Mittagsstunde (2022)

HIGH NOON MIT DEM DAMALS

7,5/10


mittagsstunde© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2022

REGIE: LARS JESSEN

DREHBUCH: CATHARINA JUNK, NACH DEM ROMAN VON DÖRTE HANSEN

CAST: CHARLY HÜBNER, GRO SWANTJE KOHLHOF, PETER FRANKE, HILDEGARD SCHMAHL, GABRIELA MARIA SCHMEIDE, RAINER BOCK, LENNARD CONRAD, JULIKA JENKINS U. A.

LÄNGE: 1 STD 37 MIN


Gerade erst hat Schauspieler Charly Hübner sein Regiedebüt hingelegt – die Verfilmung von Thees Uhlmanns postmoderner Jedermann-Version: Sophia, der Tod und ich. Nur lebt und stirbt hier kein reicher Mann, sondern ein durch den Rost des Lebens gefallener Taugenichts, der selbst gegen den Sensenmann kaum Argumente gegen sein Ableben ins Feld führen kann. Die Idee einer Bad Batch aus Ex-Freundin, Mutter und Tod mag zwar witzig klingen, gerät aber zum Frosch im Hals. Weniger schwer schlucken muss Hübner allerdings als Schauspieler, und zwar ganz besonders um die Mittagsstunde, wenn es heißt, bei den Altvorderen nach dem Rechten zu sehen.

Mudder und Vadder, wie er sie nennt, leben mehr schlecht als recht in einem nordfriesischen Kaff fast schon jenseits der Zivilisation, in welchem die besten Zeiten längst vorbei sind, die Läden alle dicht gemacht haben und das Wirtshaus am Rande der Straße nur noch das Echo vergangener Full House-Abende erklingen lässt. Dieses gehört schließlich dem alten, geistig noch nicht ganz verwirrten Sönke Feddersen, seines Zeichens eben besagter Vadder von Ingwer (Charly Hübner), der sich eine Auszeit von seinem Job als Archäologieprofessor nimmt und vorübergehend ins für die Ewigkeit recht schlecht konservierte Nirgendwo zieht. Die leere Gaststube beherbergt jede Menge Erinnerungen, die Fassade des Kreislers, bei dem’s früher Eis am Stiel gab, vermittelt lediglich wehmütige Gedanken an eine Kindheit, in der eine junge Frau namens Marret (Gro Swantje Kohlhof) eine ganz gewisse Rolle innehatte. Nur welche, ist bis heute nicht klar. Ingwers Mutter (Hildegard Schmahl) wiederum leidet an hochgradiger Demenz und ist kaum mehr ansprechbar. Nicht nur, aber auch deshalb, will der wortkarge Professor eine gewisse unausgesprochene Schuld begleichen, deren Ursache sich erst nach und nach und viele Rückblenden später auch für den Zuseher erschließt.

Viel passiert nicht, in Lars Jessens Verfilmung von Dörte Hansens komplentativer Studie über Erinnerung und Vergänglichkeit. Die Zeit scheint dort oben im hohen Norden Deutschlands langsamer abzulaufen als sonst wo. Anfangs erscheinen Ingwers Eltern, insbesondere der Alte, störrisch, mürrisch und undankbar. Schwer, sich auch nur mit irgendeinem der Charaktere, die hier durch ein erschöpftes Leben schlurfen, anzufreunden oder den Drang zu verspüren, sich mit dieser Familie auseinandersetzen zu wollen. Doch Jessen lässt sich Zeit und weiß haargenau, welche Momente wann einen Einblick gewähren müssen. In Kombination mit einer längst vergangenen Zeit, einer wenig verklärten Siebziger-Zeitkapsel, die in immerwährenden narrativen Impulsen das Bild einer durchaus seltsamen Familie ergänzt, entsteht so eine unerwartete, fast schon überrumpelnde Nähe zu Menschen, die das Produkt ihrer Zeit, ihrer Pflichten und ihres sozialen Umfelds sind. Doch dieser realistische, völlig unverkrampfte Blick auf das Ungefällige, Introvertierte einer Gemeinschaft, birgt eine befreiende Ehrlichkeit, die fast schon zu intim scheint, um hier, in diesen Mikrokosmos, hineinblicken zu dürfen. Wie in Michael Hanekes gefeiertem Drama Liebe spiegelt das Alter nicht die Person wider, die mit dem körperlichen wie geistigen Zerfall umgehen muss, sondern nur deren verwittertes Fundament. Der Blick zurück auf die andere Zeitebene vollendet allerdings das Bild dieser Leute – und man beginnt zu verstehen.

Mittagsstunde ist pures, deutsches Kino, empfindsamer Heimatfilm und die trotzige Analyse einer Familie, die nicht so war, wie sie zu sein schien. Hinter all diesem vergilbten Fotoalbum voller sozialer Interaktionen führt das große Geheimnis geradewegs zu einem epischen, ganz großen Drama, doch immer noch still, unauffällig für andere, und gerne für sich. Kino, das niemanden braucht, aber wir es umso mehr.

Mittagsstunde (2022)

Der Nachtmahr

KOMM AUF MEINE DUNKLE SEITE

7,5/10


nachtmahr© 2015 Filmladen


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2015

BUCH / REGIE: ACHIM „AKIZ“ BORNHAK

CAST: CAROLYN GENZKOW, SINA TKOTSCH, WILSON GONZALEZ OCHSENKNECHT, ARND KLAWITTER, JULIKA JENKINS, LYNN FEMME, LUCIA LUCIANO, KIM GORDON U. A.

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Dieser Film kann lichtempfindliche Zuseher nachhaltig in Mitleidenschaft ziehen. Stroboskopeffekte können zur Epilepsie führen. Und dennoch wird empfohlen – um die Qualität des Werks nicht zu mindern – ganz laut aufzudrehen. Die Musik, die hier während diverser Rave-Partys zu hören ist, muss hämmern, dass einem die Ohren klingeln. Will ich das? Nein, das ist es mir nicht wert. Ich drehe Der Nachtmahr auf handelsübliche Lautstärke. Schraube das Volume sogar noch ein bisschen runter, denn das quälende Geräusch, einem Presslufthammer gleich, ist schon lange nicht mehr als Musik zu bezeichnen, nur weil man ab und an noch so etwas wie Rhythmus raushören kann. Aber gut, soll’s geben, stört mich nicht, wenn ich mir trotz Empfehlung der Filmemacher nicht unbedingt einen Tinnitus einfangen will. Und siehe da: Der Nachtmahr funktioniert genauso gut. Auch ohne Selbstquälerei. Die Coming of Age-Allegorie des vielseitigen Künstler AKIZ (mit bürgerlichem Namen Achim Bornhak) sucht sich für die im Kino schon sehr oft bemühte und derzeit etwas inflationär gewordene Phase des Erwachsenwerdens vom Mädchen zur Frau einen allerdings reizvollen und ungewohnten Zugang aus, der mit dem Genre des phantastischen Films kokettiert und die Metaebene des Irrealen auch in die Realität holt, um eine Zwischenwelt zu besiedeln, die durch ihre Erdung allerdings so greifbar bleibt, dass man das Gefühl hat, ein Monster wie dieser graue, kleine Humunculus könnte bei einem selbst mal den Kühlschrank plündern.

Tatsächlich widerfährt diese Begegnung, die an das erste Aufeinandertreffen von Elliott mit dem extraterrestrischen Trapezkopf aus E.T. erinnert, einem fast volljährigen Mädchen namens Tina. Die junge Dame lebt ihre Pubertät, wie Mädels des Handyzeitalters eben ihre Pubertät leben. Mit Tanzen, Partys und mediensozialer Dauerpräsenz. Mit schickem Kommerz, Intrigen und Romanzen. Manchmal kippt das Ganze auch ins Bizarre, wenn Videos von Verkehrsunfällen geteilt werden oder wenn sich Tinas Konterfei durch Morphing in einen missgestalteten Fötus verwandelt. Es dauert nicht lang, da geistert dieser Fötus in Tinas Wahrnehmung herum. Anfangs noch als Schrecken aus der Küche, den die Eltern nicht sehen können, wird der Nachtmahr langsam zu einem Teil von Tinas Psyche. Was der kleine glupschäugige Knirps fühlt und empfindet, fühlt und empfindet auch Tina. Die Eltern sind zusehends besorgt, eben auch sie selbst. Eine Einweisung in die Psychiatrie steht im Raum, nachdem der Besuch beim Therapeuten nicht den gewünschten Erfolg bringt. Auch Tinas Freundinnen distanzieren sich, in der Schule wird das Mädchen gemobbt – bis es dazu kommt, dass der Nachtmahr nicht nur Tina, sondern auch allen anderen erscheint. Und wir wissen: Absonderliches kommt in unserer Gesellschaft nie gut an. Entweder wir Menschen verstehen es sofort, oder es muss weg.

Das Absonderliche ruht in der Psyche eines jeden jungen Menschen, dessen Hormonhaushalt verrückt spielt und dessen Identität, Charakter und Bedürfnisse sich erst mal herausbilden müssen, um mit beiden Beinen im Leben stehen zu können. Dieses Absonderliche sind Ängste, Albträume, emotionale Defizite, Unsicherheiten angesichts einer Welt, die man als Erwachsener immer noch nur sehr schwer begreifen kann. Dazu kommt die Abnabelung vom Elternhaus, das Flüggewerden und das Nicht-Entsprechen elterlicher Erwartungen. Zuletzt bediente sich das finnische Horrordrama Hatching eines sehr ähnlichen Symbolismus. Hier findet die junge Alli ein Ei im Wald, das immer größer wird, um dann ein Monster schlüpfen zu lassen, dass allerdings andere Ambitionen an den Tag legt wie das Wesen in Aziz‘ Film. Beide allerdings fordern durch visualisierte Ausgeburten den werdenden Erwachsenen dazu auf, zu sich selbst zu stehen. Sie sind die Manifestation einer dunklen, missgestalteten, unidealen Seite. Sie fordern auf, akzeptiert zu werden als das, was sie sind. Als Teil vom Ganzen, ohne dessen eine Persönlichkeit nicht reifen und funktionieren kann. Ziel ist es, diesen Teil anzunehmen, ohne sich von ihm beherrschen zu lassen. Deutlicher lässt sich Psychologie kaum illustrieren. Akiz tut dies behutsam, ohne den Horror zweckzuentfremden oder aus dem Kontext zu reißen. Das Unnatürliche gerät zum Ruhepol einer unruhigen Welt im Umbruch. Carolyn Genzgow geht dabei schauspielerisch durchaus an verantwortungsbewusst gesteckte Grenzen, scheint unter Akiz‘ Regie eine Odyssee zu meistern, die sich viel mehr vom Sarkasmus in Hatching entfernt, dafür aber gerne die Rolle des Elliott in E.T. übernehmen würde, der durch die Skills des Außerirdischen per Fahrrad allen entkommt, die dieser Einheit schaden wollen. Letzten Endes wird Der Nachtmahr zum komplexen Märchen eines befreienden Statements, welches jede und jeder irgendwann in seinem Leben in die Welt schreien sollte.

Der Nachtmahr