Der vermessene Mensch (2023)

KOLONIALE OPERETTE EINES UNTERGANGS

5/10


dervermessenemensch© 2023 Studiocanal GmbH


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: LARS KRAUME

CAST: LEONARD SCHEICHER, GIRLEY CHARLENE JAZAMA, PETER SIMONISCHEK, SVEN SCHELKER, MAX KOCH, LUDGER BÖKELMANN, LEO MEIER, ANTON PAULUS, ALEXANDER RADSZUN, CORINNA KIRCHHOFF U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Es ist des wunderbaren Peter Simonischeks letzte größere Rolle: Als Josef Ritter von Waldstätten, Professor für Anthropologie, mit weißem Rauschebart und unverkennbarer Stimmlage die Rassentheorie verbreitend, ohne es besser zu wissen. In Zeiten wie diesen – wir schreiben das Ende des neunzehnten Jahrhunderts – sind Menschen noch lange nicht alle gleich, nicht mal oder schon gar nicht in der Wissenschaft. Um die Unterschiede besser zu untersuchen, dürfen Waldstättens Doktoranden, darunter Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) im Rahmen der Berliner Völkerschau eine Delegation der Herero willkommen heißen, deren Land Namibia von Deutschland annektiert wurde. Jeder der Studierenden darf sich eine der Besucherinnen oder Besucher als persönliches Anschauungsobjekt unter den Nagel reißen – ob diese wollen oder eben nicht. Menschenrechte sind etwas fürs nächste Jahrhundert, möchte man meinen. Und noch nicht mal dann, so werden wir feststellen, werden so wundersame Dinge wie Selbstbestimmung, Freiheit und Frieden den Globus umspannen. Es wird noch schlimmer kommen – die Wurzeln dafür finden sich in der Wissenschaft, in mit Zirkel und Messinstrumenten abgetasteten Zahlendaten für Kopfumfang und Nasenbreite – wie lächerlich. Die ach so gebildeten zukünftigen Forscher, überwältigt durch ihren Drang, Erkenntnisse zu erlangen, fühlen sich, wie Alexander Hoffmann, vielleicht etwas befangen – oder gar geplagt durch ein Gewissen, dass sie dazu führt, im Zuge reflektierender Überlegungen Menschen wie die Herero als vollwertig zu betrachten – und sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen. Kezia Kambazembi, die ihm zu Studienzwecken zugewiesene junge Afrikanerin, wird für Hoffmann zum Grund dafür, nach deren Abreise selbst nach Namibia aufzubrechen, um sie wiederzufinden. Eine banale Romanze im Rahmen einer Chronik historischer Verfehlungen?

Zum Glück nicht. Das wäre ein Hohn auf die zu erlangende Ernsthaftigkeit, die Lars Kraume natürlich vorschwebt, um Geschichte lebendig werden zu lassen – selten gezeigte Geschichte, ein regelrecht tiefschwarzes Kapitel deutschen Kolonialismus, denn von nichts anderem handelt Der vermessene Mensch als vom Genozid der „Herrenmenschen“ an den Herero und Nama. Das Beste an Kraumes Film ist da immer noch die Zweideutigkeit des Titels. Man kann diesen entweder so lesen, in dem das wissenschaftliche Vermessen afrikanischer Ethnien thematisiert wird – oder eben, in dem die Vermessenheit der weißen Europäer, fremde Länder zu besetzen und dort notgedrungenen Widerstand mit mutwilliger Waffengewalt zu brechen, zur üblen Eigenschaft mutiert.

Die Ambition, im Rahmen eines Spielfilms für Aufklärung zu sorgen, mag begrüßenswert sein. Die Umsetzung jedoch atmet die abgestandene Luft eines lange nicht mit Sauerstoff versorgten Kostüm- und Requisitenfundus, der endlich mal entrümpelt wurde, um auszustatten, wo es nur geht. Man sieht, wie es damals wohl ausgesehen haben mag, man kann sich vorstellen, wie rustikal das Reisen durch die Wüste vonstatten ging. Wie handbemalte Zinnsoldaten über penibel arrangierte Dioramen marschiert das deutsche Militär durch die Fremde oder bellt hinter gezwirbelten Schnurrbärten Befehle zur Tötung und Unterwerfung der Aufständischen. Inspiriert von alten Fotografien, biedert Der Vermessene Mensch durch eine humanitäre Katastrophe. Die Erfahrungen, die Alexander Hoffmann letztlich macht, sind denen des Seemanns Marlow aus Joseph Conrads Herz der Finsternis nicht unähnlich. Der verstörende Weg zur Erkenntnis hätte die zentrale Figur von Kraumes Film auch auf eine innere Reise schicken können. Mag sein, dass diese Vorgehensweise einem gewissen Idealismus entspräche, der das Grauen von damals verkitscht oder verharmlost. Und dennoch ist Scheichers Figur substanzlos und schal, lediglich beobachtend und sich selbst verratend als Teil eines Systems, aus dem keiner ausbrechen kann.

Ernüchternd mag das alles sein, pessimistisch und anklagend. Und doch bleibt das alles nur verhaltene Bühne mit Schauwerten, die inmitten historischen Horrors selbst ein bisschen wie eine Volksschau anmutet, obwohl die Intention für diesen Film klarerweise eine ganz andere ist. Eine, die nie wieder vermessen und nicht vergessen will.

Der vermessene Mensch (2023)

Das schweigende Klassenzimmer

MUT ZUM UNGEHORSAM

8/10

 

DAS SCHWEIGENDE KLASSENZIMMER© 2017 STUDIOCANAL GmbH

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: LARS KRAUME

CAST: LEONARD SCHEICHER, ISAJAH MICHALSKI, ANNA LENA KLENKE, BURGHART KLAUSSNER, JÖRDIS TRIEBEL U. A.

 

Da herrscht einmal absolute Ruhe im Klassenzimmer, zur Freude frontalunterrichtender Lehrkräfte, und dann ist dieser Umstand auch wieder nicht in Ordnung. Wie denn nun? Auf Fragen jenseits des Pults in Richtung Schüler folgt ebenfalls keine Antwort. Jetzt wird es dann doch etwas seltsam, und das Ganze lässt sich nur mit gezieltem, absichtlichem Schweigen erklären. Gut, das kann man ja machen, zumindest heutzutage, in Gedenken an jemanden oder etwas, an einen ganz speziellen geschichtlichen Moment oder eben als Auflehnung. Die gegenwärtige Meinungsfreiheit duldet sowas, einer auffordernden Disziplin zum Trotz. Damals aber, in den 50er Jahren in Ostdeutschland, hinter dem Eisernen Vorhang und unter der Kuratel einer radikal-sozialen Exekutive, da ist ein Schweigen wie dieses der Anfang von etwas Bedrohlichem, zumindest für all die Genossinnen und Genossen, die da hinter ihren Schreibtischen aufpassen müssen wie die Haftelmacher, um Staatsfeinde oder staatsfeindliches Gehabe im Keim zu ersticken. Dumm nur für die Stasi, dass gerade zu diesem Zeitpunkt andernorts hinter den Stacheldrähten, Hämmern und Sicheln gerade der verlockende Aufstand geprobt wird. Genauer gesagt in Ungarn, wo bewaffnete Studenten gerade dabei sind, das kommunistische Regime zu stürzen. Solche Breaking News, wie sie aus dem ehemaligen Sissi-Königreich quer durch Europa hinausposaunt werden, die bleiben natürlich selbst in der abgeschotteten DDR nicht ungehört. Vor allem nicht, wenn jemand die Frequenz des „Feindes“ empfangen kann, womit der unmoralische Westen gemeint ist, und mit dem hier im Osten bei aller Freundschaft keiner was zu tun haben will. Wirklich nicht? Der gebildete Nachwuchs wird da hellhörig. Die Oberstufler und Intellektuellen, die haben ihre eigene Meinung, sind aber immer noch junge Wilde, die sich in ihrem Übermut und grünohrigem Enthusiasmus für eine Sache solidarisieren, für die es in einer Gesellschaft wie dieser zu dieser Zeit und an diesem Ort keinerlei Verständnis gibt.

1956 hat sich in einer Schule im damaligen Stalinstadt dieser im Film beschriebene Fall tatsächlich ereignet. Man könnte jetzt natürlich so etwas Ähnliches behaupten wie: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das auch. Die „jungen Wilden“, die das Ausmaß der latenten Bedrohung und der totalen Überwachung noch längst nicht ganz begriffen haben, waren zumindest fähig, die Welt um sie herum mit ihren eigenen Gedanken zu begreifen und so ein autarkes Gefühl für Gerechtigkeit, Moral und Humanismus zu entwickeln. Dabei stellt sich die Frage, wie denn all die Abiturienten überhaupt so ein selbstständiges Denken entwickeln konnten. Dazu muss man deren Elternhäuser näher betrachten, das soziale Umfeld, und bei manchen der jungen Querdenker lässt sich geheimes, wenn auch passives liberales Denken bei zumindest einem Teil der Erziehenden erahnen. Bei manch anderen wundere ich mich, doch letzten Endes ist es dann diese ungeplante Gruppendynamik, die einen Stein ins Rollen bringt, der das Konzept einer Zukunft aller Beteiligten radikal zerfetzt. Das ist in diesem als naiven Streich deklarierten, zweiminütigen Statement natürlich erstmal überhaupt nicht vorgesehen. Der trotzige Widerstand des gemeinsamen Akts wird zu einem aufwühlenden Drama des Bekennens, an dem nicht nur einige wenige daran verzweifeln werden.

ÜBER DIE SAAT DES UMBRUCHS

In Michael Haneke´s sozialpolitischem Psychogramm Das weiße Band waren die Auslöser für erstarkenden Terrorismus in einer vom Patriarchat geführten, diktatorischen Straferziehung einer Kindheit zu finden, die gar nicht anders kann als sich irgendwann aufzulehnen. In Das schweigende Klassenzimmer von Lars Kraume, einem Spezialisten für politische Visionen, Utopien und Sympathisant unbequemer Vernunftdenker (u. a. Der Staat gegen Fritz Bauer), ist die Saat für eine irgendwann in ferner Zukunft hinwegfegenden Revolution das individuelle Verständnis von Freiheit, Glück und der Menschenrechte. Die Klasse der Konterrevolutionäre, wie sie von Volksbildungsminister Lange (von erschreckendem Fanatismus: Burghart Klaußner) bezeichnet und damit gebrandmarkt wird, die nimmt den Weg eines in alle Einzelteile zerfallenden Niedergangs aus erzwungenem Verrat, Solidarisierung und Eifersucht bis hin zum Amoklauf und der Flucht in den Westen. Das schweigende Klassenzimmer ist ein so faszinierendes wie packendes Schülerdrama irgendwo zwischen Der Club der toten Dichter, Torberg´s Der Schüler Gerber und Philip Roth´s Empörung, nur mit einer deutlicheren politischen Stellungnahme, die seine Figuren aber keineswegs heroisiert, sondern eine zutiefst menschliche, psychologisch genaue Studie über den Unterschied zwischen eigenem und fremden Gedankengut, zwischen sehnsüchtiger Ideale und aufoktroyierter Ideologien formuliert. Kraume´s Film ist hervorragend erzählt, hätte aber womöglich längst nicht so eine Wirkungskraft, wenn Nachwuchsschauspieler wie Leonard Schleicher und Isaiah Michalski nicht so dermaßen aus sich herausgehen würden und spielen, als wären sie wahrhaftig Teil dieses erdrückenden Systems und dieser fatalen Situation. Michalski, der den labilen, zweifelnden Paul darstellt, und später mit der erschütternden Wahrheit über seinen Vater konfrontiert wird, agiert mit einer Intensität, der sich keiner entziehen kann. Überhaupt ist es, als befände man sich selbst in dieser Klasse, als wäre man selbst verantwortlich für diese Dilemma einer realen Dystopie, die zwar schon seit fast 30 Jahren Geschichte ist, in ihrem Totalitarismus aber jederzeit wieder hervorbrechen kann, in anderem Gewand, unter anderem Vorwand und an anderen Orten. Die Gedanken sind frei, und dann ist Schweigen mehr als tausend Worte wert.

Deutschland hat in diesem Jahr einen guten Lauf, was die Aufarbeitung der eigenen Geschichte betrifft – Das schweigende Klassenzimmer ist schon jetzt in seiner Brisanz und dem Mut zum Ungehorsam einer der denkwürdigsten deutschen Filme, die vor nicht mal einem halben Jahrhundert in manchen Teiles des Landes noch verboten gewesen wären.

Das schweigende Klassenzimmer