder ruft die Europäische Union bei ihr an, Beethovens Ode an die Freude tönt als elektronische Quietschtonleiter aus dem Smartphone von Angela, die als völlig übermüdete Produktionsassistentin und eierlegende Wollmilchsau eines österreichischen „Schlampenvereins“ von Pontius zu Pilatus fährt, um ihre Tagesagenda zu erledigen. Um kurz vor sieben aus dem Bett zu steigen, klingt zwar nicht nach gottlos früh, doch Angela kommt wie Landvermesser K. aus Kafkas Das Schloss nicht zur Ruhe. Obszöne Akkordarbeit bringt sie dazu, in ähnlich obszöner Weise auf Social-Media alles und jeden in den Dreck zu ziehen, vorwiegend in vulgärem Gossenton und von Fellatio bis zum Cunnilingus sexuelle Verdorbenheit nicht nur den neuen britischen König angedeihen lässt, sondern auch diverse Mütter, Väter und sowieso der ganze Rest. Als rumänischer Borat mit Gesichtsfilter macht sie ihrer wütenden Ohnmacht freien Lauf. Hätte sie dieses Ventil nicht, wäre sie womöglich längst Amok gelaufen.

Stattdessen beweist sie zumindest so viel Zähigkeit und Durchhaltevermögen, um die Opfer diverser Arbeitsunfälle abzuklappern und diese für einen Werbefilm als Testimonials für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz zu gewinnen. Dass dabei unbezahlte Überstunden, Übermüdung, mangelnde Infrastruktur und Missstände in der Arbeitssicherheit im eigentlichen dafür schuld sind, dass manche von denen nicht mehr aufrecht stehen können, ist ein Umstand, den der westeuropäische Konzern unter den Teppich kehren will. Schnell wird klar: Radu Jude kritisiert in seinem neuen, massiv überlangen Streifen Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt jene Mitgliedstaaten der EU, die genug Einfluss, Macht und Geld besitzen, um den ehemaligen Ostblock nach Strich und Faden auf den Kopf zu scheißen.

Das Outsourcing in Billigländer ist leistbar und ungefährlich, für jene, die anschaffen, denn Kontrolle gibt es keine, Beschwerdestellen ebenso wenig und die Lust an der Ausbeutung einfach zu groß, um sich ihr nicht hinzugeben. Das ist harter Stoff, wenn Radu Jude auch gewillt gewesen wäre, nicht nur Ilinca Manolache als Mädchen für Alles beim Autofahren zuzusehen, während sie Kaugummi kaut und die Welt beschimpft. Der Tag im Leben dieser Angela, die eine Seelenverwandte aus den Achtzigern zu haben scheint, die ebenfalls Angela heisst und auf naiver Retro-Schiene in ihrem Taxi herumkurvt, um konservative Sexisten zu kutschieren, ist fast schon als Roadmovie zu verfolgen, während die Kamera unbeirrt und in grobkörnigem Schwarzweiß dem rechten Profil der Ausgepowerten folgt. Viel passiert nicht dabei, selbst die Schimpftiraden sind lediglich ein trivialer Ausdruck für allerlei Missstände, die es überall auf der Welt genauso gibt, die nicht unbedingt typisch rumänisch sind, sondern alle Länder betreffen, die vom Kapitalkolonialismus unterwandert und kaputtgemacht worden sind. Sudabeh Mortezai lässt in ihrem Film Europa Ähnliches an die Oberfläche sickern. Konventioneller zwar, doch weniger ausufernd.

Früher war alles besser, so scheint uns Radu Jude sagen zu wollen, früher war Bukarest noch das Märchen einer Taxi Driver-Romanze, frei von Feminismus und sonstigem woken Zeugs, überladen mit billigem Schlagerscore und irritierend nostalgisch. Dass Radu seine Sequenzen dann plötzlich ausbremst, als wäre der Vorführapparat defekt, gäbe es noch analoge Filmspulen, mag verwundern und sich auch im Kontext zum restlichen Film zumindest für mich nicht erklären. Die abrupte Schnitttechnik ist Radus Stil, das disharmonische Timing seiner Szenen ganz bewusst angewandt. Wenn dieser dann der gefährlichsten Straße Rumäniens seinen Respekt zollt und sein Publikum aus dem Flow reißt, ist auch das eine bewusste Disharmonie, die allerdings nirgendwo offensichtlich hinführen soll. Am Ende lässt Jude die Kamera in einer gefühlt ewigen Plansequenz laufen, Dialoge der Schauspieler aus dem Off sind das bisschen Salz in der Suppe, während alles andere handzahm bleibt, wenig Biss hat, einfach nicht ans Eingemachte gehen will, wie bei seinem Vorgänger Bad Luck Banging or Loony Porn. Als garstige Satire auf die Scheinheiligkeit rumänischer Biedermänner- und frauen kann die wild fabulierende und nicht weniger avantgardistische Groteske überzeugen – der Sarkasmus zur Arbeitslage der Nation hingegen kokettiert kaum mit Kuriositäten und bringt lediglich Widersprüche aufs Tapet, die im Kapitalismus nicht nur in Rumänien gang und gäbe sind.

Warum so kleinlaut, Radu Jude? Dass sich Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt mehr zum Experiment als zum treffsicheren Statement mausert, tut der Faszination für völlig unorthodoxes Anarcho-Kino, das keinem Regelwerk mehr folgt, keinen Abbruch. Trotz der satten Laufzeit von über 160 Minuten sind Radus Tagesbetrachtungen zwar schwachbrüstig, aber niemals langweilig. Vielleicht, weil das Überrumpeln von Sehgewohnheiten in diesem Werk letztlich alles ist. Der Rest nur Allerwelts-Ambition.

Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt (2023)

LOLA (2022)

DAS VERSCHWINDEN DES DAVID BOWIE

7,5/10


LOLA© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: IRLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 2022

REGIE: ANDREW LEGGE

DREHBUCH: ANDREW LEGGE, ANGELI MACFARLANE

CAST: STEFANIE MARTINI, EMMA APPLETON, RORY FLECK-BYRNE, HUGH O’CONOR, AYVIANNA SNOW, AARON MONAGHAN, NICK DUNNING U. A.

LÄNGE: 1 STD 19 MIN


Gerade sieht es so aus, als würde sich die Geschichte wiederholen. Überall auf dem Planeten erstarren die rechten Lager, in Spanien wird bereits Kunst und Kultur zensiert, Europas Möchtegern-Faschisten werfen mit Begriffen wie Remigration um sich und nutzen die beschränkte Weltsicht der Bevölkerung, um diese mit Schlüsselwörtern zu ködern. Sind sie mal an der Macht, ist es zu spät. Die Anzeichen will keiner so recht bemerken, also währet den Anfängen, kann man an dieser Stelle nur sagen, wenn Freiheit und Menschenrechte die eigenen Werte anführen.

Wie immer bleibt zu wundern, wie sehr man sich täuschen kann. Und was alles möglich ist. Um Freiheit geht es im Ringen ums Dasein immer, und wären die Parameter nicht so gesetzt gewesen, wie sie letztlich zum Einsatz kamen, hätten wir eine Welt, die sich einer wie Phillip K. Dick bereits in seinem als Serie verfilmten Roman Das Orakel vom Berge zwischen Drogen und Paranoia ausgemalt hat: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten rund um den Erdball, insbesondere der Vereinigten Staaten. Eine Horrorvorstellung, die beklemmender nicht sein könnte. Ist die USA einmal unter der Fuchtel faschistoider Regenten, wäre Europa dies ebenso. Das Gefühl, jene Orte, an denen noch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit praktische Anwendung finden, immer mehr zusammenschrumpfen zu sehen, wird durch das irisch-britische Was-wäre-wenn-Szenario LOLA noch extra unterstützt. Als ob dies dringend nötig wäre, um die Hände vors Gesicht zu schlagen. Andererseits ist Andrew Legges Found Footage-Juwel eine deutliche Warnung davor, die entsprechenden Signale zu übersehen. Und die Aufforderung, sich selbst mal zu fragen, ob eine totalitäre Welt aus Strafen, Zensur und Unterdrückung wirklich das ist, was es zu wählen gilt.

Einen Film wie LOLA, den haben leider Gottes ohnehin nur Zuseher auf dem Radar, die bereits aufgeschlossen und tolerant genug sind für alles, was sie umgibt. Die innovative Zugänge zu brisanten Themen ebenso schätzen wie Nonkonformismus. Und die mit Philipp K. Dick, Science-Fiction und alternativen Realitäten so einiges anfangen können. Als Zeitreisefilm geht LOLA nur bedingt durch – viel mehr gewährt das nach der Mutter der beiden Schwestern Martha und Thomasina Hanbury benannte Orakel einen Blick in die mediale Zukunft der Welt. Mit diesem obskuren Konstrukt, das beide für den guten Zweck einzusetzen gedenken, lässt sich während des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1941, als die deutsche Luftwaffe England heimsucht, etliche Leben retten. Als Engel von Portobello gehen die Schwestern in die alternative Geschichte ein. Und die Geschichte selbst erfährt ihre Veränderung, weicht ab von dem, so wie wir es kennen. Und führt dazu, dass das britische Militär Wind davon bekommt.

Klar lässt sich so ein Ding wie LOLA dazu nutzen, dem Feind immer einen Schritt voraus zu sein. All die Offiziere, Generäle und sonstigen Rangträger hätten wohl gut daran getan, sich zuallererst den Ausgang des Krieges vorhersagen zu lassen. Dann hätten sie gewusst, dass sich der Widerstand gelohnt haben, dass die Welt nicht dem Faschismus anheimfallen und eine liberale Ordnung Einzug halten wird. Doch der Wille, den Krieg gewinnbringend im Fokus zu behalten, führt letztlich zum Gegenteil. Was dann passiert, schnürt einem die Kehle zu. Wenn über den Dächern Londons  Hakenkreuzfahnen wehen und Hitler durch die Straßen der Stadt fährt. Wenn plötzlich David Bowie nicht mehr existiert, kein Bob Dylan oder Stanley Kubrick die Musik- und Filmwelt der kommenden Dekaden bereichern, stattdessen aber faschistoide Popmusik wummert, die so klingt, als wäre sie doch irgendwie von Bowie oder Elton John, es aber nicht ist, und wenn man genauer hinhört, in ihren Lyrics das Grauen heraufbeschwört, ist der Orwell‘sche Albtraum komplett.

Andrew Legge nutzt dabei die bereits etwas abgenutzte Stilmittel des Found Footage und schafft etwas vollkommen Neues. Das genreübergreifende, experimentelle Stückwerk aus Super 8-Tonfilmfragmenten, Standbildern und Archivmaterial, das eine alternative Wahrheit täuschend echt nachahmt, ist längst nicht nur eine Mockumentary, die das Spiel mit dem Determinismus variiert, sondern dazu noch eine glaubhaft dargebotene Dreiecksgeschichte mit einbezieht – und das, obwohl LOLA nur knappe 80 Minuten dauert. Trotz dieser Laufzeit entfaltet sich ein geradezu episches Drama voller Wendungen und lässt als prophetischer Thriller das Prinzip Verantwortung als Schlüssel zum Guten erkennen.

LOLA (2022)

Mad God (2021)

DES HANDWERKERS INFERNO

9/10


madgod© 2021 Tippett Sudios Inc.


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE / DREHBUCH / PRODUKTION: PHIL TIPPETT

MUSIK: DAN WOOL

LIVE ACT CAST: ALEX COX, NIKETA ROMAN, SATISH RATAKONDA, HARPER & BRYNN TAYLOR U. A.

LÄNGE: 1 STD 23 MIN


Hier bracht es keinen Ring, um sie zu knechten, um sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden. Es reicht ein über Leichen gehender Fortschritt, die gnadenlose Industrialisierung und technologische Übermannung arg- und ahnungsloser Seelen, die manipuliert und gehirngewaschen werden für die Gier der Wenigen. In dieser ungebändigten Geister- und Grottenbahnfahrt in die Tiefe des Menschenverstands ist ein sogenannter Sauron – wenn wir schon bei Tolkien bleiben wollen – die Summe vieler Teile, eine intrinsisch entstandene, gestaltlose Aura, die als Deus ex Machina eine Maschinenwelt antreibt, die die Gekechteten vor sich hertreibt. Es wird düster, in Phil Tippetts Opus Magnum, an dem er rund 30 Jahre lang, natürlich mit Pausen, gearbeitet hat. Immer wieder kamen andere Projekte dazwischen, darunter auch Steven Spielbergs Jurassic Park. Doch vor 30 Jahren, da waren die goldenen Jahre für den Gott der Stop-Motion schon vorbei. Vor 30 Jahren, da kam eben genannter Dino-Blockbuster ins Kino und läutete das Zeitalter der computeranimierten Special Effects ein – die größte Niederlage für einen Analogkünstler wie Tippett, einem akribischen und von seiner Leidenschaft fürs Kreative besessenen Meisterklassler, der seine liebevoll geformten Dinosauriermodelle nun anderswo aufstellen durfte, nur nicht vor der Kamera. Phil Tippett – er ist schließlich ein Begriff für all jene, die mit der Originaltrilogie von Star Wars groß geworden sind. Für all jene, die niemals vergessen können, wie es sich angefühlt hat, als Luke Skywalker auf seinem Tauntaun über die Eiswüste von Hoth galoppiert war, die vierbeinigen AT-ATs angegriffen haben oder das Rancor-Monster in Jabbas Grube zum Angriff überging. Tippett und das Team von Industrial Light & Magic waren es auch, welche die Effekte für Polstergeist oder Ghostbusters kreierten – im Grunde so gut wie alles, was damals an Phantastischem auf die Leinwand kommen sollte. Bis heute hat Tippett die Freude am Reiz der Stop-Motion nicht verloren. Aus Liebe zu seiner Arbeit, als devotes Geständnis und hingebungsvolle Verbeugung vor dem, was ohne CGI alles möglich ist; aus Liebe zu allem Monströsen in unseren Köpfen entstand das hier: Mad God – ein elektrisierendes Unikum, ein bizarres Denkmal, ein so wunderschönes wie erschreckendes filmisches Evangelium über den Albtraum der Neuzeit.

Es reicht nicht, Mad God einfach nur zu sehen und dabei vielleicht völlig unsinnigerweise darauf zu achten, Distanz zu wahren. Mad God muss man erfahren, man muss sich ihm hingeben und vor allen Dingen: sich darauf einlassen, ohne groß mitzudenken oder während des Erfahrens herausfinden zu wollen, was uns diese finstere Oper eigentlich sagen will. Dass es etwas zu vermitteln gibt, scheint immer wieder mal klar, doch dann auch wieder nicht. Dann stößt uns Tippett noch viel tiefer in Dantes technologisierte Hölle, es geht nach unten, immer nur nach unten.

Einer, der sich The Assassin nennt – ein Krieger mit Atemmaske, Stahlhelm und einem Koffer – steckt in einer Kapsel, die an den Schichten der Erdzeitalter vorbeikommt, durch eine riesige Kaverne aus allen möglichen, von Menschen erdachten Gottheiten, an gequälten und quälenden Ungeheuern und eigentümlichen Wesen, die, in ihrem Tun gefangen, ihre Ausweglosigkeit grunzend, schreiend oder in unverständlichem Gebrabbel in die Düsternis zetern. Dieser Krieger hat eine Mission. Doch er beobachtet erstmal nur, wartet auf den richtigen Zeitpunkt. Kann vielleicht selbst nicht fassen, was er sieht oder sehen muss. Gigantische Kreaturen unter Strom gebären die Masse, aus der wie von Prometheus aus Lehm geformte Humanoide entstehen, die als schuftende Sklaven meist mit grausamen Toden bestraft werden oder Unfällen zum Opfer fallen, wenn kubrick’sche Monolithen in Kopfhöhe dahinrasen.

Leicht könnte man sich einen von Pink Floyd ersonnenen Score dazu vorstellen, eingestreut deren Klassiker We don’t need no Education. Symbolsprache und Zitate aus Klassikern fantastischer Literatur häufen sich. Später erinnert so manches ans abgründig Surreale eines Michael Ende (Der Spiegel im Siegel), wenn ein entstellter Zwerg das kreischende Monsterbaby aus David Lynch’s Eraserhead entgegennimmt, um dieses seiner Bestimmung zuzuführen. Nebenher prügeln sich zwei Oger und vernachlässigen dabei ihre Arbeit, denn sie müssen schaufeln, schuften, arbeiten, werden mit Elektroschocks gequält, um dann wieder aufeinander einzudreschen, weil Triebe immer noch stärker sind als der Gehorsam. Michael Ende hätte diese surreale Welt wohl gemocht, er hätte sich und seine Kreaturen darin wiedergefunden. Doch auch das ist nicht alles. Mad God bricht all die verrückten Götter, die der Mensch seit dem Holozän errichtet hat, auf eine entfesselte Phantasmagorie herunter, ausgestattet mit enormem Detailreichtum und einer Soundkulisse, die den Wahnsinn aus unzähligen Miniaturen und Modellen so richtig zum Leben erweckt. Sogar Live-Act als ergänzendes Tool findet in diesem Experimentalfilm seine Notwendigkeit, wenn ein klauenbewährter Magier, erinnernd an Terry Gilliams Visionen, seine Krieger ausschickt, um den Kreislauf der immerwährenden Knechtschaft zu durchbrechen.

Mal ist Mad God psychedelischer Experimentalfilm, mal blutrünstiger Horror aus der Puppenstube, dann wieder Steampunk mit Schlachtenszenarien aus dem ersten Weltkrieg, Schläuchen und Sekreten, Flüssigkeiten und organischem, undefinierbaren Leben, das sich irgendwo und irgendwie räkelt, dabei aus vielerlei Augen beobachtet wird, als Symbole des Erkennens und Wahrnehmens prekärer Umstände. Dann ist Mad God wieder wunderschön und berauschend, und ganz plötzlich nachdenklich, philosophisch, an Terrence Malicks Tree of Life und seinen Darstellungen von den Anfängen des Lebens erinnernd. Tippett taucht dann ein ins Universum, distanziert sich von dem Wahnsinn aus Monstern, Mutanten und grimmigen Gutenachtgeschichten mit Trauma-Garantie. Mad God erklärt mehr, als man vermuten würde. Krallt sich den auseinanderdriftenden roten Faden eines Fiebertraums und biegt ihn, nicht mit Gewalt, aber mit dem Willen, seine Komposition einer Conclusio zuzuführen, zu einer Endfrage über Leben und Sterben, über Anfang, Ende und Bestimmung zusammen.

Phil Tippetts dreißig Jahre Arbeit haben sich ausgezahlt. Sowas entsteht, wenn man machen kann, was man will. Dieses Werk ist ein Erlebnis, ein wilder Ritt für die Mutigen, für alle Freunde des Phantastischen, die überrascht und überwältigt werden wollen. Die Stop-Motion lieben und neben Aardman, Laika und dem tschechischen Trickfilm-Virtuosen Jan Svankmajer (u. a. Little Otik) noch einen anderen Weg out of the box finden wollen. Dieser führt eben durch die Finsternis, womöglich aber ans Licht.

Mad God (2021)

Human Flowers of Flesh (2022)

IM UND AM UND UMS MEER HERUM

6,5/10


humanflowersofflesh© 2022 Grandfilm


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, FRANKREICH 2022

REGIE / DREHBUCH: HELENA WITTMANN

CAST: ANGELIKI PAPOULIA, VLADIMIR VULEVIĆ, MAURO SOARES, GUSTAVO DE MATTOS, FERHAT MOUHALI, STEFFEN DANEK, DENIS LAVANT U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Darauf muss man sich einlassen, darin muss man eintauchen wollen, denn fast ist es so, als ob einen selbst während der Sichtung dieses Films die Gewissheit ereilt, nicht schwimmen zu können. Haltlos geht man unter, denn Halt bietet das Kunstwerk hier keinen. Worum sich die Schiffreise genau dreht, was Ida (Angeliki Papoulia) eigentlich will und in welchem Verhältnis sie zu den fünf auf ihrem Schiff befindlichen Männern steht, die von überall aus der Welt herangereist sind: Helena Wittmann wird uns darüber wohl niemals aufklären. Wie also einen Film sehen, der ganz bewusst ins Meer hinaustreibt, als wäre die Strömung der einzige rote Faden in dieser kryptischen Geschichte, die nicht mal eine sein will. Viel lieber starrt Wittmann aufs Meer hinaus, auf die Gezeitenzone hin, wenn sich Schaumkronen bilden, darunter verschiedenfarbiges Blau bis hin zu Aquamarin oder gar Hellgrün. Das Wasser hat in Human Flowers of Flesh eine hypnotische Wirkung und scheinbar minutenlang wendet sich die Kamera nicht davon ab. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als in dieses unbezwingbare Element so lange hineinzusehen wie in Nietzsches Abgrund, der sich folglich im Betrachter selbst verliert.

Schließlich muss auch mal klar sein, worauf man sich einlassen will. Doch wie erkennen, ob ein Film wie dieser, der allen gängigen Erzählweisen entgegenläuft und all die Lehrbücher, in denen geschrieben steht, wie sich Filme dramaturgisch aufbauen müssen, über Bord wirft, die ganze aufgebrachte Geduld überhaupt lohnt. Human Flowers of Flesh ist am Ende des Sommers ein Werk, das mit seinen ersten Sequenzen zumindest nochmal an die mediterrane Küste einlädt – zu Sonne, Zikadenzirpen und eben an das wunderbar (be)rauschende Meer. Doch schnell kann’s gehen und nach der langsamen Einführung ins Geschehen, auf welche wiederum kein Geschehen in klassischem Sinne folgt, möge die Einsicht dämmern, einer künstlerischen, aber unerhört langweiligen Reise beizuwohnen, deren zentrale Figur, nämlich Ida, im ganzen Film nicht mehr spricht als vielleicht, wenn’s hochkommt, drei Sätze. Wortlos bleiben auch die meisten hier, all die fünf Männer, die man anfangs schwer auseinanderhalten kann, weil sie sich eben durch nichts, was sie tun, voneinander unterscheiden. Später steht der eine am Steuerrad, während der andere die Halterung fürs Tau putzt. Wieder ein anderer starrt so wie wir stoisch aufs Meer, während ihm später im Beisein des Publikums die Augen zufallen vor lauter Monotonie an Bord eines Seglers, der nicht mal einen Namen trägt – zumindest wir erfahren ihn nicht.

Angeblich soll die Reise bis nach Algerien gehen, mit Zwischenstopp auf Korsika. Erfahren lässt sich dies nur, wenn man ganz genau aufpasst, alles andere bleibt ein Geheimnis. Irgendwie hat die Reise auch mit der Fremdenlegion zu tun, mit Sidi Bel Abbès, dem Zentrum für jene, die bei glühender Hitze und besungen von Freddy Quinn durch ihre zwangsläufig heißgeliebte Wüste stolpern. Die Ferne, die Weite – beides Metaphern in Helena Wittmanns Biotop der Eindrücke. Je länger die Reise andauert, umso mehr verliert sie sich in Tagträumen, thalassophobischen Reizbildern, gluckernden Klanginstallationen und dem mikroskopischen Treiben von Plankton. Dann wieder der lange Blick auf ruhelose Seelen, die blicken. Die sich nichts zu sagen haben, die Briefe schreiben mit Gedichten anderer.

So ungehörig abstrakt und jenseits jeglicher Normen sind unter anderem auch die Werke des Thailänders Apichatpong Weerasethakul. Doch dieser hat für seine metaphysischen Tableaus immerhin noch eine lose, aber durchaus zusammenhängende Geschichte, deren Elemente verändert und kryptisch, aber dennoch wiederkehren. Human Flowers of Flesh verzichtet fast gänzlich auf ein Narrativ und lockt ausschließlich Assoziationen aus des Zusehers Reserve. Leicht kann es passieren, dass man sich Wittmanns Idee vom Reisen übers Meer nicht hingeben will, doch dann passieren seltsame Dinge – genau so, als würde man sich wegdenken, auf einer Fahrt der Sonne entgegen, wo Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen, und der Mensch durchs Reisen viel näher an seinen Ursprung gelangt als auf andere Art.

Human Flowers of Flesh (2022)

EO

DEN MENSCHEN (ER)TRAGEN

5/10


EO© 2022 Rapid Eye Movies


LAND / JAHR: POLEN, ITALIEN 2022

REGIE: JERZY SKOLIMOWSKI

BUCH: JERZY SKOLIMOWSKI, EWA PIASKOWSKA

CAST: SECHS HAUSESEL, SANDRA DRZYMALSKA, LORENZO ZURZOLO, MATEUSZ KOŚCIUKIEWICZ, ISABELLE HUPPERT U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Die Sklaverei scheint abgeschafft? Nicht bei den Tieren. Alles, was auf vier Beinen steht, sich nutzen lässt und Mammon lukriert, dabei kein Wort zustande bringt, um sich mitzuteilen, sondern nur gutturale Laute von sich gibt, vom Grunzen bis zum Wiehern, ist uns Menschen gerade mal gut genug, um es auszunutzen. In so manchen Ländern mag die Achtsamkeit in Bezug auf tierisches Leben eine Reifung erlebt haben – an den meisten Orten dieser Welt bestehen dafür nach wie vor keinerlei Ressourcen. Und die Selbstreflexion, die stellt sich von selbst nicht ein, ist doch der eigene Vorteil des denkenden Individuums immer der, der einem am nächsten ist. Das Wohl der Tiere ist da nur noch Luxus, den sich keiner leisten will. Und wenn doch, dann ist diese Harmonie von viel zu kurzer Dauer. Bestes Beispiel für den Kreuzweg eines Nutztiers bietet dabei immer noch der Esel. Klein, stoisch, genügsam und scheinbar gleichmütig allen Höhen und Tiefen seiner Existenz gegenüber. Der Blick aus den großen, runden, schwarzen Augen ist immer derselbe, die egal, was sie sehen müssen, hinnehmen. Als wüsste der Esel, dass er seine Pflichten zu erfüllen hat, und für nichts anderes auf der Welt ist, als Wägen zu ziehen, sich reiten zu lassen oder als Eigentum von jemand anderem zum Symbol zu gereichen.

Dieser Esel, genannt EO (Das polnische „I-Ah“) lebt zu Beginn dieses Films als Zirkustier gemeinsam mit seiner Artistin Kassandra gar nicht mal so schlecht. Die junge Dompteurin weiß den Wert des Tieres zu schätzen, schenkt ihm sogar mütterliche Liebe, pflegt und streichelt es. Doch dann passiert das: Tierschützer steigen auf die Barrikaden, die örtliche Exekutive beschlagnahmt das gesamte animalische Inventar, EO wird verschachert und kommt bei einem Pferdegestüt unter, wo sein Kreuzweg erst so richtig beginnt. Von dort nämlich bricht er aus, womöglich sucht er seinen Bezugsmenschen aus dem Zirkus, wandert von Polen gar bis nach Italien, wird misshandelt, entwendet und wieder versklavt, wird dann illegal in einem LKW außer Landes gebracht und an irgendeiner Raststation von einem Glücksspieler entwendet, der das gezeichnete Wesen zu Isabelle Huppert bringt, einer gottesfürchtigen, seltsamen Person, deren Auftritt völlig zusammenhanglos und aus der Luft gegriffen scheint, und die daher auch niemals mit dem Esel interagiert, was dieser wiederum nutzt, um nochmal auszubrechen.

Und so wandert er durch rund 90 Minuten Film, dieser graue Stoiker mit den Wachelohren und der pelzigen Schnute, dargestellt von sechs verschiedenen Tieren seiner Art. Der polnische Künstler Jerzy Skolimowski, der längst nicht nur Regie führt, lässt sein niemals zur Ruhe kommendes Wesen die Welt der Menschen aus seinem Blickwinkel betrachten – was nicht heißt, dass wir wortwörtlich alles mit dessen Augen sehen. Was EO widerfährt, sind die Schattenseiten eines sich über allem stellenden Unterjochers, der als minder ansieht, was er nicht versteht. Der besitzt, was keinen Besitzanspruch hegt. Der Gewalt ausübt an dem, der nicht vorsätzlich Gewalt ausüben kann. So sind sie, die Menschen, scheint sich EO zu denken, und dann träumt er wieder – oder wir sehen Gedanken und Visionen des Tieres, die, in rotes Licht getaucht, aus Fetzen der Erinnerung und Sehnsüchten bestehen.

Smolikowski hält nicht viel davon, es dem Publikum leicht zu machen. Harte Schnitte, stroboskopische Lichteffekte und andauernd diese Düsternis aus künstlichem Licht, dann wieder weite Landschaften und Nutztierromantik, wenn Pferde auf einer Koppel in Zeitlupe dahingaloppieren. Davon aber gibt es herzlich wenig – und es scheint auch niemals zu passieren, dass EO auf seinem Weg in Situationen gerät, die nicht nur seinen tierischen Geist weiterbringen, sondern auch den des Menschen an sich. Wie schon Robert Bresson mit seinem existenzialistischen Drama Zum Beispiel Balthasar gleichnamigen Esel durch eine gequälte Existenz führt und ihn am Ende die Kugel gibt, hält auch Smolikowski an diesem Nihilismus fest. Und so lässt er den Esel zwar nicht immer tiefer in den dunklen Brunnen gleiten, holt ihn aber von dort auch nicht wieder herauf. Pure Tristesse trifft Experimentalfilm, der noch dazu mit einer akustischen Untermalung aufgeigt, die durch ihre tönende und wummernde Penetranz von den visuellen Feinheiten ablenkt.

EO mag in manchen Szenen zu einem tierischen Pinocchio werden wollen, doch dann begnügt sich das Mensch-Tier-Gleichnis mit zynischer Schwermut, die zum Teil sogar dem Fehlen einer narrativen Entwicklung geschuldet sind. Ein Film also wie ein Mühlrad, dessen Schlinge EO um den Hals hat – und immer weiter, immer weiter laufen muss, stetig im Kreis.

EO

Letztes Jahr in Marienbad

KENNEN WIR UNS?

5/10


last-year-at-marienbad


LAND / JAHR: FRANKREICH, ITALIEN 1961

REGIE: ALAIN RESNAIS

DREHBUCH: ALAIN ROBBE-GRILLET

CAST: DELPHINE SEYRIG, GIORGIO ALBERTAZZI, SACHA PITOËFF U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


War es in Marienbad? In Friedrichstadt, Karlstadt oder Baden-Salsa? Oder in diesem Salon? Nichts Genaues weiß man nicht. Das Einzige, was so ziemlich als gesichert gilt, ist, dass der Mann mit dem schmalen Gesicht beim mittlerweile als Marienbad bekannten Nim-Spiel stets gewinnt. Das kann man drehen und wenden, wie man will. Und sonst? Sonst ist alles das Ergebnis subjektiver Erinnerungen an ein Damals vor einem Jahr. Oder sind diese Erinnerungen auch nur ein Konstrukt aus Begehren und Wunschtraum?

Die Sechziger, das Um- und Aufbruchsjahrzehnt für Gesellschaft, Soziales und Kultur, hat den Leuten gezeigt, dass vieles auch anders geht. Das die Norm keine Zügeln hat. Dass die Freiheit mannigfaltig sein kann. Da war Querdenken noch ein begrüßenswerter Umstand. Das Umkrempeln der bewährten Ordnung schuf in der Literatur den Nouveau Roman – folglich dauerte es nicht lange und im bereits durch die Nouvelle Vague erneuerten Medium Film etablierte sich der Versuch, die lineare Erzählform außen vor zu lassen, Strukturen aufzudröseln und mit diesen losen Fäden herumzuexperimentieren. Inspiriert von Alfred Hitchcocks filmischen Methoden und von so ziemlich allem, was neu war, entstand unter der Regie von Alain Resnais, der mit Hiroshima, mon amour ’59 die Goldene Palme von Cannes holte und sich nunmehr unorthodoxe Filmprojekte leisten konnte, ein nobles Verwirrspiel erster Güte: Letztes Jahr in Marienbad.

Dabei erstreckt sich die Handlung auf gerade mal fünf Minuten oder würde bei einem linearen Erzählkonzept bis zur zweiten Szene kommen. Ein namenloser Mann trifft auf eine namenlose Frau an einem unbekannten Ort – wir wissen, es ist ein Hotel in barockem Stil. Der Mann scheint die Dame zu kennen, sie wiederum kann sich an nichts erinnern. Also versucht der Mann, die Frau davon zu überzeugen, dass sich beide bereits letztes Jahr schon getroffen hatten. In Marienbad, Friedrichstadt, Karstadt, Baden-Salsa oder in diesem Salon. Dabei wiederholt sich seine artikulierte Beweisführung immer und immer wieder. Klingt jetzt nicht gerade prickelnd. Doch Resnais geht es keinesfalls um romantische Inhalte. Dieses bisschen Erzählsubstrat zerbricht wie ein Spiegel in hunderterlei Scherben. Ziel ist es, diesen Spiegel neu zusammenzusetzen. Bedingung dabei: all die Teile müssen neu arrangiert werden, letzten Endes aber dennoch wieder einen ganzen Spiegel ergeben.

Ein Experiment fürwahr. Doch was vielleicht in den Sechzigern für staunende Gesichter gesorgt hat, offenbart sich in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts mittlerweile nur noch als recht aufgeräumter, jedoch wenig tangierender Versuch, aus überholten Normen auszubrechen. Aus filmhistorischer Sicht mag Letztes Jahr in Marienbad seinen Platz bis heute gut verteidigt haben. Dass dieser Film allerdings auch heute noch irritierende Verblüffung auslöst, wage ich zu bezweifeln. Resnais Werk mag surreal sein – der redundante Ablauf an ähnlichen Szenen und mächtig ausholenden Kamerafahrten bleibt gediegene, natürlich edel fotografierte Langeweile.

So gesehen gibt es mehrere Sprachblöcke, die sich stets wiederholen. Allein schon ganz am Anfang erzählt eine Stimme aus dem Off gefühlt zigmal dieselbe Beschreibung des Ortes. Die langen Gänge, den schweren Stuck, die vielen Salons. Wie Gedankenblasen dreht sich das Gesagte in zeitlosem Kreis. Inhaltsleere Gesprächsfetzen der anderen Gäste sind zu hören – Floskeln, die keinen Sinn ergeben. Oft stehen diese Damen und Herren – in Abendkleid und schwarzen Anzügen – orientierungslos inmitten des üppigen Interieurs oder halten im geometrisch angeordneten Schlossgarten plötzlich inne, als würde die Zeit stillstehen. Es sind die Abbildungen vager Anhaltspunkte aus dem Gedächtnis der beiden Hauptfiguren, die alles Irrelevante als bedeutungslose, abstrakte Peripherie in das Erinnernde eingliedern. Und immer wieder, immer wieder wiederholt sich diese Abfolge wie ein formelhaftes Mantra. Dazwischen wieder der Mann mit dem schmalen Gesicht, der im Nim-Spiel gewinnt.

Unterlegt ist dieses flüchtige Kaleidoskop, das keinen Anfang, kein Ende und deren Zeiten vollends durcheinandergeraten, mit konterkarierter schwerer Orgelmusik. Letzten Endes ist man um keine Nuance schlauer, letzten Endes erreicht ein Gähnen die letzten Szenen eines scheinbar nicht enden wollenden, intellektuellen Filmversuchs. Nun, es ist ein Ereignis, doch gleichermaßen ein recht geziertes Kind seiner Zeit.

Letztes Jahr in Marienbad

Mein Engel

EYES WIDE SHUT

7/10

 

meinengel© 2016 capelight pictures

 

LAND: BELGIEN 2016

REGIE: HARRY CLEVEN

CAST: ELINA LÖWENSOHN, HANNAH BOUDREAU, MAYA DORY, FLEUR GEFFRIER, FRANCOIS VINCENTELLI U. A.

 

Das hätte David Copperfield auch sehr leicht passieren können: zaubern, und den Zauber nicht mehr umkehren können. Irreversible Magie sozusagen. Nur keine Panik, Zaubertricks sind nur Illusion. Das heißt: Copperfield wäre niemals in der chinesischen Mauer stecken oder irgendwann unsichtbar geblieben. Im Kino ist das anders. Im Kino ist Illusionskunst manchmal wirklich das Ergebnis einer Fähigkeit, die als paranormal zu bezeichnen ist. Und diese Kunst, die geht schief. Der Magier bleibt unsichtbar. Und Louise, seine Geliebte, versteht die Welt nicht mehr. Die anderen verstehen Louise natürlich auch nicht mehr, also wandert sie in die geschlossene Anstalt. Um dieser bizarren Situation aber noch eins draufzusetzen: Louise bringt einen Sohn zur Welt – der ebenfalls unumkehrbar unsichtbar bleibt.

Was für eine seltsame Fügung, was für eine seltsame Idee, die der Belgier Harry Cleven da aufgegriffen hat, um daraus einen Film zu machen. Natürlich denkt man da gleich an einen Superhelden, einen X-Men oder gar an den Unsichtbaren aus dem klassischen Dark Universe, der bald schon wieder auf der Leinwand zu sehen sein wird. Nein, Cleven geht die Sache ganz anders an, und führt die Prämisse in die Richtung eines mehr sphärischen als atmosphärischen, vor allem aber enorm sinnlichen Liebesfilms, der ein wunderbar anregendes Element in die ganze surreale Szenerie versenkt: Der namenlose Unsichtbare, der nur Mein Engel genannt wird, verliebt sich in kindlichen Jahren in ein blindes Mädchen, dass von seiner Transparenz natürlich nichts mitbekommt und ihn nur zu fühlen, riechen und schmecken braucht. Dumm nur, dass sich Madeleine Jahre später einer Augenoperation unterzieht, um erstmals sehen zu können.

Mein Engel ist ein assoziatives Memory aus Bildern, verschwommenen Sichtweisen und Gesichtern. Ein traumartiges Gebilde, das nur schüchtern einer zarten Ballade folgt, die von der Bedeutung unserer Sinne erzählt. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ – so heißt es doch bei Antoine Exuperys kleinem Prinzen. Das gleiche gilt aber auch für die beiden Liebenden hier, vor allem für Madeleine, welche die Kraft des Sehens neu definiert. Denn sehen lässt sich auch ganz anders. Und manchmal muss man die Augen schließen, um alles begreifen zu können. Der von Jaco van Dormael produzierte und auch sichtlich von ihm beeinflusste belgische Kunstfilm erinnert in seiner assoziativen, experimentellen Kameraführung stark an das Kino von Julian Schnabel, insbesondere an seinen Film Schmetterling und Taucherglocke. Unverkennbar aber auch der Einfluss Krysztof Kieslowskis, vor allem, was die Metaphysik der menschlichen Existenz betrifft. Als meditatives Philosophikum lässt sich dieser Film betrachten, als ein fragmenthaftes, aber dennoch stringentes Gespinst zur Relativität des Sehens und Erfassens, eingebettet in einer sehr körperlichen, erotischen Abhängigkeit, die sich – wie typisch eben für van Dormael – manchmal ein bisschen selbst karikiert, ohne sein Thema aber lächerlich zu machen. Dank der knappen Laufzeit von rund 80 Minuten erliegt Mein Engel nicht dem Problem, seinen kreativen Ist-Zustand allzu auszureizen, doch selbst bei dieser Kino-Miniatur ist Muße gefragt – aber die haben entspannte Kinogeher mit Hang zu poetisch-phantastischen Denkspielchen ohnehin.

Mein Engel

Untitled

REISE INS ICH

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untitled

Am 23. April 2014 verstarb der österreichische Filmemacher Michael Glawogger im westafrikanischen Land Liberia an Malaria. Er war gerade mal 57 Jahre alt. Jahrzehnte eines kreativen Lebens, in denen er vor allem durch seinen dokumentarischen Spürsinn und den speziellen Blick auf das große Ganze als ganz Großer des österreichischen Filmschaffens geschätzt wurde und wird. Mit seinen Werken setzte ich mich erstmals 1998 auseinander – mit die Kino-Doku Megacities. Eine hypnotische Odyssee tief ins Herz globaler Ballungszentren. Schon damals waren seine Bilder und die Art des Erzählens anders, als man es von sachkundigen Reportagen bislang gewohnt war, Denn das, was Glawogger uns mitteilen wollte, ging tiefer. Berührte die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschseins auf lakonische, bittere, entfesselte Art und Weise. Die Weltreise, das gigantische neue Projekt des Visionärs, welches in erster Linie vom niemals ruhenden Umherwandern des getriebenen Wesens namens Mensch erzählen sollte, geriet wider Erwarten aller zu Glawoggers ureigener Passion, zum finalen Kreuzweg, zum letzten Gang. Kurz: zu einem filmischen Vermächtnis.

Bilder, Momentaufnahmen, Szenen menschlicher Mobilität. Die Sammlung an Filmmaterial, die während des ersten Teilstücks von Wien nach Liberia zusammengetragen wurde, hat Glawogger´s Regiekollegin Monika Willi nun zu einem zutiefst berührenden, unberechenbaren und nachdenklich stimmenden Weckruf des Geistes zusammengeschnitten. Entstanden ist dabei ein Meisterwerk der dokumentarischen Erzählkunst, das so weit von klassischem Infotainment entfernt ist wie Nacktschnecken von Star Wars. Untitled – das namenlose, bewusstseinsverändernde Wunderwerk – lässt das Kinopublikum in ihren eingefahrenen Sehgewohnheiten allein zurück und beschert vor allem jenen, die sich völlig erwartungslos und open-minded dem 100minütigen Experiment hingeben, völlig neue Erfahrungen.

Das liegt alleine schon daran, dass der Film keiner linearen Geschichte folgt. Das Aufeinanderfolgen der Szenen und textfreien Bildmeditationen gleicht einem scharfkantigen Mosaik, allerdings mit Bruchstücken, die nicht zueinanderpassen, sondern bewusst und vehement kontrastieren wollen. Monika Willi setzt Glawogger´s Bilder wie nicht mehr zuordenbare Scherben scheinbar willkürlich zueinander. In dieser Willkür aber, in dieser unstringenten und scheinbar zusammenhanglosen Unordnung steckt, viel tiefer als auf den ersten Blick erkennbar, eine Metamorphose der Wahrnehmung. Ein Bereitmachen auf den Rückblick auf ein Leben, ein Reflektieren des eigentlichen Sinns vom unentwegt bewegten Dasein. Untitled schenkt dem Zuseher etwas ganz Bestimmtes, nämlich eine Art Interaktivität. So wie ein abstraktes Gemälde jeden einzelnen Betrachter auf eine andere, sehr persönlich interpretierte Reise mitnehmen kann, so ist das namenlose Gebet der Bilder ein kryptisches Buch voller Zitate, Gleichnissen über das Leben und Gedanken über den Tod. Niedergeschrieben von Michael Glawogger, in einzelnen Szenen rezitiert von Birgit Minichmayer mit ihrer unverwechselbaren Theaterstimme. Zwischen den Sätzen bleibt ein Vakuum, das gefüllt werden will von eigenen Gedanken. Kaum ein anderer Film vermag es in solch einer Intensität, den Zuseher in ein Stimmungsgewitter zu katapultieren, dass minutenweise wechselt und durch dieses emotionale Stimulieren den Motor eigener Gedankengänge anwirft. Es ist eine Zwischenwelt zwischen Wachzustand und traumbeseeltem Schlaf. Ein Niemandsland zwischen Leben und Tod. Letzte Bilder, ein wehendes Hemd. Streunende Hunde. Menschen hinter den Fenstern. Einbeinige Fußballspieler. Esel im Staub. Und immer wieder rollende Karren, trottendes Vieh. Gehende Menschen, die scheinbar nirgendwo ankommen. Bilder, nach denen das Nichts kommt. Und eine Kamera, die sich hindurchzwängt zwischen Menschen, Tieren, baufälligen Gemäuern. Glawogger beschert uns mit seinem Gespür für die Essenz des menschlichen Miteinanders grandiose Aufnahmen, die Staub, Schweiß und Salzwasser berührt haben. Die, meist aus bodennahem Blickwinkel, die Monstrosität von Fremdartigkeit und Einsamkeit hervorkehren.

Mit seinen letzten Streifzügen über den Erdball schafft Glawogger posthum sein Opus Magnum, seinen besten Film, indem es von nichts zu handeln scheint und wo es gleichzeitig um alles geht. Das den gemeinsamen Nenner seiner Werkschau präsentiert. Einen Schlussstrich aus Neugier, Trauer, das Gefühl von Freiheit und Neuanfang. Untitled ist kein Film für Zwischendurch. Kein Experiment, aus dem man ungeschoren wieder davonkommt, so rätselhaft scheint seine Mechanik. Es ist ein Erlebnis, für das man bereit sein muss. Ein unberechenbares Philosophikum, das sich jedem Genre entzieht. Dem sich sein Betrachter aber nicht entziehen kann.

 

Untitled