Yannick (2023)

KUNSTGENUSS ALS GEISEL-WORKSHOP

6,5/10


Yannick© 2023 MUBI


LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: QUENTIN DUPIEUX

CAST: RAPHAËL QUENARD, PIO MARMAÏ, BLANCHE GARDIN, SÉBASTIEN CHASSAGNE, FÉLIX BOSSUET U. A.

LÄNGE: 1 STD 7 MIN


Es kann der Frömmste nicht in Frieden den Theaterabend genießen, wenn’s dem Nörgler aus der zehnten Reihe nicht gefällt. Was also tun, wenn sich so mancher Soziopath, der sich unters Publikum gemischt hat, dazu erdreistet, allen anderen im Saal die eigene Auffassung von gutem Geschmack aufzuzwingen? Oder, anders – und etwas kulturphilosophischer formuliert: Befindet sich das zahlende Publikum eines Bühnenabends denn eigentlich in Geiselhaft des Stücks und seiner darstellenden Künstler? Sieht sich dieses vielleicht nicht doch dazu gezwungen, einen ganzen Abend, der schlimmstenfalls nicht mal gefällt, einfach abzusitzen, denn sonst verlöre es ja den Wert dessen, was gegen Bezahlung aufgewogen wurde? Es braucht schon ein gewisses autorevolutionäres Durchsetzungsvermögen, dem eigenen inneren Schweinehund, der andauernd der Meinung ist, dass nichts umsonst sein darf, Paroli zu bieten und während der Vorstellung das Auditorium um die eigene Wenigkeit zu erleichtern. Richtig radikal wird’s dann, wenn das nicht heimlich passiert. Und zu absurdem Theater wird’s dann, wenn Surrealist Quentin Dupieux, die dem großen Salvador Dali verwandte Seele, einen völlig verpeilten Klugscheißer namens Yannick aus seinem Sitz erheben lässt, um allen durch die Parade zu fahren. Denn an diesem gerade mal etwas über eine Stunde laufenden Abend gibt man in einem kleinen Pariser Stadttheater den klassisch-frivol-witzigen Content einer Boulevardkomödie, die sich natürlich um Liebeleien, Liebschaften und Beziehungen dreht. Es ist ein verbales Hickhack, vollgepackt mit leidlich treffsicherem Humor, doch im Wesentlichen Routine. Diese an der Laune Yannicks nagende Langeweile findet sein Ventil darin, den Fortgang eines womöglich lauen Bühnenevents gründlich zu stören. Und da steht er nun, mitten am Parkett und schwadroniert über seine Sicht der Dinge, über seine Meinung, die plötzlich die gewichtigste der ganzen Welt ist, während ihn das Schauspieltrio nur verdutzt anblickt. Als es dann zumindest gelingt, den Störenfried aus dem Saal zu treiben, ist das erst der Anfang. Yannick wird zurückkehren, doch diesmal bewaffnet.

Als Abschlussfilm der letztjährigen Viennale ist Dupieux‘ geradezu harmlose Fingerübung der ideale Digestiv nach allerlei anspruchsvollen Happen. Nicht hochprozentig, die Verdauung anregend, doch im Vergleich zu anderen Filmen, die Dupieux im Alleingang vom Stapel lässt, so einlullend wie ein flauschiges Kissen. Yannick macht keinerlei Anstalten, die erschaffene Realität seiner Geschichte zu stören, wie einst in seinem surrealen Polizeifilm Die Wache. Ernüchternd konstant bleibt die boulevardeske Geiselkomödie dramaturgischen Konventionen treu, und einzig die bizarre Situation, die allerlei Fragen zu Kunst- und Kulturakzeptanz aufwirft, nähert sich eher zaghaft der wilden Experimentierfreudigkeit des Franzosen, der bereits killende Autoreifen und Lederjacken auf die Menschheit losgelassen hat. Yannick ist da trotz Herumfuchtelns mit einer Waffe keine Nemesis, allerdings aber eine im Kosmos des Theaters mächtige Instanz, die die Freiheit der Kunst der eigenen Gefälligkeit opfert. Übertragen lässt sich dieses Spiel mit Zensur, Gehorsam und willkürlichem Regelterror auch auf eine gesellschaftspolitische Ebene. Die Freiheit der Kunst kann nur mittragen, wer ganz gut damit leben kann, dass diese auch nicht gefällt. Sie deshalb abzuschaffen oder gar umzuändern, wird zur Diktatur des Volkes. Doch was heisst des Volkes: Des einzelnen, denn nur ein einzelner, nämlich Yannick, hat einen Abend lang die Macht, alles zu verändern. Da ist es egal, wie intellektuell, dumm oder sonst wie er auch sein mag. Es ist die Überschätzung der eigenen Wichtigkeit.

Am Wortwitz, der Liebe zum Absurden Theater eines Eugene Ionesco und an den straff gesetzten Dialogen lässt Quentin Dupieux nichts zu wünschen übrig. Seine Freude daran, Chaos zu stiften und aus der überschwappenden Anarchie auf viel zu selten hinterfragte Theaterdogmen erwächst ein ganz eigenes Bühnenexperiment, dem man mit einer ähnlich verstört-belustigten Vorsicht folgt, als wäre man selbst einer der Zuschauer, und wüsste nicht, ob, das, was da abgeht, nicht Teil des Stückes selbst ist. Mit diesen Dimensionen legt sich Dupieux aber nicht an. Vielleicht hat er das schon zu oft getan, um nochmal darauf zurückzugreifen. Viel lieber ist ihm diesmal die Extremsituation eines verheerenden Ex temporae, hervorgerufen durch den Ungehorsam eines Einzelnen.

Ist es also unerhört, die eigene Meinung zu sagen? Ganz richtig – vor allem dann, wenn sie keiner hören will. Yannick dient dabei als kurze, knappe, fix auf einer Metaebene befindliche Aufforderung, die wahre Not der eigenen Befindlichkeit zu reflektieren. Wo gelingt das besser als dort, wo subjektive Wahrnehmung alles ist.

Yannick (2023)

They Cloned Tyrone (2023)

DIE WAHRHEIT LIEGT IRGENDWO IM GHETTO

6/10


They Cloned Tyrone© 2023 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: JUEL TAYLOR

DREHBUCH: JUEL TAYLOR, TONY RETTENMAIER

CAST: JOHN BOYEGA, JAMIE FOXX, TEYONAH PARRIS, KIEFER SUTHERLAND, DAVID ALAN GRIER, JOSHUA MIKEL, DAVID SHAE, J. ALPHONSE NICHOLSON, JAMES MOSES BLACK U. A.

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Gespannt darf man sein auf Jordan Peeles nächsten Streich. Mit Nope hatte dieser bei mir seine Lorbeeren kassiert, doch auch das ist schon wieder ein Jährchen her. Mittlerweile kenne ich Peeles übrige Werke, doch nach wie vor ist meiner Meinung nach sein jüngstes das beste. Den Mix aus Mystery, dem Unbekannten, subtilem Horror und schrägem Humor beherrscht anscheinend nur er. Die Art und Weise, wie Peele seine Rätselfragen ans Publikum stellt, triggert womöglich so manchen Verschwörungstheoretiker. Am Ende des Tages gibt es die Lösung hinter den paranormalen Vorkommnissen häppchenweise serviert, ganz ohne Erklärbär; mit vielen Lücken und manches vage – einzig und allein, um die Denkarbeit des Betrachters zu pushen.

Doch wieso schreibe ich hier die ganze Zeit von Jordan Peele, wenn doch They Cloned Tyrone gar nicht mal auf die Kappe dieses Herrn geht, geschweige denn aus dessen Feder geflossen ist. Ganz einfach: Weil Juel Taylor, bislang Drehbuchautor und erstmals als alleiniger Regisseur unterwegs, den metaphysischen Impact von Get Out oder Wir womöglich so beeindruckend fand, dass dieser sich ebenfalls dazu bemüßigt gefühlt hat, einen ganz ähnlichen Trip in die nicht ganz koscheren Gefilde des phantastischen Black Cinema zu wagen. Dorthin, wo sich die grobkörnige Nostalgie des 70er-Bahnhofkinos den knarzigen Ledermantel von Shaft überwirft. Wo Stranger Things mit kruden, rassistische Ideologien synergieren. Platz auf der Spielwiese gibt’s dafür mehr als genug – und warum auch nicht, wenn schon Peele so lange auf sich warten lässt. Taylor will sich zwar nicht unbedingt vor dem Können des anderen verbeugen – tut es aber trotzdem. Dieser Respekt fließt sichtlich in sein Werk ein – und lässt es vielversprechend an den Start gehen. Mit John Boyega und Jamie Foxx in den Hauptrollen, die beide sowieso schon alles gesehen zu haben glauben und dennoch schierpas erstaunt sind, als sich Unerklärliches auftut.

Boyega, bekannt geworden durch Star Wars und mittlerweile keine guten Worte mehr findend für das Franchise, gibt einen versifften Drogendealer namens Fontaine, der eines Nachts von der Konkurrenz erschossen wird. Zeuge dieses Attentats sind der in den 70ern steckengebliebene Zuhälter Slick Charles und dessen Prostituierte Yo-Yo. Slick Charles staunt nicht schlecht, als tags darauf Fontaine dem wunderbaren Lazarus gleich von den Toten aufersteht und abermals aufkreuzt, gänzlich ohne Schussverletzungen und sich an nichts mehr erinnernd. Auf die kuriose Koinzidenz angesprochen, will Fontaine der Sache nachgehen – und stößt so ziemlich bald auf Indizien einer Verschwörung, die bis tief unter die Erde führen.

Das liebevoll ausgestattete Grindhouse-Setting, das Imitieren analogen Filmmaterials, einfach die Optik und auch die schmissigen Soundtracks – They Cloned Tyrone ist Retro-Kino mit Kniefall. Eine schöne Hommage mit noblen Kostümen und schickem Tand, einem exaltierten Jamie Foxx, der stets kurz davor ist, die Nerven zu schmeißen, und einem grummeligen Boyega. Fast hätte Juel Taylor alles richtig gemacht, fast hätte er es geschafft, jene immersive Atmosphäre zu erzeugen, die bei Jordan Peele so eigen ist. Vor allem dann, wenn sich die seltsamen Vorkommnisse noch zuspitzen, all das immer rätselhafter wird und keiner sich auch nur ansatzweise einen Reim darauf machen kann, was für „kranker Scheiß“ hier abgeht, befindet sich They Cloned Tyrone auf der Überholspur zum Mystery-Geheimtipp. Wäre Taylor und Co-Drehbuchautor Tony Rettenmaier nicht der Mut flöten gegangen, so manches unerklärt zu lassen. Im Gegenteil: Irgendwann kommt der Moment, da weicht der Aufwind für den Film einem Luftloch: They Cloned Tyrone stürzt ab – und zwar genau vor die Füße von Kiefer Sutherland, der als austauschbarer Antagonist die Bühne betritt. Der Erklärbär holt Luft. Was folgt, nimmt dem Szenario seinen Zauber. Viel zu viele Worte um eine längst ausgeräumte Büchse der Pandora – die Wahrheit hinter all dem ist schal und wenig originell; gabs anderswo schon perfider und gilt bereits als auserzählt.

Das Zugeständnis zum Schema F mag zwar enttäuschen – der ganze Film hingegen tut das nicht. Sehr wohl gibt’s so einiges, wie bereits erwähnt, auf der Habenseite – mit nur etwas mehr eigenständiger Vision wäre Taylor etwas Beachtliches gelungen. So versöhnt zumindest die irrwitzige Mid-Credit-Szene für so manche verpasste Chance. Es sind zwar nur ein paar Minuten, doch man sieht, was man damit – und dem richtigen Gespür – alles erreichen kann.

They Cloned Tyrone (2023)

Was dein Herz dir sagt – Adieu, ihr Idioten!

REVOLTE AM ABSTELLGLEIS

7/10


wasdeinherzdirsagt© 2022 Jérôme Prébois – ADCB Films


LAND / JAHR: FRANKREICH 2020

BUCH / REGIE: ALBERT DUPONTEL

CAST: VIRGINIE EFIRA, ALBERT DUPONTEL, NICOLAS MARIÉ, JACKIE BERROYER, PHILIPPE UCHAN, BASTIEN UGHETTO, MARILOU AUSSILLOUX, TERRY GILLIAM U. A. 

LÄNGE: 1 STD 27 MIN


Was das Herz begehrt, Wo die Liebe hinfällt – und jetzt auch noch das: Was dein Herz dir sagt. Aber ich empfehle allen  Kitschverweigerern gleich vorweg, sich in diesem Fall nicht unbedingt abschrecken zu lassen. Wir wissen ohnehin, dass so manche deutschsprachige Titelvergabe für internationale Filme am eigentlichen Thema vorbeigehen. Aber ein kleines Zugeständnis zum Original gibt es: Adieu, ihr Idioten (eine Floskel, die man derzeit auf viele Teilbereiche der Politik und Gesellschaft anwenden kann) ist zumindest erhalten geblieben. Und trifft die Seele dieser kleinen, bezaubernden Anarcho-Tragikomödie viel eher. Und hier sieht man wieder: Frankreich ist nach wie vor ungeschlagener Meister darin, Komödien zu inszenieren, die in keiner auch nur sonst wie banalen Szene zum Femdschämen einladen oder lächerlich wirken. Sie haben Charme, Tiefe und eine unnachahmbare Leichtigkeit, von welcher alle Höhen und Tiefen eines Films profitieren. Hollywood kann da immer noch lernen, Deutschland ebenso. Österreich – hätten wir unsere Kabarettisten nicht, sähe es traurig aus. Doch die im Film lebendig gewordenen Aussteiger-Franzosen verabschieden sich nicht mit einem Stinkefinger wie vielleicht anderswo, sondern mit einem Understatement, das Stil besitzt.

Hier, in Albert Dupontels selbst verfasster und immer nur dezent ins Absurde abgleitenden Komödie, in der er auch selbst die Hauptrolle spielt, treffen drei vom Leben betrogene Individuen aufeinander, die keinen Platz mehr in einer Welt des Fortschritts finden. Die am Abstellgleis gelandet sind, im Dunkeln sitzen, sich von Haarspray vergiften haben lassen oder durch Jungspunde frisch aus dem Studium ersetzt werden. Ja, so läuft es derzeit. Und jene, die das ganze so weit kommen lassen, trösten sich selbst mit heuchelndem Altruismus. Schließlich sind wir alle sowas von sozial. Suze Trappet, gespielt von Virginie Efira, wird an einem Lungenleiden sehr bald das Zeitliche segnen. Bevor dies aber geschieht, hat sie noch ein Ziel: Ihren damals zur Adoption freigegebenen Sohn finden. Wie es der Zufall so will, trifft sie auf den ausrangierten IT- und Sicherheitsexperten Cuchas, der sich so gut wie überall auf diesem Planeten hineinhacken kann und nun seinen Platz als Koryphäe auf seinem Gebiet räumen muss. Er will seinem Leben ein Ende machen, doch dieses Vorhaben geht schief. Zu guter Letzt komplettiert ein blinder Archivar (begnadet komisch: Nicolas Marié) das schräge Trio, der im Übrigen die meisten Lacher in diesem Film für sich beanspruchen kann und ja, man muss sagen: Witze über Blinde sind keinesfalls politisch korrekt. Doch wie Marié hier die Kunst des Slapsticks zelebriert, kommt den kuriosen Eskapaden eines Stan Laurel relativ nah. So sind die drei also unterwegs quer durch ein verfallenes, teils futuristisches Frankreich in einer Grauzone zwischen Vergangenheit und Moderne. Weinen ihrer Habenseite nach und trotzen einer unbestimmten Soll-Zukunft. Man könnte sagen, Was dein Herz dir sagt – Adieu ihr Idioten! ist eine skurril-sympathische, urbane Spazierfahrt mit dem Herzen am rechten Fleck. Gut, auch das ist eine Floskel. Doch lassen sich damit die Ambitionen der drei nur zu gut verstehen, und wenn man beobachtet, wie der unmöglich zu lösende Schicksalsknoten dennoch aufgeht und wir damit fast schon in einer metaphysischen, märchenhaften Dimension der Tragikomödie angelangt sind, dann schüttelt man nicht den Kopf ob so vieler Unglaubwürdigkeit, sondern nimmt diese Abgehobenheit mit einer fast schon zärtlichen Zuneigung an.

Und es ist, wie es ist: Virginie Efira ist, wie schon Huppert, Binoche oder Marceau, eine sinnliche Persönlichkeit, eine mit feinem erotischem Charisma. Liebevoll und warmherzig und man möchte sie in den Arm nehmen und knuddeln, und dazu auch vielleicht gleich die anderen beiden Loser, die eigentlich gar keine sind. Dupontel hingegen widmet den Film dem verstorbenen Monty Python-Mitglied Terry Jones und lässt sogar Terry Gilliam in einem kleinen, frechen Cameo den Screen passieren. Warum er das tut? Jones war ein großer Fan seines Regiedebüts Bernie, das schien Dupontel viel bedeutet zu haben. Den grotesken Humor der Briten aber übernimmt er ganz und gar nicht, obwohl sich einer wie John Cleese perfekt in das Setting eingefügt hätte. Was dein Herz dir sagt – Adieu, ihr Idioten! bleibt französisch und trifft daher mit nicht ganz so schwarzem, aber dunkelgrauem Humor ins Ziel. Bringt zum Lachen und erwärmt an so nebelgrauen Tagen wie diesen das zu allen Schandtaten bereite Gemüt, wenn es heißt, sich nicht unbedingt so verhalten zu müssen, wie die anderen es wollen.

Was dein Herz dir sagt – Adieu, ihr Idioten!