Vor uns das Meer

MÜNCHHAUSEN STREICHT DIE SEGEL

7,5/10

 

VOR UNS DAS MEER© 2018 STUDIOCANAL GmbH

 

ORIGINAL: THE MERCY

LAND: GROSSBRITANNIEN 2018

REGIE: JAMES MARSH

MIT COLIN FIRTH, RACHEL WEISZ, DAVID THEWLIS, KEN STOTT, MARK GATISS U. A.

 

Das Subgenre des nautischen Kinos hat bereits so einige sehenswerte Werke vorzuweisen, die noch dazu meist auf Fakten beruhen. Da brauchen die Masterminds am Drehbuch gar nicht mal wirklich viel brainstormen, die Geschichten der privat motivierten Abenteurer, Entdecker und Aussteiger müssen nur gut recherchiert werden, da findet sich einiges. Zum Beispiel – und vielleicht sogar noch im Kino zu sehen: die True Story eines jungen Paares, das nach einem Sturm so ziemlich verloren in den Weiten des Pazifiks herumschippert. Shaileene Woodley gibt da in Die Farbe des Horizonts eine überzeugend verzweifelte Performance ab. Noch nie allerdings hat das Kino eine Geschichte erzählt wie in Vor uns das Meer, inszeniert von James Marsh, der bereits mit Die Entdeckung der Unendlichkeit Eddie Redmayne alias Stephen Hawking zum Oscar verholfen hat. Das britische, konventionell erzählte Drama in stimmigem 60er-Jahre-Kolorit ist längst nicht nur ein Abenteuerfilm, und schon gar kein Survival-Drama. Der im Original als The Mercy betitelte, biographische Streifen ist so tragisch wie faszinierend, und wenn die Geschichte nicht wahr wäre, dann wäre sie eine brillant erfundene Ballade auf falschen Stolz, abstrakter Sehnsüchte, Ruhm und den Horror medialen Drucks.

Colin Firth, der wohl distinguierteste Gentleman im Promipool des britischen Kinos, spielt in diesem Abgesang auf den Seemann, der das Träumen lieber lassen hätte sollen, den Erfinder und Geschäftsmann Donald Crowhurst, dreifacher Vater und liebevoller Ehemann, der im Grunde ohnehin alles realisiert, was ihm durch den Kopf geht, und stets noch mehr will, vielleicht um sich selbst oder den anderen zu beweisen, was für ein sagenhafter Virtuose des Alltags er doch nicht ist. Aber was heißt Alltag – Crowhurst will den Absprung aus dem Hamsterrad wagen und bewirbt sich für eine Segelregatta rund um den Erdball, die noch nie Dagewesenes menschenmöglich machen soll: Nämlich die Umrundung der Welt ohne Landgang. Crowhurst ist die Teilnahme an der schon theoretisch schweißtreibenden Challenge nicht genug – er lässt auch sein eigenes Boot bauen. Und immer ist noch nicht genug. Der verträumte Idealist mit dem Geltungsdrang eines Superhelden lässt sich von der Presse hofieren und verpfändet für die Finanzierung seines Traumes sogar Haus und Hof. Kleine Notiz am Rande: Der unruhige Tausendsassa hat als Seemann und Nautiker nicht die geringste Erfahrung. Und so tritt er eine Lawine aus Sensationslust, Erwartungen und Versprechungen los, aus dem es bald kein Entrinnen mehr gibt. Sponsoren und Gläubiger steigen dem kurz vor Abfahrt kneifenden Crowhurst ordentlich auf den Schlips. Die geweckten Hunde, die den Schlitten ziehen sollen, beginnen plötzlich zu beißen. Erfolg oder Untergang, heißt das sofortige Dogma. Nur die Familie, die bangt auf der Seite des Biedermanns, der sich wie Ikarus gnadenlos selbst überschätzt und höher fliegt, als die legendären Wachsflügel es erlauben.

Was folgt, ist die bittere, selbstzerfleischende Chronik eines siegeswilligen Münchhausen, der letzten Endes der Wahrheit ins Auge sehen muss, sei es aus Stolz oder Feigheit. Die Quadratur des Äquators ist aber etwas, was sich nicht verbiegen lässt, und so verharrt der verblendete Anti-Abenteurer in einem Fegefeuer, in dem es kein Vor und kein Zurück mehr gibt. Colin Firth liefert nach seinem bravourös stotternden Auftritt als britischer Monarch mit dem gescheiterten, von allen Göttern verlassenen Lügenbaron seine bislang beste Performance ab – die Angst, Panik, Hoffnungslosigkeit und die Gier nach einem Rettungsanker, der sich als quälende Fata Morgana der Erfüllung darstellt, steht Firth jede Sekunde ins Gesicht geschrieben. Ebenso die Überforderung, der Irrsinn, die schlussendliche Leere wie Lehre. die der einsame Mann aus seinem Handeln ziehen muss. Eine Story wie von Ernest Hemingway, ein Gleichnis wie aus der griechischen Mythologie, ein Requiem auf das Prinzip Abenteuer. Wer wagt, gewinnt also auch nicht immer.

Vor uns das Meer

Bach in Brazil

MUSIK VERBINDET

7/10

 

bachbrazil

REGIE: ANSGAR AHLERS
MIT EDGAR SELGE, ALDRI ANUNCIACAO, FRANZISKA WALSER

 

Da sitzt er, der kauzige, verklemmte Musiklehrer außer Dienst. Inmitten einer ihm unbekannten brasilianischen Kleinstadt. Holt sein Blasinstrument hervor und spielt ein paar Takte auf dem Originalmusikblatt des Barockmeisters Johann Sebastian Bach – das Erbstück eines ehemaligen Schulfreundes. Allerdings musste der Housesitter und Reisemuffel den beschwerlichen Weg in das südamerikanische Bergstädtchen selbst zurücklegen, um begehrtes Kulturgut zu erlangen. Wider Erwarten landet der schräge Vogel abgebrannt und ausgeraubt bei einem bruchstückhaft deutschsprechenden Einheimischen. Das Notenblatt wiederzuerlangen wird nun zur absichtlich hinausgezögerten Aufgabe des Brasilianers – währenddessen der Musiklehrer wieder zu seiner eigentlichen Profession zurückfindet und den Kindern einer Jugendstrafanstalt das Musizieren beibringt.

Ansgar Ahlers herzerfrischende, unbeschwerte Multikulti-Komödie wirkt überraschend undeutsch. Vielmehr so, als wäre die liebenswerte, wohlwollend harmlose Version von Wie im Himmel ein brasilianisches Original, fern jeglichen Schwermuts eines Josef Hader aus Vor der Morgenröte. Dem lustvoll verknöchert aufspielenden Edgar Selge sieht man gerne zu, wie er seine Vorbehalte vor dem Fremden Stück für Stück ablegt und jene Lebenslust annimmt, die den Problemkindern in der Haftanstalt trotz ihrer misslichen Lage anzuhaften scheint. Doch die neue Aufgabe, das neue Ziel und die zu Tage tretenden Talente manch eines Halbwüchsigen wecken den Ehrgeiz für noch Größeres. Bei so viel positiven Vibes schaut das Publikum gerne zu, auch wenn die Story so scheint, als käme sie aus kreativen Kinderhänden. Das naive Feel-Good-Movie kontert jede Unannehmlichkeit des Lebens mit dem Wunder des Willens, der Freude und dem Glauben an das Gute im Menschen. Und die eigenwillige, spezielle Interpretation von Bachs Ensemblestück in Verbindung mit den Klängen aus dem fernen Süden zeigt wieder einmal mehr, dass Musik wirklich allen gehört. Quer über den Globus und wieder zurück.

Bach in Brazil