Devotion (2022)

BLACK LIVE MATTERS AM FLUGZEUGTRÄGER

6,5/10


devotion© 2023 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: J. D. DILLARD

BUCH: JAKE CRANE, JONATHAN A. STEWART, NACH DEM ROMAN VON ADAM MAKOS

CAST: JONATHAN MAJORS, GLEN POWELL, CHRISTINA JACKSON, THOMAS SADOSKI, DAREN KAGASOFF, JOE JONAS, SPENCER NEVILLE, JOSEPH CROSS, NICK HARGROVE, SERINDA SWAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 19 MIN


Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich, gerade mal Teenager, im Modellbaufachgeschäft meines Vertrauens Wurzeln schlug und dort all die Bausätze bekannter Kampfflugzeuge bewunderte, die es zu kaufen gab. Ganz besonders angetan hatte es mir die elegante wie typische Form des Vought F4U, auch genannt Corsair mit seiner nachtblauen Lackierung und den geschwungenen Tragflächen. Und Propeller geht sowieso immer, da können die Tomcats und F-18 Hornets noch so schallgeschwind übers Firmament düsen – den rustikalen Retro-Charme eines Corsair-Fliegers besitzen sie nicht. Und für all jene, die für den im zweiten Weltkrieg erstmals zum Einsatz gekommenen Flugmaschinen ebenso eine Portion Bewunderung abringen konnten – vielleicht in ihrer Kindheit oder auch als Airforce-Afficionado in späteren Jahren – dem sei nun die 50ties-Antwort auf Top Gun: Maverick ans Herz gelegt. Zu sehen ist dieses in den USA bereits im Kino gestartete Actiondrama hierzulande exklusiv auf Netflix. Devotion von J. D. Dillard mag zwar nicht die Akkuratesse des Tom Cruise-Vehicles besitzen, dass letztjährlich die Einspielkonkurrenz geradezu wegfegen konnte, bis Avatar 2 kam – hat dafür aber einen realen Bezug. Erzählt wird die Geschichte des schwarzen Corsair-Piloten Jesse Brown, des ersten afro-amerikanischen Fliegers der United States Navy – dessen Aufstieg, dessen Hadern mit sich selbst und einer rassistisch geprägten Gesellschaft, dessen Erfolg und letztendlich sein tragischer Tod.

In diesem mehr als Drama statt als Popcornkino angelegten Geschichtsfilm schreiben wir die beginnende Dekade der Fünfziger, und Kampfpilot Tom Hudner (Glen Powell, ebenfalls Co-Star von Tom Cruise im neuen Top Gun) trifft am Luftwaffenstützpunkt auf Rhode Island den eher kaltschnäuzigen und zurückgezogenen Kollegen Jesse Brown, dessen Verhalten sich nach näherer Betrachtung als nachvollziehbar herausstellt, war dieser doch Zeit seines bisherigen Lebens ständigen Erniedrigungen ob seiner Hautfarbe ausgesetzt, die er, sofern sie verbaler Natur waren, alle in einem Notizbuch zusammengefasst hat. Um mit der gesellschaftlichen Ablehnung besser klarzukommen, sagt er sich diese vor dem Spiegel immer wieder vor. Denn nur wer abhärtet, hat als Schwarzer vielleicht das Zeug zum Erfolg. Hudner allerdings kann den schroffen, aber verlässlichen jungen Mann ganz gut leiden – und rein zufällig wird dieser zu seinem Wingman. Statt den herkömmlichen Übungsfliegern müssen beide bald mit der Corsair klarkommen – und auf einem Flugzeugträger landen können, denn ein Konflikt im Osten lässt das Damoklesschwert des Kommunismus zittern: der Koreakrieg bahnt sich an. Und da sind die USA die ersten, die dem Einhalt gebieten wollen, mitsamt ihrer Luftstreitkraft.

Devotion ist keine trockene Chronik der Ereignisse, aufgepeppt mit einigen großartig choreographierten Flugszenen wie Roland Emmerichs Midway, bedient aber auch nicht die geschmeidigen Versatzstücke gängiger Flugzeugfilme wie eben Top Gun, und da schließe ich beide Teile mit ein. Devotion ist Biografie und Rassismusdrama, aber auch Psychogramm und erst zuallerletzt wirklich Actionfilm, wobei die Tendenz Richtung Kriegsfilm deutlicher zu sehen ist. Jonathan Majors, den wir in Kürze im Auftakt der neuen Marvel-Phase, und zwar in Quantumania als Kang zu Gesicht bekommen werden (den ersten Auftritt hatte er in der Serie Loki), verleiht der historischen Figur des Jessie Brown genug ohnmächtige Wut, Verbissenheit und Misstrauen – bei Familie und seinem Buddy Hudner macht er da eine Ausnahme, und genau dieses Changieren zwischen Selbstschutz und Offenheit lindert das obligate Pathos gern gezeigter, heldenhafter Piloten. Bei Brown steckt mehr dahinter. Bei einem wie Maverick – naja, das Übliche.

Mit dieser Tendenz zum historischen Gesellschaftsdrama mag der Film eingefleischte Aviator-Fans vielleicht ein bisschen am Gängelband halten. Devotion, basierend auf dem Buch Devotion: An Epic Story of Heroism, Friendship, and Sacrifice, will Militärgeschichte erzählen, und zwar mit Fokus auf ein Einzelschicksal. Das gelingt durchwegs wirklich gut, und selbst Details wie dem Stopover in Cannes inklusive der verbürgten Begegnung mit Liz Taylor findet seinen Eingang. Dadurch erhält Dillards Film einen Spin in Richtung einer melodramatischen, doch konventionell erzählten True History, die in seinen wenigen, aber beeindruckenden Kampfszenen Emmerichs Film oder gar Top Gun: Maverick um nichts nachsteht, sich dabei aber wie der schweigsamere und bedächtigere Bruder so mancher Lederjacken-Haudraufs gibt, die ihren Flieger bis ans Limit bringen wollen.

Devotion (2022)

Get Out

DER NEID DER WEISSEN RASSE

6/10


GetOut© 2017 Universal Pictures International Germany GmbH


LAND / JAHR: USA 2017

BUCH / REGIE: JORDAN PEELE

CAST: DANIEL KALUUYA, ALLISON WILLIAMS, CATHERINE KEENER, BRADLEY WHITFORD, CALEB LANDRY JONES, LAKEITH STANFIELD, STEPHEN ROOT, LIL REL HOWERY, RICHARD HERD U. A.

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Fehlt nur noch, das die illustre Gesellschaft an diesem Gartenfest irgendwo am nordamerikanischen Stadtrand zum Song von Michael Jackson die Hüften schwingt: It doesn‘t matter if’ you‘re black or white. Da hört sich der Spaß am Liberal Washing dann doch auf. Das wäre vielleicht eine Spur zu viel der Anbiederung an tolerante Ideale aufrichtiger Weltbürger, die das Miteinander tatsächlich leben wollen – und nicht nur so tun. Die frei sind von Vorurteilen und sich davor hüten, irgendwelche Unterschiede zu machen zwischen Hautfarben und sexueller Orientierung, die sowieso niemanden was angeht – auch nicht das Showbiz oder die Filmbranche. Aber das ist eine andere Geschichte. Diese illustre weiße Gesellschaft in Jordan Peeles Get Out bekennt sich immerhin zum neuen Trend, das Schwarz doch das neue Weiß sei. Und ältere Damen zeigen sich mit agilen jungen Hüpfern ebenfalls farbiger Natur, die sich in ihrer Eloquenz seltsam eingeschränkt geben. Da ist was faul im Reich der jovialen Weißen, denkt sich Daniel Kaluuya aka Chris Washington, der an einem Wochenende bei den Eltern seiner weißen Freundin reinschneit. Nein, das sind diesmal nicht Kathrin Hepburn und Spencer Tracy, und es scheint Catherine Keener und Bradley Whitford nicht im geringsten irgendetwas auszumachen, wenn sie raten müssten, wer zum Essen kommt. Ein schwarzer in der Runde – das entspricht dem Zeitgeist. Da muss man sich schließlich mit Schwarzen zeigen, denn sie sind neuerdings die Attraktion zum besseren Weltverständnis. Chris will das aber garantiert nicht sein – lieber links liegen gelassen als ob seiner physischen Beschaffenheit hofiert zu werden.

So viel Toleranzkitsch stößt sauer auf, und auch die beiden schwarzen Angestellten, die wie ferngesteuert durch die Gegend grinsen, illustrieren ein vor Polemik triefendes Bilderbuch über glückliche Minderheiten, die im Schutz der Weißen sie selbst sein können. Das wiederum ist die große Frage: sind diese Leute wirklich sie selbst – oder treibt Freundins Familie finstere Dinge im versiegelten Keller, der vom schwarzen Schimmel befallen sein soll.

2017 war Jordan Peeles sarkastischer Thriller wohl die Überraschung bei den Oscarnominierungen zum besten Film. Ein Horrorfilm in dieser Sparte? Gabs schon mit Der Exorzist. Nur: während Friedkins Teufelsaustreibung wirklich und wahrhaftig den Schrecken in die Gesichter ihres Publikum schrieb, setzt Get Out vor allem anfangs auf grimmigen Suspense, der mehr an Roman Polanski (u. a. Rosemaries Baby) erinnert als an irgendeinen Schocker. Get Out nimmt in seinem Film die ein paar Jahre später in aller Munde befindliche Woke-Kultur vorweg, die sich in ihrem Anstand ereifert und dabei durch die Hintertür einen neuen, noch perfideren Rassismus erstarken lässt. Hinter all dieser Bigotterie schwelt das System Sklaverei 2.0, zumindest in Peeles Alptraum-Universum, in welchem sich toughe Kerle wie Daniel Kaluuya zum Glück behaupten können. Er allein macht den Streifen dann auch wirklich sehenswert – die zurückhaltende Art, des „Behaviour“ des anständigen Gastes, der versucht, niemanden auf den Schlips treten zu wollen. Ihm gegenüber eine wirklich diabolische Catherine Keener, die in ihrem überheblichen Intellekt nur den Teelöffel schwingen muss. Man sieht: gewitzte Ideen vereinigen sich zu einem Escape Room-Szenario mit allerhand Kritik an eine Neidgesellschaft in all ihrer sozialen Heuchelei.

Im Ganzen aber stumpft sich die scharfe Klinge aus Wortwitz und beobachtbaren Irritationen recht schnell ab. Was bleibt, ist ein grober Rundumschlag mit handfestem Gerangel und klassischem Showdown. Von der Entlarvung eines heuchelnden Bürgertums bleibt wenig übrig, ein Exempel wird nicht statuiert. Die Lust am Thriller wird womöglich auch das potenzielle Publikum verspüren, könnte sich Peele gedacht haben. Stimmt, er hätte recht gehabt. Kaluuya als Nemesis macht Spaß. Hätte es anders kommen sollen, hätte das Drehbuch schon viel früher eine andere Richtung nehmen müssen. So bleiben dem Film nur Stereotypen und angerissene Twists, die sich nicht vollends einmal um die eigene Achse drehen.

Übrigens: Wer irgendwann während des Films glaubt, Karl Malden zu entdecken – das ist er nicht. Richard Herd sieht ihm aber zum Verwechseln ähnlich.

Get Out

Seitenwechsel

FRAUEN, DIE FARBE BEKENNEN

5/10


seitenwechsel© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: REBECCA HALL, NACH DEM ROMAN VON NELLA LARSEN

CAST: RUTH NEGGA, TESSA THOMPSON, ALEXANDER SKARSGÅRD, ANDRÉ HOLLAND, BILL CAMP U. A.

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Einen Film, in dem es um Schwarz oder Weiß geht, in Schwarzweiß zu halten, ist eine aufgelegte Sache. Schwarzweiß kommt immer gut, mittlerweile hat dieses Stilmittel nichts mehr Angestaubtes oder Vorgestriges an sich. Die Filmgeschichte schreibt sich auch unbunt weiter, und schon allein dadurch, da es nicht sehr viele Filme sind, die sich der kontrastreichen Bildsprache hingeben, umgibt diese Werke ein intellektuelles Flair und die Note des Künstlerischen, vor allem Fotografischen. Roma, das autobiographische Erzählkino von Alfonso Cuaron, besticht durch hingebungsvolle, lange Einstellungen. Demnächst wird Kenneth Branagh es genauso tun und seine Kindheitserinnerungen in Belfast ebenfalls auf solche Weise nacherzählen. Seitenwechsel, das Regiedebüt von Schauspielerin Rebecca Hall, macht es nicht anders und findet seinen Distributor bei Netflix. Das Drama basiert auf dem gleichnamigen Roman von Nella Larsen aus den späten Zwanzigerjahren, der im Dunstkreis der Harlem Renaissance entstand. Keine leichte Sache, diesen handlungsarmen Stoff in einen bewegten Film zu packen, geht es doch einzig und allein darum, wie sich zwei hellhäutige Afroamerikanerinnen das Leben in einem anderen gesellschaftlichen Kontext ausmalen.

Auf der einen Seite gibt es Irene, gespielt von „Valkyrie“ Tessa Thompson, die als wohlhabende Medizinergattin in Harlem Zeit und Geld genug hat, um Charity-Events zu organisieren. Auf der anderen Seite gibt es die attraktive Clare, die es geschafft hat, mit der Lüge, eine reinrassige Weiße zu sein, ein Leben unter Weißen zu leben. Zufälligerweise treffen sich beide in einem Café in New York. Beide kenne sich aus früheren Tagen. Clare mit ihrer blonden Haarpracht löst mit ihrem leichten afrikanischen Einschlag bei ihrem rassistischen Ehemann keinerlei Skepsis aus, was Irene völlig irritiert, hätte sie doch selbst die Chance gehabt, ihrer Herkunft zu entfliehen und die Seiten zu wechseln. Dieses Hin und Her wiederholt sich, nachdem Clare immer wieder bei Irene in Harlem aufschlägt und ihrem Gatten schöne Augen macht. Vielleicht, weil sie es nicht länger aushalten kann, ihre ethnische Identität zu verleugnen.

Die wirkliche – und einzige – Stärke an diesem Film sind neben der erlesenen Kameraführung von Eduard Grau (u. a. A Single Man, Buried) die völlige Verwirrung in Sachen hautfarbener Nuancen. Ruth Negga wirkt in dieser entsättigten Optik wirklich nicht so, als hätte sie afrikanische Vorfahren. Tessa Thompson schon eher. Doch ich will gar nicht so sehr über anthropologische Besonderheiten nachdenken. Das diesen Äußerlichkeiten eine solche Wichtigkeit beigemessen wird, erzeugt ein seltsames Unwohlsein, und man selbst erkennt, dass soziale Unterschiede niemals an sichtbaren Nuancen klassifizieren werden darf, so falsch fühlt sich dieser Umstand an. Diese Gefühlsregung provoziert Rebecca Hall natürlich ganz bewusst. Durch diese entsättigte Bildsprache ist Schwarz gleich Weiß und Weiß gleich Schwarz – Unterschiede verlieren sich im hart kontrastierten Schatten, der aber ziemlich selten zu sehen ist, da der Grauton vorherrscht und die Kluft zwischen beiden Gesellschaften schließen will, was auch am Ende des Films seinen Höhepunkt erfährt.

Für Seitenwechsel braucht man viel Geduld, denn oft tritt das dialoglastige Zeitbild auf der Stelle. Abgesehen von seiner Metaebene im Visuellen verweilt die narrative Ebene auf dem Niveau nachmittäglicher Smalltalks beim Tee oder eines verbal begleiteten Umtrunks zu gesellschaftlichen Anlässen, wo Reich, Schön und Distinguiert über Politik, Literatur und Kunst philosophiert. Regisseurin Hall verliert sich in den Gesichtern ihrer beiden Darstellerinnen, in ihren Frisuren und schicken Kleidern. In noblen Zimmerfluren und Champagnerperlen. Diese Details sorgen für eine elegante Fadesse, bei der man sich wünschen würde, dass das eigentliche Problem so sehr am Schopf gepackt wird, dass irgendjemand zur Abwechslung laut aufschreit. Die Stimme erhebt aber keiner, und daher ist  Seitenwechsel nur ein Lippenbekenntnis für etwas, das Frau, auch wenn sie sonst schon alles hat, nicht haben kann.

Seitenwechsel

The Best of Enemies

DURCHS REDEN KOMMEN D‘ LEUT‘ ZAM

7/10


thebestofenemies© 2021 Netflix


LAND / JAHR: USA 2019

BUCH / REGIE: ROBIN BISSELL

CAST: TARAJI P. HENSON, SAM ROCKWELL, WES BENTLEY, BABOU CEESAY, ANNE HECHE, BRUCE MCGILL, JOHN GALLAGHER Jr. U. A. 

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


Was tun eigentlich rechtsorientierte, fremdenfeindliche Idealisten, wenn sie im Laufe ihres gesellschaftspolitisch vorgeprägten Lebens plötzlich überzuckern, dass die andere Seite es besser weiß? Dass die Sache mit der Rassentrennung vielleicht doch nicht so Hand und Fuß hat? Was tun diese Leute eigentlich in Anbetracht eines sozialen Umfelds, das zur Gänze aus einem meinungspolitisch festgefahrenen Dunstkreis kommt? Würden Sie zugeben, manchmal anderer Meinung zu sein? Zu viel stünde auf dem Spiel – das gesamte mühsam errichtete soziale Netzwerk, alle Freunde und vielleicht gar Fans könnten Quergedachtes durchaus übel nehmen. Also schauspielern bis zum Selbstverrat? Natürlich, denn es gehört viel zu viel Mut dazu, um sich aus formelhaftem Gedankengut, kolportierten Vorurteilen und einer sich selbst aushöhlenden Vereinsghettoisierung herauszukämpfen.

Diese hier vorliegende True Story ist ein Beispiel dafür, wie leicht es passieren kann, sich dennoch vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Wer würde da gut in die Rolle des Ku Klux Klan-Obmanns passen, der plötzlich mit den verhassten Schwarzen zusammenarbeiten muss? Natürlich Oscarpreisträger Sam Rockwell. Ein guter Mann. Nicht leicht einzuordnen, nicht zwingend der Gute, auch nicht zwingend der Böse. Vielleicht aber wohl einer der ausdrucksstärksten Identifikationsfiguren des amerikanischen Kinos, als einer, der gut und gerne sein Weltbild adaptiert. Das war bei Duncan Jones´ Moon schon so. Das hat er als rassistischer Bulle in Three Billboards outside Ebbing, Missouri ebenso wunderbar ausformuliert. Und da zeigt er nun auch in The Best of Enemies überzeugend, wie es ist, sich nochmal neu überzeugen zu lassen.

Die Sache ist nämlich die: ein Brand in einer Schwarzen-Schule in Durham führt dazu, dass jene Rassenklassen in eine Weißenschule integriert werden müssten. Prinzipiell mal bedarf dieser Umstand keinerlei Diskussionen. Jedoch befinden wir uns hier Anfang der 70er Jahre und Durham ist nun mal ein rassistisch angehauchtes Pflaster, auf dem der sogenannte Klan sein Unwesen treibt und der Bürgermeister mit diesen noch dazu unter einer Decke steckt. Ein Jurist muss her – der wiederum initiiert ein sogenanntes Charette-Verfahren. Noch nie davon gehört. Dank des Films weiß ich jetzt: Diese Planungsmethode dient zur Stadtentwicklung mit direkter Beteiligung der Bürger. Das heisst: es wird abgestimmt, ob die Zusammenlegung nun stattfindet oder nicht. Auf der einen Seite steht als Co-Vorsitzender Sam Rockwell alias C.P. Ellis, auf der anderen Seite Aktivistin Ann Atwater, aufbrausend, tobsüchtig und resolut bis dorthinaus. Beide haben ihr Team, beide schenken sich nichts.

Dieser Fall ist natürlich ein schwer umzusetzender, durchaus trockener Filmstoff. Wie daraus eine spannende Chronik der Ereignisse extrahieren? Überraschenderweise funktioniert der über 2 Stunden lange Film nach einigen Anfangsschwierigkeiten, bei dem ein gewisses Dahinplätschern zu verorten ist, letzten Endes tatsächlich. Wird gar packend. Und das, ohne groß auf den plakativen Konflikt zwischen Schwarz und Rechtaussen Weiß zu setzen. Natürlich – um zu verdeutlichen, mit wem wir es hier zu tun haben, dürfen die ruchlosen Methoden des Klans nicht unerwähnt bleiben. Regisseur Robin Bissell aber spart sich den Zeigefinger und widmet seine fast schon unparteiische Hymne viel mehr der erhellenden Macht eines diplomatischen Gesprächs. Durchs Reden kommen d‘ Leut zam – sagt man. Durch Begegnungen können Meinungen auch revidiert werden. The Best of Enemies ist vielmehr die Entstehungsgeschichte einer unmöglichen Freundschaft, entworfen als lokales Polittheater. Dabei legt sich Taraji B. Henson (oscarnominiert für Finchers Benjamin Button) für ihre Glaubwürdigkeit als aufstampfende Supermama voller Inbrunst ins Zeug. Auch für eine zweite Chance, die jeder bekommen sollte. Und sei er auch noch so sehr der Feind.

The Best of Enemies

Neues aus der Welt

DIE LAGE DER NATION

7/10


neuesausderwelt© 2021 Bruce W. Talamon/Universal Pictures/Netflix


LAND / JAHR: USA 2020

REGIE: PAUL GREENGRASS

CAST: TOM HANKS, HELENA ZENGEL, ELIZABETH MARVEL, RAY MCKINNON, BILL CAMP, MARE WINNINGHAM U. A. 

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Auf diesen Film hatte ich schon gewartet, als im Herbst letzten Jahres der erste Trailer zu sehen war. Damals hieß es noch, diesen Western will man garantiert auf die große Leinwand bringen. Wo er, nach Sichtung, natürlich auch hingehört hätte. Herrliche Landschaftsaufnahmen in spätnachmittäglichem Licht, Indianer im Sandsturm (was für Bilder!), ausgesuchte und üppig ausgestatteter Naturalismus des kleinstädtischen Lebens quer durch die Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg. Aber gut, bei einem Western ist die Bildgewalt meist mit von der Partie. Viel eher der Grund dafür, diesen Film auf meine Watchlist gesetzt zu haben, war wohl die Überraschung, Systemsprenger Helena Zengel am Kutschbock neben Filmstar Tom Hanks zu sehen. Nora Fingscheidts Psychodrama rund um ein schwer erziehbares, aggressives Mädchen hat der Schauspielerin ja schon den Deutschen Filmpreis beschert. Das natürlich völlig zu Recht, da man ihr wütendes Gebaren nicht so schnell wieder vergisst. Diese Performance konnte selbst Paul Greengrass nicht übersehen – solche Rollen sind selten und solche Filme machen dann auch quer über den Globus von sich reden. Also dauerte es womöglich nicht sehr lange, bis Helena Hand in Hand mit dem zweifachen Oscarpreisträger durch die Wildnis stiefelte. Das passt doch, oder? Und wie das passt. Man nennt das auch: einen Draht zueinander haben. Greengrass fängt diesen glücklichen Umstand in seinem elegischen, teils sehr ruhigen Roadmovie genüsslich ein.

Dabei ist der Stoff des Western im Grunde der, den wir auch schon aus Disneys The Mandalorian kennen: ein Reisender findet ein besonderes Kind und will es seiner Bestimmung zuführen, während andere ihm auf den Fersen sind. Nur: Tom Hanks ist kein Kopfgeldjäger (würde er nie spielen), sondern – wenn man so will – der Larry King des 19. Jahrhunderts. Einer, der von Ort zu Ort tingelt und dem leseschwachen Volk die Nachrichten rezitiert. Neues aus der Welt eben, und alles im Rahmen einer Bühnenshow. Wie es das Schicksal so will, stößt er auf der Durchreise auf eine verunglückte Kutsche samt juvenilem Passagier. Rätselhaft: Das Kind spricht ausschließlich die Sprache der Kiowa und trägt deren Kleidung. Am besten wird sein, Captain Kidd – so Tom Hanks Charakter – bringt das heimatlose Wesen zu seinen Verwandten in den Süden.

Helena Zengel darf auch hier wieder ausrasten. Natürlich nicht so extrem wie in ihrem Debütfilm, aber die eine oder andere Widerborstigkeit kostet Hanks und Co durchaus einige Nerven. Und es sind nicht diese Ausraster, die vom enormen Talent des Mädchens überzeugen sollen – es sind die stillen Momente. Es ist Helena Zengels erfrischend ungefälliges Auftreten. Da war wohl auch Tom Hanks fasziniert, denn als Captain Kidd kann er das Kind selten aus den Augen lassen. Das Duo ergänzt sich prächtig, und die ruhigen Momente am Lagerfeuer oder am Kutschbock verraten eine solide Verbundenheit. Andererseits: an Hanks staubiges Sakko würde ich mich aber auch lehnen wollen. Der Mann ist wahrlich der gute Mensch Hollywoods – ein Humanist vor der Kamera, stets nach bestem Wissen und Gewissen handelnd. Mit sich hadernd, an sich zweifelnd, das wohl immer. Aber stets das Rechtschaffene verkörpernd, andere errettend, für andere sorgend, auch wenn’s für die eigene Achtung kaum mehr reicht. Das schafft Hanks wieder bravourös – er liefert, was man von ihm erwartet, und Helena Zengel kitzelt dabei noch mehr von dieser sinnenden Selbstlosigkeit aus ihm heraus.

Mag Neues aus der Welt noch so elegisch, vielleicht gar vorhersehbar oder plätschernd sein, mag das Genre des Westerns einen neuen Grad der späten Erschöpfung erreicht haben: Helena Zengel als Bindeglied zwischen den Fronten, als Heimatlose in einer Zeit voll posttraumatischen Vakuums begleitet den Seher durch ein weites Land, das gerade erst beginnt, sich neu zu orientieren. Greengrass Film ist also viel mehr Zeitbild als ein klassisches Genreabenteuer mit Blei, Saloon und Pferdemist. Eine Reportage voller neuer Nachrichten, in denen die alten keines Blickes mehr wert sind.

Neues aus der Welt

One Night in Miami…

REFLEXIONEN ZUM FEIERABEND

7,5/10


onenightinmiami© 2020 Amazon Studios


LAND: USA 2020

REGIE: REGINA KING

CAST: ELI GOREE, KINGSLEY BEN-ADIR, LESLIE ODOM JR., ALDIS HODGE, BEAU BRIDGES, LANCE REDDICK U. A. 

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Gestern, am 22. Jänner, wäre Soul-Legende Sam Cooke 90 Jahre alt geworden. Doch der Mann, der ist schon lange tot. Er wurde erschossen, angeblich in Notwehr, im Alter von gerade mal 33 Jahren. So einen Tod musste Malcolm X ebenfalls erleiden. Am 25. Februar 1964 allerdings wussten beide noch nichts von ihrem tragischen Schicksal, als sie mit Cassius Clay aka Muhammed Ali und dem Football Star Jim Brown auf den Sieg des berühmten Boxers gegen Sonny Liston anstoßen wollen. In einem Hotel in Miami, irgendwann spätnachts. Dieses Treffen hat allerdings nie wirklich stattgefunden, es ist rein fiktiv. Gekannt haben sich die vier Schwarzen aber schon. Vor allem Malcolm X und Ali waren gute Freunde, und ersterer konnte den Boxer letzten Endes auch zum Islam bekehren. Die vier treffen sich also in einem Hotelzimmer, und nicht an einer Bar, um zu feiern. Warum? Weil Malcolm X jede Sekunde fürchten muss, von Rassisten attackiert oder gar ermordet zu werden (was schließlich auch eintrat – aber nicht durch Rassisten, sondern durch Mitglieder der Nation of Islam. Doch das nur am Rande). In diesem Zimmer treffen vier unterschiedliche Lebenskonzepte und Einstellungen aufeinander, es wird gelacht, es wird aus früheren Zeiten erzählt, es wird gestritten, getrotzt und sich wieder versöhnt. Diese Nacht, die ist fast schon zu ideal, um wahr zu sein. Und dennoch wird sie unter der Regie von Schauspielerin Regina King (Oscar für If Beale Street Could Talk) zu einem vor allem textlich beeindruckenden Come Together.

Sowas passiert auch nur, weil One Night in Miami… ein Theaterstück ist. Dramen für die Bühne sind ausgesucht dialogstark, ausgefeilt bis zum letzten Punkt, die Atempausen akkurat gesetzt. Das war auch schon bei Ma Rainey’s Black Bottom so, ein verbal wuchtiger Film. Oder The Boys in the Band – Jim Parsons Einladung zum Geburtstag. Alles Werke, die mit sicherer Hand und geradezu vorbildlich für das Kino adaptiert wurden. Doch leider nur fürs Streamingkino, denn alle drei Werke wären auch visuell erste Sahne. One Night in Miami… punktet daher mit edler Ausstattung und ordentlich 60er-Kolorit. Was das Dialogdrama aber noch mehr zu einer ganz besonderen Gesprächsrunde werden lässt, ist am wenigsten dessen Plot, denn viel passiert hier nicht. Was diese Nacht bietet, ist ein Innehalten und Reflektieren, ein Abwägen des Status Quo und ein Sinnen über die Zukunft. Was den Film also so besonders werden lässt, dass ist das gemeinsame Agieren von vier recht unbekannten Künstlern, die in ihren inszenierten Alter Egos ihren Meister gefunden haben. Kingsley Ben-Adir entwirft einen sowohl scharfsinnigen als auch provokanten, obsessiven Malcolm X. Eli Goree ist als Cassius Clay der resolute Muskelprotz von nebenan, Aldis Hodge der wohl rationalste der vier und Musicalstar Leslie Odom Jr. setzt als leidenschaftlicher Soulsänger Sam Cooke mit einer detailliert manieristischen Performance dem Schauspielabend die Krone auf. Regina King  hat mit dem durchdachten Theaterstück schon vieles auf der Habenseite – mit dem seit langem wohl am besten aufeinander eingestimmten Ensemble in einem Film ist ihr damit ein wortgewandter, sehr empathischer und auch ernstzunehmend gesellschaftskritischer Wurf gelungen, der, ähnlich wie Ma Rainey’s Black Bottom, Kämpfer, Verbündete und Opportunisten im Kampf der Schwarzen um gleiches Recht sichtet und dabei in eine aufwühlende Vergangenheit blickt.

One Night in Miami…

Queen & Slim

AM WEG DES GRÖSSTEN WIDERSTANDS

6/10

 

Queen & Slim© 2020 Universal Pictures International Germany GmbH

 

LAND: USA 2020

REGIE: MELINA MATSOUKAS

DREHBUCH: LENA WAITHE

CAST: DANIEL KALUUYA, JODIE TURNER_SMITH, BOOKEM WOODBINE, STURGILL SIMPSON, CHLOË SEVIGNY, INDYA MOORE U. A. 

 

Da haben sie wieder den Salat, diese Amerikaner. Der mutwillige Mord an George Floyd hat abermals die Gemüter erhitzt, Demos auf den Plan und zu Gewalt aufgerufen, vorwiegend gegen die von Weißen dominierte Exekutive. Langsam müsste man vermuten, ob beim Auswahlverfahren für Polizisten nicht generell ein gewisser arger Schlendrian herrscht, denn wie sonst kommt der rassistische Pöbel andauernd in Griffweite einer Polizeimarke? Wie viele davon würden übrigbleiben, die frei vom Hass auf Schwarze sind?

In Queen & Slim, einem Thriller-Roadmovie quer durch die Vereinigten Staaten mit Ziel Florida, wird diesmal allerdings ein Weißer erschossen. Ein Ordnungshüter, der vor farbigen Mitbürgern panische Angst verspürt. Nach einem Tinder-Date geraten Queen & Slim in eine Fahrzeugkontrolle, werden angehalten, müssen aussteigen. Schon da beginnt der Missbrauch von Amtsgewalt. Ein falsches Wort folgt dem nächsten und schon liegt der tote Polizist in der Gosse. Notwehr, klarer Fall. Das sagt auch die Fahrzeugkamera des Streifenwagens. Doch nüchtern betrachtet werden die beiden vor Gericht den Kürzeren ziehen, oder nicht? Also: gemeinsam fliehen, Richtung Süden eben, um mit einem Flieger nach Kuba ins Exil.

Schon klar, das ist der Traum der Revoluzzer. Und von vornherein zum Scheitern verurteilt, das sagt uns das Kino schon längst, nicht erst seit Bonny & Clyde. Das sagt uns das Kino mit Thelma & Louise, Sugarland Express oder Wisdom – alles Roadmovies auf dem Weg ins Wunderland, in die Illusion, in eine bessere, nicht existente Welt, wo alles seine Ordnung hat, und jeder die Wahrheit kennt. Denn würde das jeder tun, wäre sonnenklar, dass Queen & Slim nicht zwingend schuldig sind. Womit der Film einen kleinen Denkfehler hat, der mich rückblickend nicht ganz zufriedenstellen kann. Fakt ist: die Tat wurde gefilmt, und zwar so gut, dass der Tathergang mühelos rekonstruiert werden kann. Warum also so eine Angst vor dem Rechtsstaat? Ist es tatsächlich so, dass die Justiz wirklich immer noch das Recht der Schwarzen sabotiert? Musikvideo-Macherin Melina Matsoukas überhöht den Pessimismus der schwarzen Minderheit so stark, dass das Ausbrechen aus dem Rechtsstaat näherliegt als die ungleich höhere Chance zu nutzen, einen Prozess durchzustehen, der die Korrumpierbarkeit der Justiz nicht ganz so über einen Kamm schert. Nein, das machen sie nicht, die beiden. Dafür sind sie viel zu sehr Black Power, viel zu sehr gegen die Politik eines Donald Trump, die den Grundverdacht der Ablehnung mit sich herumträgt. Queen & Slim kämpfen sich vorwärts und feiern ihren gar nicht so privaten Aufstand. Badl stehen Gleichgesinnte Schulter an Schulter. Matsoukas arbeitet diesen afro-amerikanischen Gemeinschaftssinn extrem hervor. Die beiden Outlaws werden meist umjubelt, werden zu Helden hochstilisiert, zu Vorbildern gar, was natürlich nach hinten losgeht, wie der Film an manchen, aber vielleicht zu wenigen Stellen klar hervorhebt.

Queen & Slim ist die zeitgemäße Antithese zu Green Book, doch der Rassenhass bleibt meist außen vor. Er geistert wie ein Gespenst in den Köpfen der Protagonisten, als hätten beide ihr fixes Vorurteil trotz fehlenden empirischen Wissens, als wäre es rein die Kränkung für ein Unglück, das stellvertretend sein muss für einen ganzen gesellschaftlichen Zustand. Es ist ein Gefühl, dem beide nachgeben, mit Leidenschaft, einem richtigen Gangsterpärchen gleich, doch für das Gute nur. Das Amerika, das an den Fenstern des türkisfarbenen Oldtimers vorbezieht, ist seltsam anachronistisch. Sklaven auf dem Feld, Pferde auf der Ranch, und im Keller schrummt der Blues. Ein reaktionäres Amerika, das Freiheit nur denen gibt die es erkämpfen wollen. Queen & Slim – ein gefälliger Brother- and Sisterhood-Gruß, der längst nicht immer erwidert wird.

Queen & Slim

Die Stadt ohne Juden

UTOPIE DES SCHEINBAR UNMÖGLICHEN

7/10

 

stadtohnejuden© 1924 / Foto: FAA/ZDF

 

LAND: ÖSTERREICH 1924

REGIE: HANS KARL BRESLAUER

CAST: JOHANNES RIEMANN, EUGEN NEUFELD, HANS MOSER, FERDINAND MEYERHOFER, ARMIN BERG U. A. 

 

Als hätte er es gewusst, der österreichische Schriftsteller Hugo Bettauer, der seinen Roman Die Stadt ohne Juden 3 Jahre vor seinem Tod aufgeschrieben hat. Als wäre die Prophezeiung eine metaphysische Tugend der Künstler. Nicht nur Bettauer, auch anderen war diese antisemitische Drift ein Dorn im Auge, ein unübersehbares Schwelen aus Missgunst, Niedertracht und faschistoiden Anomalien, das sich da abgezeichnet hat. Die 20er Jahre – ein brodelndes Jahrzehnt, gleichzeitig nach und vor dem Krieg. Das Chaos der Börsen, das Erstarken eines manipulativen Redners für den Nationalismus. All das und noch vieles mehr. In den 20ern, da konnte man gerade noch intellektuellen Widerstand leisten gegen ein zunehmend fanatisiertes Politpublikum. Da konnten Künstler gerade noch sagen, was ihnen im Kopf herumgeht, bevor die Meinungsfreiheit in wenigen Jahren flöten gehen wird. Hans Karl Breslauer hat Die Stadt ohne Juden zwei Jahre später verfilmt – diesen Roman von Übermorgen, diese Was-wäre-wenn-Vision von etwas Unmöglichem, von dem Auseinanderreißen einer Gesellschaft, die nur in ihrer Vielfalt so ergänzend und ausgleichend überleben kann. Utopia heißt auch die Stadt, in der diese politische Absurdität Gestalt annehmen kann. Es wird politisiert, in Gasthäusern philosophiert, die Ablehnung gegen jene Minderheit, die den Wohlstand anscheinend gepachtet hat und im Geiste des Kaufmannes von Venedig die Wirtschaft der Nicht-Juden am Laufen hält, in dem sie wie niemand sonst das Geld vermehren kann, unverhohlen hinausposaunt.

Was für ein Klischee, allerdings viel eher die Überzeichnung eines geduldeten Nischendaseins, in welchem sich das jüdische Volk zum Kenner der Materie aufschwingen konnte. Von diesem Klischee, dieser Abhängigkeit will sich der Ur-Utopia-Wiener befreit wissen. Diese Sache findet im Parlament Gehör, und ehe sich der gottgleiche Bundeskanzler versieht, findet der geplante Erlass positive Zustimmung. Das jüdische Volk hat also bis Weihnachten das Land zu verlassen. Der Exodus beginnt. Und niemand wird für möglich halten, was dann geschieht. Die Folgen werden spürbar sein, und dieses ethnisch gesäuberte Utopia wird sich diese Freiheit wohl ganz anders vorgestellt haben.

Wirklich spannend an Die Stadt ohne Juden ist neben einer prophetischen Grundstimmung vor allem auch die Tatsache, dass dieses Werk lange Zeit als verschollen galt. Die letzte Aufführung des Filmes, die kontrovers diskutiert wurde, fand 1933 statt. Dann: nichts mehr, knapp 60 Jahre lang. Bis 1991 im Filmmuseum der Niederlande eine der letzten Kopien gefunden wurde. Die Qualität ließ zu wünschen übrig. Doch es wird noch besser kommen. Wir schreiben 2015, Paris. Auf einem Flohmarkt findet ein Filmsammler eine weitere Rolle und übergibt sie dem Österreichischen Filmmuseum, das folglich das Budget zusammenkratzen konnte, um eine vollständige Restaurierung zu starten. Entstaubt, gereinigt, neu vertont und in Duplex eingefärbt, wie zuvor schon Fritz Langs Metropolis oder Das Wachsfigurenkabinett, beides Beiträge des expressionistischen Films wie eben Breslauers Werk. Es ist ein klarer, vielleicht zu stark vereinfachter, aber energischer Blick zurück in das mahnende Denken der Liberalen. Man kann auch sagen eine Art Denkmal, vielleicht gar eine Hymne auf das jüdische Volk und eine Predigt gegen das aufkeimende Hitlerdeutschland, dass sich Anfang der 30er längst festgesetzt hat. Wir sehen Szenen auf den Gassen und Straßen Wiens, mitunter klar erkennbar das aufgebrachte Volk direkt vor dem Volksgarten. Die Outdoor-Szenen sind ungewöhnlich dokumentarisch, ihrer Zeit geradezu voraus. In dieses turbulente Geschehen mischt sich ein bekanntes Konterfei: das des jungen Hans Moser, auf seine Art unverkennbar als kauziger, nörgelnde Grantler, der als Antisemit Bernard letzten Endes den Verstand verliert und in einem bizarren Konstrukt seiner Gedanken als verlorenes Häufchen Elend keine Zukunft hat. Kunstvoll auch die Neuvertonung zwischen stark verfremdeten Wienerlied,  Massenlärm und Kletzmermusik, was die irre Vision Bettauers nochmal unterstreicht. Die Realität hat den Film dann längst eingeholt, und zwar um Lichtjahre. Umso erschreckender der Einblick in den Ist-Zustand von damals, der das Unvorstellbare nur in zumutbaren Ansätzen vorwegnehmen konnte.

Die Stadt ohne Juden

Just Mercy

GNADE VOR UNRECHT

7/10

 

Just_Mercy_Picture_No_1© 2020 Warner Bros GmbH

 

LAND: USA 2020

REGIE: DESTIN DANIEL CRETTON

CAST: MICHAEL B. JORDAN, JAMIE FOXX, BRIE LARSON, TIM BLAKE NELSON, O´SHEA JACKSON U. A.

 

Da blieb kein Auge trocken: Als der reuige und zum Glauben gefundene Sean Penn in Dead Man Walking seinen titelgebenden letzten Gang antreten musste, war die Schmerzgrenze des zumutbar Tragischen eigentlich längst erreicht. An seiner Seite: Susan Sarandon, die als Emotional Support des zum Tode Verurteilten ihren Oscar erhielt. Wen allerdings dieser ultimative Film zur Todesstrafe noch immer nicht ganz davon überzeugt hat, dass dieses drakonische Mittel nichts mehr anderes ist als ein so sinnloser wie obsoleter Rest aus dem Mittelalter; wer nach diesem Film immer noch nicht verstanden hat, dass die Dunkelziffer aller Fehlverurteilten erschreckend hoch und Tod durch Tod keine Lösung ist, der könnte sich durch den vor Corona im Kino angelaufenen und nun auf amazon als Streaming-Highlight abrufbaren Justizdrama nun die letzten Prozent seines Zweifels ausräumen lassen. Just Mercy beruht auf den als Buch verfassten Erfahrungen des Bürgeranwalts Bryan Stevenson und präsentiert ein ausgeschlafenes Ensemble, das gegen die Todesstrafe und für eindeutig mehr Gnade wettert.

Gnade vor Unrecht könnte der Slogan sein, der dieser Art von Strafe den Tod bringen kann. In vorliegendem Film wagt der Harvard-Jurist Stevenson, souverän und einnehmend verkörpert von Michael B. Jordan, das Abenteuer Südstaaten – und lässt sich gerade dort nieder, wo die rassistische Kacke Ende der 80er immer noch gehörig am Dampfen ist. Mutter sieht das kritisch, ungefährlich ist dieses Unterfangen nicht. Doch Stevenson will helfen, ist durch und durch Humanist und steht für eine Gerechtigkeit, die verhindern soll, das „Herrenmenschen“ Menschenrecht mit Füßen treten. Getreten werden die Schwarzen dort tagaus tagein. Leicht ließe sich die Darstellung weißer Rednecks in Uniform als gängiges Klischee interpretieren. Die erschreckende Erkenntnis wird aber sein: diese Darstellung ist womöglich gar noch untertrieben. Ein Schwarzer als Sündenbock ist schnell mal herbei intrigiert und Zeugenaussagen zum Schaden anderer sehr leicht eingeholt. Jamie Foxx, der landet dann in der Todeszelle. Natürlich für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Stevensons CEO-Anwaltskanzlei, speziell auf Todesstrafen und deren Revision fokussiert, will es in diesem Fall wissen – und legt sich mit korrupten, kriminellen Mechanismen auf Seiten des Gesetzes an.

Just Mercy ist ein hemdsärmeliges, gehaltvolles Stück Justizdrama, alles nach Fakten. Jamie Foxx war nach Ray womöglich nie mehr so gut, sein nachvollziehbares Verhalten zwischen gottergebener Resignation vor dem Damoklesschwert der Ungerechtigkeit und dem Fall ins Bodenlose balanciert der Schauspieler in einer intensiven Performance. Die Szenen im Todestrakt erinnern etwas an The Green Mile, und auch der Schrecken selbst – der Tod auf dem elektrischen Stuhl – zeigt sich wiedermal als Barbarei, die sich vom Ketzerverbrennen am Scheiterhaufen nicht viel wegbewegt hat. Ein guter Film, ein durchaus wichtiger Film, und einer, der diesen ewigen Kampf gegen die Windmühlen der US-Strafgesetze wieder in Erinnerung ruft.

Just Mercy

Skin

TABULA RASA MIT HAUT UND HAAR

7/10

 

skin© 2019 24 Bilder

 

LAND: USA 2018

REGIE: GUY NATTIV

CAST: JAMIE BELL, DANIELLE MCDONALD, VERA FARMIGA, MIKE COLTER, MARY STUART MASTERSON U. A.

 

Über dem rechten Auge ein Pfeil, der nach oben zeigt. Der Name des Vereins, dem Bryon „Babs“ Wydner angehört, steht in verschwurbelten Lettern gleich unter dem Jochbein. Und auch sonst nennt der junge Mann zahlreiche Tattoos sein Eigen, die vielleicht nur temporär cool sind, weil die Phase der Selbstdefinition durch andere gerade der probateste Weg ist, um zu überleben. Irgendwann aber kommt der Moment, in dem sich zwei Existenzen über den Weg laufen, oder besser: in dem ein Lebensmensch erscheint, der nichts davon hält, wenn der andere Jagd auf Immigranten und ethnische Minderheiten macht. Das ist eine Ideologie, die ist so kleinkariert und ohne Durchblick, die kann durch nichts ihren Anspruch als Herrenrasse geltend machen. Wenn die eigene Existenz aber von vorne bis hinten im Argen liegt, ist dieses rechtsradikale Gedankengut gerade gut genug, um ein Rädchen in einer verqueren Gemeinschaft zu sein, die was auch immer propagiert. So zeigt sich das Defizit einer lieblosen Kindheit in einer seiner destruktivsten Formen. Der ganze Hass findet da sein Ventil, und da sich andere Ethnien mühelos brandmarken lassen, dann werden es auch wohl diese Minderheiten sein, die als Sündenbock herhalten müssen. Bryon Wydner war ebenfalls einer dieser so wütenden wie gescheiterten Existenzen: furchtbare Kindheit, heimat- und ziellos. Aufgelesen von Ma und Pa, so wie sie sich nennen, ebenfalls gesellschaftlich unter aller Sau, ebenfalls vertrieben, wohnhaft in einem Knusperhaus im Wald, voller gehirnwaschender Gedanken und verquerer Wikinger-Philosophien, die anders als der Ku Klux Klan eher den nordischen Gottheiten huldigen – Thor, Freya, Odin und wie sie alle heißen. Na klar, Wydner macht da mit, jahrzehntelang – bis eben die alleinerziehende dreifache Mutter Julie in sein Leben tritt.

Skin ist, und ich wollte es kaum für möglich halten, am Ende des Tages ein Feel-Good-Movie. Oder, um es etwas weniger euphemistisch zu deklarieren: Ein Feel-Better-Movie. Die Lebens- und Wandelsgeschichte des Neonazis oder Vinlanders ist aber auch weder ein Film über Rechtsradikalismus noch über gesellschaftspolitische Zustände in den USA, dafür bleibt das Werk zu sehr an der Oberfläche. Skin will nur eines sein: die Chronik einer Loslösung aus einem familiär anmutenden Totalitarismus, aus einem sektenähnlichen Konstrukt der Abhängigkeit und selbstlosen Verpflichtung. Der Extremismus, den Guy Nattiv in seiner Verfilmung von Wydners Um- und Aufbruchsmemoiren schildert, ist eine Variable. Der Fokus liegt auch weder auf dem Alltag des Vinlander-Vereins noch will Skin dessen Strukturen analysieren. Worum es hier einzig und allein geht, das ist der Wandel zu einem besseren Menschen, unterteilt in Reflexion, Evaluierung und Umsetzung, Rückschläge inbegriffen. Denn nichts im Leben bekommen Leute wie Wydner geschenkt, den Ex-„Billy Elliott“ Jamie Bell zwischen schwankender Zuversicht, Aufbäumung und kaum unterdrückbarer Aggression plausibel verkörpert. Wie Zwischentitel eines Artikels, und als würde wie um ein gravitätisches Zentrum herum das ganze packende Drama einer Flucht nach vorne kreisen, gibt Regisseur Nattiv Einblick in die jeweiligen Stadien der Tattoo-Entfernung, vom ersten bis zum letzten. Dazwischen die True Story eines Präzedenzfalles, mehr Psycho- als Sozialdrama, mit dem unerwarteten Impakt zuversichtlicher Good News, die Veränderung – vielleicht auch für andere – menschenmöglich macht.

Skin