Der Sommer mit Anaïs

GELEGENHEIT MACHT LIEBE

7,5/10


sommermitanais© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: CHARLINE BOURGEOIS-TACQUET

CAST: ANAÏS DEMOUSTIER, VALERIA BRUNI TEDESCHI, DENIS PODALYDÈS, JEAN-CHARLES CLICHET, ANNIE MERCIER, ANNE CANOVAS, CHRISTOPHE MONTENEZ U. A. 

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Kann es nicht sein, dass wir den Schlimmsten Menschen der Welt bereits in der norwegischen Tragikomödie selben Titels gesehen haben? Möglich, doch vielleicht irren wir uns. Es ist zu vermuten, dass die von Renate Reinsve dargestellte Julie Aus Joachim Triers filmischem Gefühlschaos mit Anaïs Demoustier den Rang abgelaufen bekommt. Zumindest aber sind beide ungefähr gleich auf in ihrem Streben, sich nirgendwo festlegen und alles auskosten zu müssen, was das Leben eben so hergibt, dabei aber jedwede Bodenhaftung verlieren, die für innere Gelassenheit wohl wichtig wäre. Sowohl Julie als auch Anaïs sind Freigeister mit Körper und Seele, und Anaïs hat zum Beispiel gar kein Problem damit, eine ungeplante Schwangerschaft einfach abzubrechen, denn das würde ihr Leben unweigerlich in eine Richtung lotsen – für welche die experimentierfreudige Mittdreißigerin längst noch nicht bereit ist. Da gibt’s noch ganz andere Erfahrungen, die Frau machen muss. Zum Beispiel die einer Beziehung zu einem deutlich älteren Buchverleger (Denis Podalydès), der Anaïs gleich ganz für sich beanspruchen will, was diese natürlich wieder in eine Ecke drängt. Anaïs nimmt abermals Reißaus, es treibt sie hierhin, es treibt sie dorthin, und dann weckt die Ehefrau dieses älteren Ex, eine bekannte Schriftstellerin, ihr Interesse. Im Rahmen eines Literatursymposiums in einem Landhotel vergisst Anaïs ihre studentischen Pflichten und quartiert sich genau dort ein, wo die reifere Emilie (Valeria Bruni Tedeschi) ihre Vorträge hält. Langsam entsteht so etwas wie ein sommerlich leichter Flirt zwischen den beiden, die einerseits in ihrer Mentalität unterschiedlicher nicht sein können, andererseits aber vieles gemeinsam haben. Vielleicht auch die Lust am Abenteuer und am Unberechenbaren; an verspielten, ungebundenen Affären und vielsagenden, koketten Blicken.

So einen Augenaufschlag, verbunden mit gewinnendem Lächeln, weiß Anaïs Demoustier famos zu beherrschen. Die eindrucksvolle Schauspielerin wurde seinerzeit, nämlich 2003, von niemand anderem als Michael Haneke entdeckt, der sie 2003 für sein Endzeitdrama Wolfzeit besetzt hat. Jetzt, so viele Jahre und unzählige Filme später, darunter auch Werke von Quentin Dupieux, beeindruckt sie genauso Liebhaber der frankophonen Romantik wie Virginie Efira oder Juliette Binoche es tun. Mit klugem Wortwitz und kreativer Starrköpfigkeit, aber auch mit einer fast schon kindlichen Sehnsucht nach Nähe und dem Mysterium sich anbahnender Liebschaften in genau diesem Stadium verdreht sie selbst ihrem Publikum den Kopf.

Charline Bourgeois-Tacquet lässt sich von dieser Ausstrahlung nur so weit vereinnahmen, dass sie sich nicht mit der Kamera ausschließlich auf Anaïs Demoustier stürzt und alles andere drumherum vergisst, sondern immer noch mit einer zurückgelehnten Entspanntheit eine charmante zwischenmenschliche Konstellationen beobachten kann, die sich nicht auf Druck in irgendeiner aufgeräumten Message kanalisieren müssen. Es ist, als hätten die beiden Schauspielerinnen viel freie Hand gehabt, um manches zu improvisieren oder für anderes wiederum eigene Worte zu finden. Dieses leise und immer stilvolle Abenteuer unter französischer Sommersonne spart nicht mal Tragik ganz aus, weiß aber so gut damit umzugehen wie eben Joachim Trier. Es ist ein Genuss, den Sommer mit Anaïs zu verbringen, zumindest die paar strandwarmen Momente voller Understatements, deren dahingleitende Figuren sich nicht nur einander, sondern auch selbst überraschen. Das Genre des französischen Liebesfilms: stets darauf bedacht, Wirbelwinden wie Anaïs niemals die Chance zu nehmen, irgendwo und irgendwann alle Prinzipien über Bord zu werfen und jeden Moment neu anzufangen.

Der Sommer mit Anaïs

Was dein Herz dir sagt – Adieu, ihr Idioten!

REVOLTE AM ABSTELLGLEIS

7/10


wasdeinherzdirsagt© 2022 Jérôme Prébois – ADCB Films


LAND / JAHR: FRANKREICH 2020

BUCH / REGIE: ALBERT DUPONTEL

CAST: VIRGINIE EFIRA, ALBERT DUPONTEL, NICOLAS MARIÉ, JACKIE BERROYER, PHILIPPE UCHAN, BASTIEN UGHETTO, MARILOU AUSSILLOUX, TERRY GILLIAM U. A. 

LÄNGE: 1 STD 27 MIN


Was das Herz begehrt, Wo die Liebe hinfällt – und jetzt auch noch das: Was dein Herz dir sagt. Aber ich empfehle allen  Kitschverweigerern gleich vorweg, sich in diesem Fall nicht unbedingt abschrecken zu lassen. Wir wissen ohnehin, dass so manche deutschsprachige Titelvergabe für internationale Filme am eigentlichen Thema vorbeigehen. Aber ein kleines Zugeständnis zum Original gibt es: Adieu, ihr Idioten (eine Floskel, die man derzeit auf viele Teilbereiche der Politik und Gesellschaft anwenden kann) ist zumindest erhalten geblieben. Und trifft die Seele dieser kleinen, bezaubernden Anarcho-Tragikomödie viel eher. Und hier sieht man wieder: Frankreich ist nach wie vor ungeschlagener Meister darin, Komödien zu inszenieren, die in keiner auch nur sonst wie banalen Szene zum Femdschämen einladen oder lächerlich wirken. Sie haben Charme, Tiefe und eine unnachahmbare Leichtigkeit, von welcher alle Höhen und Tiefen eines Films profitieren. Hollywood kann da immer noch lernen, Deutschland ebenso. Österreich – hätten wir unsere Kabarettisten nicht, sähe es traurig aus. Doch die im Film lebendig gewordenen Aussteiger-Franzosen verabschieden sich nicht mit einem Stinkefinger wie vielleicht anderswo, sondern mit einem Understatement, das Stil besitzt.

Hier, in Albert Dupontels selbst verfasster und immer nur dezent ins Absurde abgleitenden Komödie, in der er auch selbst die Hauptrolle spielt, treffen drei vom Leben betrogene Individuen aufeinander, die keinen Platz mehr in einer Welt des Fortschritts finden. Die am Abstellgleis gelandet sind, im Dunkeln sitzen, sich von Haarspray vergiften haben lassen oder durch Jungspunde frisch aus dem Studium ersetzt werden. Ja, so läuft es derzeit. Und jene, die das ganze so weit kommen lassen, trösten sich selbst mit heuchelndem Altruismus. Schließlich sind wir alle sowas von sozial. Suze Trappet, gespielt von Virginie Efira, wird an einem Lungenleiden sehr bald das Zeitliche segnen. Bevor dies aber geschieht, hat sie noch ein Ziel: Ihren damals zur Adoption freigegebenen Sohn finden. Wie es der Zufall so will, trifft sie auf den ausrangierten IT- und Sicherheitsexperten Cuchas, der sich so gut wie überall auf diesem Planeten hineinhacken kann und nun seinen Platz als Koryphäe auf seinem Gebiet räumen muss. Er will seinem Leben ein Ende machen, doch dieses Vorhaben geht schief. Zu guter Letzt komplettiert ein blinder Archivar (begnadet komisch: Nicolas Marié) das schräge Trio, der im Übrigen die meisten Lacher in diesem Film für sich beanspruchen kann und ja, man muss sagen: Witze über Blinde sind keinesfalls politisch korrekt. Doch wie Marié hier die Kunst des Slapsticks zelebriert, kommt den kuriosen Eskapaden eines Stan Laurel relativ nah. So sind die drei also unterwegs quer durch ein verfallenes, teils futuristisches Frankreich in einer Grauzone zwischen Vergangenheit und Moderne. Weinen ihrer Habenseite nach und trotzen einer unbestimmten Soll-Zukunft. Man könnte sagen, Was dein Herz dir sagt – Adieu ihr Idioten! ist eine skurril-sympathische, urbane Spazierfahrt mit dem Herzen am rechten Fleck. Gut, auch das ist eine Floskel. Doch lassen sich damit die Ambitionen der drei nur zu gut verstehen, und wenn man beobachtet, wie der unmöglich zu lösende Schicksalsknoten dennoch aufgeht und wir damit fast schon in einer metaphysischen, märchenhaften Dimension der Tragikomödie angelangt sind, dann schüttelt man nicht den Kopf ob so vieler Unglaubwürdigkeit, sondern nimmt diese Abgehobenheit mit einer fast schon zärtlichen Zuneigung an.

Und es ist, wie es ist: Virginie Efira ist, wie schon Huppert, Binoche oder Marceau, eine sinnliche Persönlichkeit, eine mit feinem erotischem Charisma. Liebevoll und warmherzig und man möchte sie in den Arm nehmen und knuddeln, und dazu auch vielleicht gleich die anderen beiden Loser, die eigentlich gar keine sind. Dupontel hingegen widmet den Film dem verstorbenen Monty Python-Mitglied Terry Jones und lässt sogar Terry Gilliam in einem kleinen, frechen Cameo den Screen passieren. Warum er das tut? Jones war ein großer Fan seines Regiedebüts Bernie, das schien Dupontel viel bedeutet zu haben. Den grotesken Humor der Briten aber übernimmt er ganz und gar nicht, obwohl sich einer wie John Cleese perfekt in das Setting eingefügt hätte. Was dein Herz dir sagt – Adieu, ihr Idioten! bleibt französisch und trifft daher mit nicht ganz so schwarzem, aber dunkelgrauem Humor ins Ziel. Bringt zum Lachen und erwärmt an so nebelgrauen Tagen wie diesen das zu allen Schandtaten bereite Gemüt, wenn es heißt, sich nicht unbedingt so verhalten zu müssen, wie die anderen es wollen.

Was dein Herz dir sagt – Adieu, ihr Idioten!