John Wick: Kapitel 4 (2023)

GOODBYE TO YOU MY TRUSTED FRIEND

7/10


john-wick-chapter-4© 2023 Leonine Studios


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: CHAD STAHELSKI

BUCH: MICHAEL FINCH, SHAY HATTEN

CAST: KEANU REEVES, DONNIE YEN, BILL SKARSGÅRD, IAN MCSHANE, LAURENCE FISHBURNE, SHAMIER ANDERSON, CLANCY BROWN, HIROYUKI SANADA, MARKO ZAROR, RINA SAWAYAMA, SCOTT ADKINS, LANCE REDDICK U. A.

LÄNGE: 2 STD 49 MIN


Alles beginnt eigentlich damit, dass sein Hundewelpen Daisy unter brutaler Einwirkung von außen das Zeitliche segnen musste. Und damit, dass sich jene Übeltäter, die das Haustier auf dem Gewissen haben, auch noch seinen Ford Mustang klauen. Einer wie John Wick könnte diese Unbill, unter Berücksichtigung dessen, was er alles schon erlebt hat, auf die leichte Schulter nehmen. Er muss es aber nicht. Wäre seine Frau nicht vor Kurzem erst an einer Krankheit verstorben, wären die weiteren Entbehrungen vielleicht zwar tragisch, aber zu bewältigen gewesen. So kommt alles zusammen – und der Killer im Ruhestand muss leider wieder seinen Instinkt aktivieren, um all jene zur Rechenschaft zu ziehen, die ihm Übles wollten.

Unter der Regie von David Leitch und Chad Stahelski erblickte 2014 eine dunkel umwölkte Figur des Actionkinos das Licht der Leinwand, die mittlerweile zur Ikone wurde. Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, strähnige Haare bis zur Schulter, die ein bärtiges Gesicht umrahmen, aus dessen Mund nur selten viele Wörter kommen. Der lakonische Rächer der Neuzeit war geboren. Eine Mischung aus Clint Eastwood, The Crow und dem Mann aus Stahl, der physische Belastung neu definiert, Schmerzen erduldet und Gegnern gerne aus nächster Nähe ins Gesicht schießt. Wick verfolgt weder ein hehres Ziel noch tritt er für andere ein wie John McLane. Sein Krieg ist reiner Selbstzweck, die Opferbereitschaft gleich null. Erlösung nur für sich selbst ist das Credo eines Egomanen. Und Keanu Reeves, schwerfällig und wortkarg, scheint diesen Finsterling zu lieben. Nach Weltenbefreier Neo aus Matrix ist dies die nächste Instanz – in einer Welt, die genauso projiziert scheint wie das grünstichige Elysium, in welchem die Menschheit in ferner Zukunft dahindämmert. In dieser Welt, unserer recht ähnlich, herrscht die Hohe Kammer – eine Killer-Gilde, die bis in die höchsten Kreise der Welt- und Konzernregierung ihre Bonzen sitzen hat. Niemand kann der Hohen Kammer das Handwerk legen, sie ist so unangreifbar wie Hydra oder Spectre. Bricht einer, der dem Verein angehört, auch nur irgendwie die Regeln, bläst das Syndikat zum Halali. Und die weltbesten Killermaschinen können sich, wenn sie geschickt sind, satte Prämien einstreichen, wenn sie dem Falschspieler das Licht ausblasen.

Niemand hat mit ihm gerechnet, mit John Wick, der immer noch die Wut ob seines getöteten Hundes im Bauch hat und sich durch Kapitel 2 und Kapitel 3 hindurch gegen den Rest der Welt erwehren hat müssen. In Kapitel 4 scheint nun alles auf eine Götterdämmerung hinzudeuten. Der schmierige und diabolische Franzose Marquis de Gramont (Bill „Pennywise“ Skarsgård), einer der Oberen der Hohen Kammer, hat grünes Licht dafür bekommen, mit Wick zu verfahren, wie er gerne will. Dafür engagiert er den in Killer-Rente gegangenen Chinesen Caine (Donnie Yen, genauso blind und im Stockkampf so versiert wie sein Alter Ego Chirrut Imwe aus Rogue One – A Star Wars Story ). Der will natürlich nicht gegen einen guten alten Freund antreten, muss aber, wenn ihm das Leben seiner Tochter lieb ist. Die erste Begegnung der beiden erfolgt dann im Continental Hotel in Japan, Zuflucht für Jäger und Gejagte. Von da an rast der Body Count wie der Blutdruck eines Cholerikers nach oben, es wird gekämpft, geschossen, gefallen und wieder aufgestanden. Glas splittert, Blut spritzt – aber nur dezent. Wem diese Art der Konfrontation liegt, der wird auch die nächsten zwei Stunden sein Vergnügen finden. Da alles auf ein Finale hinausläuft und die Geschichte am Ende des Films auserzählt sein wird, glänzt das dritte Sequel auch wirklich mit einem viel straffer gezogenen Narrativ, das genug Dramatik besitzt, um auch immer mal wieder Weisheiten vom Stapel zu lassen, die für das Heroic Bloodshed-Kino Asiens so unentbehrlich sind.

Einen guten Tod gibt es nur für ein gutes Leben. Sagt Hiroyuki Sanada als Hotelchef Koji in den wenigen Dialogsequenzen, die mit John Wick geführt werden. Oder: Wer sich an den Tod klammert, wird leben. Wer sich ans Leben klammert, wird sterben. Und schon ist sie da: die Apotheose der Action-Virtuosen, die jede Kampfkunst beherrschen und für die Frakturen nur antiquierte Schriftzeichen sind. Die vom dritten Stock auf den Asphalt fallen oder überfahren werden. Das passiert, wenn das Actionkino Amerikas so sein will wie die irren Poeten fernöstlicher Bleigewitter eines John Woo, Gareth Evans oder Ringo Lam: Gewalt wird zur Bühnenshow, zur üppig ausgestatteten Oper zwischen Kirschblüten und Eiffelturm. Chad Stahelski hat viel von seinen Vorbildern gelernt, entsprechend zielsicher hat er all sein Können auch in den letzten und womöglich besten Teil der Reihe hineingebuttert: John Wick: Kapitel 4 ist ein Fass ohne Boden, wenn es um stylishe Locations, entfesselte wie fancy Farbenspiele und wummernde Rhythmen geht. Die Kamera liefert ein Comic-Panel nach dem anderen, mixt diese mit Sequenzen wie aus einem Videospiel, wenn minutenlang nur die Sicht von oben John Wicks Eskapaden zeigt. Es ist, als hätte der lakonische Killer mit der Lust am Töten, die man ihm aber seltsamerweise nicht übelnehmen kann, seine ersten Handlungen als Graphic Novel-Antiheld absolviert. So mutet der Streifen als verfilmter Comicstrip an, der gar keiner ist.

Da sich Stahelski auch von der obszönen Brutalität so mancher asiatischen Alleskönner fernhält, bleibt auch die Gewalt entrückt und irreal. Mitunter kommt es vor, dass Opfer auf wundersame Weise verschwinden, wenn sie eliminiert wurden. Realität spielt also keine Rolle mehr, was zählt ist das schillernde Pathos eines Krieges „Einer gegen Alle“. Zynisch, melancholisch und mitunter auch witzig – Action als theatralische Kunstform.

John Wick: Kapitel 4 (2023)

RRR (2022)

SUPERHELDEN DES SUBKONTINENTS

7/10


rrr© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: INDIEN 2022

BUCH / REGIE: S. S. RAJAMOULI

CAST: N. T. RAMA RAO JR., RAM CHARAN, ALIA BHATT, OLIVIA MORRIS, RAY STEVENSON, ALISON DOODY U. A. 

LÄNGE: 3 STD 7 MIN


Wie viel Pathos verträgt ein Film? Nach indischen Maßstäben scheint es da keine Grenzen zu geben. Überhöht wird, was Emotionen weckt. Ins Gottgleiche überstilisiert wird, wer das Zeug hat, als Identifikationsfigur einer ganzen Nation zu gelten. Da muss man vielleicht selbst irgendeinen höheren Bezug zur Mentalität des gigantischen Subkontinents haben, der über die mitgebrachten Erfahrungen aus einer Fernreise hinausgeht. Indisch essen reicht da auch nicht, einen Tanzkurs belegen ebenso wenig. Um die authentische Filmsprache eines Landes, die sich nicht den Stereotypen des Westens anbiedert, schätzen zu wissen, muss man Kajol, Salman Khan oder Shah Rukh Khan bereits mit der Muttermilch verabreicht bekommen haben. Muss man allwöchentlich mit der Familie oder später mit Freunden ins Kino gegangen sein, um sich mindestens drei oder vier Stunden lang der bunten, überbordenden Fülle an Rhythmen, Gefühlen und Action-Akrobatik hingegeben haben, alles knallbunt und expressiv bis zur Erschöpfung. Überzeichnet, exaltiert, so richtig melodramatisch.

Dass diese Art, Filme zu machen, nicht ins Groteske ausschlägt, ist einem Lebensgefühl zu verdanken, das all diesen Werken zugrunde liegt. Für das westliche Publikum, zu welchem ich mich zähle, und das mit amerikanischen Narrativen aufgewachsen ist, enthält die indische Erzählweise zumindest jene Exotik, die uns Fernweh verursacht und uns deswegen so sehr fasziniert, weil wir in Europa relativ wenig davon besitzen. Ein Walzer wirkt geradezu statisch im Vergleich zu einem Bollywood-Tanz. Dieser gehört ins indische Kino wie der Koriander ins Chicken Masala. In RRR – was für die Imperative Rise Roar Revolt steht (doch ursprünglich nur als Arbeitstitel galt, der sich aus den Anfangsbuchstaben des Regisseurs und seiner beiden Stars zusammensetzen ließ) – wird Desi Naach erwähnt, und auf den fragenden Blick des fiesen Kolonialisten hin beginnen die beiden Actionstars Rama Rao Jr. und Ram Charan nicht nur ihre Hüften zu schwingen, sondern auch, in akkurater Choreographie aufeinander abgestimmt, mit den Füßen zu stampfen, die Arme im rechten Winkel hin und herschiebend. Bald tanzen alle mit, und das eigentliche Drama, das da abgeht, gerät in den Hintergrund, denn im indischen Kino lässt sich die Pause-Taste drücken, so oft man will, kann man Rückblenden einbinden und das Ensemble Sachen machen lassen, die der Folklore huldigen. In überschaubaren Dosen genossen ist dieser Stil verblüffend anders. Und auch was Regisseur S. S. Rajamouli hier so an aalglatter Action von der Leine lässt, sprengt längst die Grenzen des Möglichen.

Dabei ist der Plot des für den Golden Globe als besten fremdsprachigen Film nominierten Drei-Stunden-Epos im Grunde alles andere als realitätsfern. Wir schreiben das Zeitalter des Britischen Empire, und bis auf wenige Ausnahmen ist die dominierende weiße Rasse aus arroganten und gnadenlosen Gouverneuren, Generälen und ordnungshütenden Brigaden das überhöhte Abziehbild eines nuancenlos verzerrten Aggressors, den ganz Indien loswerden will. Bevor es aber so weit kommt und der Rest zur Geschichte des Subkontinents wird, eröffnet Rajamouli das schmachtende Drama im Kleinen: Im Wald von Adilabad entführen ein superfieser Gouverneur und seine ebenfalls superfiese Gattin ein junges Mädchen, der durchtrainierte Waldläufer Komaram Bheem, der es sogar mit wilden Tigern aufnimmt, macht sich auf die Suche nach ihr. Zeitgleich schafft es der Inder Alluri Sitarama Raju, in der englischen Armee zu gewissem Ansehen zu gelangen, was sich noch steigern würde, könnte er seine Mission, Bheem auszuschalten oder dingfest zu machen, erfüllen. Wie es das Kismet will, treffen die beiden aufeinander, ohne zu wissen, mit wem sie es genau zu tun haben und dass der eine für den anderen der Schlüssel für den jeweiligen Erfolg wäre. Beide werden dicke Freunde, tanzen eben zu Naatu Naatu und geraten dann später auch mit Händen und Füßen aneinander – in heillos überhöhter, die Gesetze der Physik aushebelnder Bewegungskunst.

Würde man alle Slow Motion-Passagen dieses Films in normaler Geschwindigkeit abspielen, wäre RRR womöglich nur zwei Stunden lang. Die beiden Haudegen springen, kreisen, kämpfen, rennen und reiten, erdulden Schmerzen und entrinnen dem Tod, der sich fragen muss, ob er nun komplett versagt, so einige Male. Natürlich ist der getragene Irrsinn zutiefst antikolonialistisch und beweint dabei tränenreich alle möglichen familiären Schicksale; dann wieder gewinnt die Wut, der Enthusiasmus und die Ekstase die Oberhand. Gefeiert werden dabei in ihrer Apotheose zwei historische Persönlichkeiten gleichen Namens, die als Rebellenführer gegen Britannien zum Mythos geworden sind. Ähnlich wie in der Schwerelosigkeit des asiatischen Wuxia-Genres können sie sich als Duracell-Superhelden auch alle Freiheiten leisten, um der finsteren Historie einen phantastischen Anstrich zu geben, der sein Publikum glatt zur Welle animiert.

Auf Filme wie diesen sollte man sich ganz und gar einlassen, und ihnen nicht mit rationaler Skepsis begegnen. Einfach reinkippen, nicht unbedingt mitdenken, sondern diese andere Art des Kinos genießen und sich von den Grundemotionen triggern lassen, auch wenn vieles über unfreiwillige Komik hinausgeht und so bizarr erscheint, dass man das Sichten des Films mitunter als vergeudete Zeit betrachten könnte. Das mag alles sein, und vielleicht wird das auch passieren – im Ganzen aber ist das heißblütige Potpourri aus Freundschaft, Leidenschaft und Selbstlosigkeit eine einzige folkloristische Zirkusnummer, die, säße man im Rundzelt, auch nicht hinterfragen würde. Was zählt, ist die Erfahrung einer ganz anderen Mentalität.

RRR (2022)

Mosul

WOFÜR ES SICH ZU KÄMPFEN LOHNT

6,5/10


mosul© 2020 Netflix


LAND: USA 2020

REGIE: MATTHEW MICHAEL CARNAHAN

CAST: SUHAIL DABBACH, ADAM BESSA, WALEED ELGADI, THAER AL-SHAYEI, BEN AFFAN, HAYAT KAMILLE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Ungefähr zweieinhalbtausend Kilometer Luftlinie liegen zwischen Wien und Mosul, der zweitgrößten Stadt im Irak. Nur zweieinhalbtausend Kilometer, mit dem Auto eine Fahrt von 36 Stunden. Das ist gar nicht mal so weit, das geht sich an einem Wochenende gerade mal noch aus, wenn man nonstop durchfährt. Was ich damit sagen will: lediglich so weit müsste man reisen, um in die Hölle auf Erden zu gelangen. Mosul ist mittlerweile keine Reise mehr wert, es sei denn, man hat vor, in absehbarer Zeit das Zeitliche zu segnen. Mosul ist wie das Ende des Humanismus, ist wie die pure Anarchie, ist Mord und Brand zwischen Ruinen und vor verbarrikadierten Straßen. Mittendrin: der auf dem Rückzug befindliche IS, neben Boko Haram wohl das größte Übel dieser Welt. Auch noch mittendrin: ein Haufen verrückter Hunde, quasi eine Suicide Squad in Echt, nämlich das Nineveh SWAT Team, eine zusammengewürfelte Miliz aus Polizisten, Ex-Soldaten und sonstigen wehrfähigen Männern, die wie wütende Rächer durch den Wahnsinn pflügen.

Dabei basiert dieser Kriegsfilm auf wahren Begebenheiten, um genau zu sein auf einem Zeitungsartikel, veröffentlicht im New Yorker. Ist also nichts Erfundenes, nicht vorrangig ein Actionkino für Liebhaber des pfeifenden Projektils, obwohl diese Klientel getrost hier fündig werden kann. Mosul ist ein Drama, kein zart erklingendes wohlgemerkt, sondern ein finsteres Roadmovie über Schicksale in Zugzwang, die ihre Pflichterfüllung im Kampf gegen das Böse sehen. Die bis an die Zähne bewaffnet, verbittert, traumatisiert, aber dennoch stolz und mit sich selbst im Reinen, zwar kein Pferd, aber immerhin den Panzerwagen besteigen, um ins Land der Gesetzlosen zu breschen. Erinnert irgendwie ans Mittelalter? Das tut es – und wenn wir uns nun Bomben und Granaten wegdenken und statt Gewehren scharfe Schwerter und Bögen einsetzen, ist es alles, was wir brauchen, um die von uns fälschlich romantisierten Zeiten wieder aufleben zu lassen, in der man für Familie, Ehre und Vaterland in den Kampf auf freiem Feld gezogen war.

Das freie Feld ist einem Häuser- und Straßenkampf gewichen, bei dem an scheinbar jeder Ecke Scharfschützen sitzen. In einem solchen umkämpften Viertel findet das Nineveh SWAT Team einen in die Bredouille geratenen Polizisten, der allerdings sagenhaft gut mit dem Schießeisen umgehen kann. Kurzerhand wird er rekrutiert und zieht mit, hat aber Probleme damit, Teil der Gruppe zu werden. Währenddessen verfolgen die „Inglourious Basterds“, wenn man so will, ein unbekanntes Ziel. Klar ist nur, sie rücken in ein Gebiet vor, dass noch in festen Händen der Islamisten weilt.

Mosul ist dreckig, staubig und brutal. Eine archaische, explizite Momentaufnahme aus einem Erdteil ohne Zukunft (gedreht wurde natürlich nicht vorort, sondern in Marokko). Was den Film ertragen lässt, sind die Werte, die die „Guten“ durch die Widrigkeiten schleppen. Zwischendurch lässt Matthew Michael Carnahan eine gewisse Liebe zum Detail erkennen, räumt Verschnaufpausen ein und lässt Gruppenführer Jasem aus einem inneren Zwang heraus herumliegenden Müll einsammeln, als würde er den Wiederaufbau seines eigenen Landes vorwegnehmen. Dann geht die Odyssee durchs Heilige Land wieder weiter, streng einem Codex folgend, und freilich nicht ohne Verluste. Als klar wird, worum es eigentlich geht, hat die menschliche Tragödie das kernige Kriegsgetümmel einige eingestürzte Häuserzeilen weit abgehängt.

Mosul