Eureka (2023)

FRAGMENTE ÜBER DAS VERSCHWINDEN

7/10


eureka© 2023 Grandfilm


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, FRANKREICH, PORTUGAL, MEXIKO, DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: LISANDRO ALONSO

CAST: VIGGO MORTENSEN, CHIARA MASTROIANNI, SADIE LAPOINTE, ADANILO R, JOSÉ MARIA YAZPIK, ALAINA CLIFFORD, VIILBJØRK MALLING AGGER, RAFI PITTS U. A.

LÄNGE: 2 STD 27 MIN


Ein Mädchen verschwindet. Genau genommen die Tochter des dänischen Landvermessers Gunnar, der im späten neunzehnten Jahrhundert in Argentinien weilt. Gespielt wird dieser verzweifelt suchende Mann, der sich in der argentinischen Raumzeit verliert, von „Aragorn“ Viggo Mortensen. Die Rede ist dabei aber vom Film Jauja von Lisandro Alonso, der 2014 ebenso auf der Viennale lief wie letztes Jahr das neueste Werk des Argentiniers: Eureka. Auch in diesem überlangen Werk, welches zwar anmutet wie ein Episodenfilm, es bei genauerer Betrachtung eigentlich nicht ist, gibt Mortensen jemanden, einen abgewrackten Revolverhelden mit schweißnasser Stirn, der seine Tochter sucht. Er durchquert dabei die Prärie und geht dabei über Leichen, das alles gefilmt in 4:3 und in Schwarzweiß. Die Mission des Mannes wird dabei von einem nordamerikanischen Indigenen beobachtet, der frühmorgens seine Trommel ertönen lässt und dabei auf die Welt blickt. So beginnt ein Film, der sich willig dazu entschlossen hat, sich selbst treiben und seine Geschichten zerfransen zu lassen, ohne dem narrativen Dogma nachzugeben, alles auserzählen zu müssen. Bei Eureka braucht man getrost auf gar nichts warten. Denn alles hat kein Ende, und falls doch, dann ist es das vorläufige des Verschwindens.

Es ist ja nicht nur Mortensens Filmtochter, die fehlt. Im gewichtigen Mittelteil des avantgardistischen Werks befinden wir uns im Pine Ridge Reservat in South Dakota während eines klirrend kalten Winters. Der trostlose Ort ist nur noch ein Schatten seiner Begrifflichkeit. Sozialen Missstand gibt es an allen Ecken und Enden, und schon wieder verschwinden Menschen wie zum Beispiel die kleine Mackenzie, die niemand gesehen haben will. Lisandro Alonso verfolgt dabei Lakota-Polizistin Debonna, die für Recht und Ordnung sorgt während der langen Winternacht und nicht nur von dieser sozialen Verwahrlosung, sondern auch von ihren Kollegen bitter enttäuscht ist. Ihre Nichte Sadie (faszinierend: Sadie Lapointe) arbeitet im Jugendheim, um den desorientierten Nachwuchs mit Sport und Spiel auf dem rechten Weg zu halten. Was mit diesen beiden Frauen passieren wird, bleibt offen. Auch sie verschwinden, auf ihre jeweils ganz eigene Art. Zuletzt findet sich Eureka im brasilianischen Dschungel der Siebzigerjahre wieder: Ein Goldwäscher, nach einer Bluttat geflohen von seinem Stamm, muss sich seiner Tat stellen. Auch er ist auf der Suche. Vielleicht nach Absolution, vielleicht nach einem sicheren Leben. Die Allegorie des Verschwindens macht auch hier nicht Halt, in dieser letzten Episode.

So seltsam das alles auch klingt: Eureka ist seltsamer. Wer die Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul (u. a. Memoria) kennt, wird ungefähr erahnen können, was es zu bedeuten hat, wenn ich meine, dass Alonso in seinen verharrenden, teils unerträglich langen Einstellungen die Essenz des wahrgenommenen Moments, des Daseins, der Existenz einfach nur durch stoische Betrachtung intensiviert. Tatsächlich gelangt er dadurch in die Tiefe, und je länger man hinblickt, um so mehr verändert sich das Bild. Oder es blickt das Bild, frei nach Nietzsche, geradewegs zurück. Das Transzendente dringt in die entbehrungsreiche Wirklichkeit, der Aminismus der Indigenen spielt dabei eine wesentliche Rolle, denn Eureka ist schwer mysteriös. Wonach Alonso genau auf der Suche ist, das könnte vieles sein. Kulturelle Identität, Geschichte, Familie, Stammbaum. Eine sichere Zukunft? Schließlich wissen wir: Eureka, vermutlich von Archimedes ausgesprochen, kommt aus dem Griechischen und heisst so viel wie Ich hab’s gefunden. Letztlich aber bleiben alle diese Figuren im Film auf der Suche nach etwas Verschwundenem, das auf unerklärliche Weise plötzlich nicht mehr da ist oder da sein will.

Unbefriedigender Existenzialismus als zerfranstes Geduldsspiel, das sich seinem Fluss hingibt, egal, welche Bahnen er nimmt: Gefunden hat in Eureka niemand etwas. Doch vielleicht ist es die Lösung aller Probleme, in einem gewissen kapitulierenden Pragmatismus den Abgesang zuzulassen.

Eureka (2023)

Jauja (2014)

VERLOREN IN DER PAMPA

6,5/10


jauja© 2014 Arte


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, USA, NIEDERLANDE, FRANKREICH, MEXIKO, USA 2014

REGIE: LISANDRO ALONSO

BUCH: LISANDRO ALONSO, FABIAN CASAS

CAST: VIGGO MORTENSEN, GHITA NØRBY, VIILBJØRK MALLING AGGER, ADRIÁN FONDARI, ESTEBAN BIGLIARDI, BRIAN PATTERSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Ein Ex-Häftling irrt wortlos durch den Dschungel, auf der Suche nach seiner Tochter. Das ist ein Film des Argentiniers Lisandro Alonso aus dem Jahre 2004, mit dem ernüchternden Titel Los Muertos – Die Toten. Zehn Jahre später hat der eigenwillige Filmemacher, dessen Stil ganz sicher nicht den Mainstream bedient, ein Drama ähnlichen Inhalts gedreht. Allerdings prominent besetzt. Viggo Mortensen nämlich spielt Gunnar Dinesen, einen dänischen Ingenieur Ende des 19. Jahrhunderts, der in Argentinien auf Seiten Kolonial-Spaniens gegen die aufständische indigene Bevölkerung kämpft. Mit auf dem fernen Kontinent weilt seine Teenager-Tochter Ingeborg, die den Einheimischen schöne Augen macht und gar vorhat, mit einem der jungen Soldaten durchzubrennen. Vater Mortensen sieht sowas gar nicht gern, er will seine Tochter beschützen – vor ihrem eigenen Willen und vor den lüsternen Augen der anderen. Doch die Jugend hat nun mal ihren eigenen Kopf und so kommt es, dass sich Ingeborg tatsächlich irgendwann des Nächtens aus dem Staub macht. Gunnar Dinesen hinterher, zuerst noch auf dem Pferd, dann nur noch zu Fuß, und irgendwann verschlingt ihn die Pampa, das steppenhafte Hinterland Argentiniens, in dessen Weite man das Gefühl für Zeit und Raum verliert, wo Orientierung nur dem Namen nach existiert und nicht nur Vergangenheit und Zukunft, sondern auch alternative Universen einander überlappen. Aus dem streng komponierten Historiendrama wird ein metaphysisches Vexierspiel rund um Verwirrung und dem Zulassen seltsamer Begebenheiten.

Wenn man schon einen Filmemacher mit dem unverwechselbaren thailändischen Film-Visionär Apichatpong Weerasethakul (u. a. Memoria) vergleichen könnte, dann nur zu Recht Lisandro Alonso. Wie Weerasethakul Zeit und Raum auf lakonische und geheimnisvolle Weise aushebelt, ohne angestrengtes Effektgewitter zu bemühen, so weiß Alonso ebenso, das Unmögliche in eine nüchterne, völlig pragmatische Realität zu setzen. Wie eine Tatsache, die nicht ergründet werden, sondern nur akzeptiert werden darf. Dabei fordert Jauja – die Bezeichnung für ein Land, in dem Milch und Honig fließt, ähnlich dem Paradies oder einer Art Schlaraffenland – bereits zu Beginn eine gewisse Bereitschaft von seinem Publikum ein, seine unorthodoxe Erzählweise zu akzeptieren. Im Format 4:3 und mit abgerundeten Ecken sehen wir geradezu unbewegliche Landschaftstableaus irgendwo an der Küste Argentiniens. Naturalistische Details rücken in den Fokus, dann wieder uniformierte Männer, deren fixierte Blicke wohl auf das junge Mädchen gerichtet sind, die mit ihrem Vater stoisch verharrt. In der Ruhe findet sich eine gewisse erzählerische Tiefe, die allerdings Geduld erfordert; eine meditative Gelassenheit, wenn sie nicht als sperrig gelten will, was durchaus leicht passieren kann. Mortensen lässt sich fast intuitiv und assoziativ treiben, er scheint zu improvisieren, lässt sich fallen in diese seltsame Odyssee, in die er später verloren geht, auf der Suche nach seinem Kind, jenseits des Rationalen.

Alonso hat seine ganz eigenen Visionen und ist ein Filmemacher, der alle Freiheiten zu genießen scheint. Filmkunst ist hier das höchste Gut, Anbiederung an breit gefächerte Sehgewohnheiten verachtenswert. Wie Weerasethakul lädt er nur jene zu seinem Film ein, die willens sind, sich genauso treiben zu lassen wie Mortensen. Was sie bekommen, ist ein indirekt phantastischer Film im Gewand eines südamerikanischen Westerns, in welchem das Mysterium des Verschwindens in der Weite dieser Welt zur Attraktion wird.

Jauja (2014)