The Road (2009)

WAS WERT IST, DAFÜR ZU ÜBERLEBEN

8/10


theroad© 2009 Metropolitan Film Export


LAND / JAHR: USA 2009

REGIE: JOHN HILLCOAT

BUCH: JOE PENHALL, NACH DEM ROMAN VON CORMAC MCCARTHY

CAST: VIGGO MORTENSEN, KODI SMIT-MCPHEE, CHARLIZE THERON, ROBERT DUVALL, GUY PEARCE, MOLLY PARKER, MICHAEL K. WILLIAMS, GARRET DILLAHUNT U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Einige Jahre bevor die Spiele-Schmiede Naughty Dog den modernen Playstation-Klassiker The Last of Us auf die zockende Menschheit losließ, streiften schon ganz andere Gestalten durch eine zerstörte Erde: Ein namenloser Vater mit seinem Sohn zum Beispiel als universelle Personifikationen zweier Generationen, wovon die eine den Untergang miterlebt und die andere in den Untergang hineingeboren wurde. Sie sind das letzte bisschen Menschlichkeit in einer Welt, die kaum mehr Leben auf sich trägt und unter einer fahlgrauen Wolkendecke dahindämmert, während schneegleiche Asche das Land wie ein Leichentuch bedeckt. Joel und Ellie aus The Last of Us hingegen streifen da noch durch halbwegs intakte Biomasse, während die urbanen Gefilde verrotten oder deren Bewohner in Anarchie versinken. Das Land gehört dort den von Pilzen Infizierten. In The Road aber streunen weder blutdürstende Zombies durch die Gegend, noch klicken Pilzköpfe, noch haben Aliens wie in A Quiet Place die globale Infrastruktur lahmgelegt. Diese Dystopie liefert den rationalen Kahlschlag des Untergangs: Keine Monster, keine Roboter wie in Terminator, rein gar nichts. Die Welt als Friedhof – pur, unmissverständlich und radikal. Michael Haneke hatte mit seinem Endzeitdrama Wolfzeit anno 2003 ein ähnliches Szenario heraufbeschworen, nur ohne Graufilter wie in Hohn Hillcoats Werk, das diesmal nicht oder kaum auf Horror oder Action setzt, dafür aber durch seine Reduktion und die Konzentration auf das Wesentliche zu den sensibelsten oder empfindsamsten Genre-Beiträgen zählt, die mir bekannt sind.   

Was das Wesentliche ist? Das kleinste gemeinsame Menschenmögliche, das Duo aus Fürsorger und zu Beschützenden. Das Einzige, was wir in diesem Film über das Schicksal von Terra heraushören können, ist, dass es sich um die Art der Apokalypse womöglich um einen Asteroiden gehandelt haben könnte. Doch so genau weiß man das nicht, und es interessiert Hillcoat bzw. Autor Cormac McCarthy herzlich wenig, was die Ursache hätte sein können. Worauf es ankommt, ist die bedingungslose Liebe zwischen den beiden, die nach dem Fortgang der Mutter (Charlize Theron) jahrelang durch die Gegend streifen, um Nahrung zu finden. Ziel ist die südliche Küste des Kontinents. Und sie sind nicht die einzigen, die da herumirren. Marodierende Gangs, die sich notgedrungen auf Menschenfleisch spezialisiert haben, machen das Vorwärtskommen unsicher. Immer wieder kommen die beiden in brenzlige Situationen, manchmal ist ihnen das Glück hold, dann wieder folgen Tage der Entbehrung und der Traurigkeit.

Wer will schon leben, in so einer Welt? Doch der Mensch ist auf Survival programmiert, da hilft alles nichts. Es treibt ihn an, weiterzumachen, und die stetige Flamme des Ansporns ist besagte Aufgabe, zu schützen und zuzulassen, beschützt zu werden. Als Roadmovie braucht The Road längst keine komplexe Geschichte zu erzählen, ganz im Gegenteil. Was Hillcoat schildert, sind Stationen eines inneren Kampfes und das Bezwingen eines Weges, an dessen Ende es heller sein könnte als in den Momenten der Hoffnungslosigkeit, die wie Meilensteine die Route säumen. Und derer gibt es viele. Doch sie sind voller Gnade und Respekt vor denen, die alles verloren haben. Viggo Mortensen lässt als Vater, der den radikalen Wandel immer noch nicht hinnehmen kann, tief in seine Psyche blicken. Er trägt Verantwortung, sucht aber selbst nach Geborgenheit. Der junge Kodi Smit-McPhee kennt nur die Postapokalypse – er ist der Träger der Hoffnung, während der Vater an nichts mehr glaubt außer an seinen Sohn.

Natürlich ist The Road beklemmend genug und nichts für depressiv verstimmte Gemüter. Doch allein im Handeln der beiden Protagonisten glüht das Feuer eines unerschütterlichen Willens, einer seltsam entrückten Zuversicht und der Möglichkeit, in Erinnerungen Erholung zu finden. Das läuft ganz im Verborgenen ab. Vereint mit der natürlichen Gabe der Verantwortung ist das die Essenz, um aus dem Ende einen Neuanfang zu machen. The Road bringt diese Essenz auf den Punkt und strahlt aufgrund seiner Genügsamkeit eine seltsam düsteres, aber faszinierendes Licht aus.

The Road (2009)

Weißes Rauschen

VERHEDDERT IN DER ENDLICHKEIT

6,5/10


weissesrauschen_1© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: NOAH BAUMBACH

BUCH: NOAH BAUMBACH, NACH DEM ROMAN VON DON DE LILLO

CAST: ADAM DRIVER, GRETA GERWIG, DON CHEADLE, RAFFEY CASSIDY, SAM NIVOLA, MAY NIVOLA, JODIE TURNER-SMITH, LARS EIDINGER, ANDRÉ BENJAMIN, BARBARA SUKOWA U. A. 

LÄNGE: 2 STD 16 MIN


Der schlimmste Widersacher von Gevatter Tod ist nicht der abstrakte Umstand des ewigen Lebens. Er ist die fehlende Furcht vor ihm. Wer seine Existenz von Geburt bis Ableben sinnvoll nutzt und es dabei noch schafft, völlig angstfrei dem Ende selbiger entgegenzusehen, den kann der Tod nicht tangieren. Nur weil wir nicht wissen, was hinter diesem Mysterium steht, heißt es nicht, dass wir in Panik geraten müssen. Doch andererseits: Panik, wenn sie in Massen auftritt, ist zumindest eine Möglichkeit, die Angst untereinander aufzuteilen. Oder von anderen, die vielleicht weniger davon besitzen, absorbieren zu lassen. Womit wir beim Phänomen der Massendynamik wären, der Gruppensuggestion. Denn wenn einer gen Himmel blickt und den Stern der Weisen erblickt, erblicken es die anderen womöglich auch. Ähnliches Wunder dürfte jenes von Fatima gewesen sein. In Noah Baumbachs Verfilmung von Don DeLillos Roman Weißes Rauschen ist es eher die Faszination Adolf Hitler. Oder das Ende der Welt. Oder beides, denn so weit liegen der Mann aus Braunau und der Untergang der Zivilisation nicht auseinander. Über Adolf Hitler weiß Baumbachs feiste Filmfigur Jack Gladney (Adam Driver, weit, weit entfernt von Kylo Ren) so einiges, und auch über dessen Mechanismen, um die Massen unter seine Knute zu stellen. Er verbindet das Erscheinen des Diktators mit der Möglichkeit des Einzelnen, in der Masse die eigene Existenzkrise verschwinden zu sehen. In der Gemeinschaft gibt es keine Furcht mehr – entweder so. Oder andersrum.

Andersrum kommt es, als ein Öllaster mit einem Zug kollidiert, der chemische Substanzen führt. Alles explodiert, eine Giftwolke entsteht, und die zieht später übers Land. Solange keine extra Winde wehen, lässt sich der Schaden eingrenzen, doch dieses Ideal hält nicht lange vor. Bald herrscht Ratlosigkeit an allen Orten, sogar in den Medien gibt es unterschiedliche Anweisungen, was man nun, als Otto Normalverbraucher, zu tun hat, um heil aus der Sache herauszukommen.

Die To-Do-Liste kann man drehen und wenden, wie man will. In Don DeLillos verschwurbelter Odyssee nach Angstfreiheit kommt hier, aus der kleinen Existenz, keiner lebend raus. Das klingt jetzt etwas nach Jean Paul Sartre, dessen Existenzialismus eine ähnliche Richtung geht – oder so wie der Titel von Sugermans und Hopkins‘ Biografie über Jim Morrisson, der ja, wahrscheinlich ohne es je gewusst zu haben, zum Club 27 zählt. Im Grunde laufen all diese vielen Details und verqueren Geschehnisse auf einen Sollzustand hinaus: Das Ende des eigenen Ichs leichten Herzens hinnehmen zu können.

Auf diesem Weg aber gibt Weißes Rauschen dem Zuseher allzu viele Hausaufgaben. Vor allem sind es solche, die keiner versteht. Zumindest ich nicht. Deshalb mühe ich mich die erste Dreiviertel Stunde durch ein konfuses Alltagsportrait aus exaltiertem Hitler-Experten, tablettensüchtiger Ehefrau und einigen Patchwork-Kindern, von denen einer so allwissend zu sein scheint wie Sheldon Cooper. Worauf wollen Noah Baumbach und Don DeLillo eigentlich hinaus? Nach ungefähr 30 Minuten wäre auch die Möglichkeit gegeben, den Film einfach abzubrechen und sich Sinnvollerem zuzuwenden, denn zu viele leere Filmmeter scheinen abgespult, ohne ihren Zweck zu enthüllen. Anders als in The Meyerowitz Stories oder Marriage Story, die Baumbach selber verfasst hat und auch sein szenisches Gespür widerspiegeln, scheinen Buchadaptionen, vor allem diese hier, nicht die Stärke des Künstlers zu sein. Autorenfilmer ist nicht gleich literarischer Interpret, so viel scheint klar. Nach dieser halben Stunde aber konzentriert sich der Film auf das Katastrophenszenario, und wenn man da den Absprung verpasst hat, wird man auch bis zum Ende dranbleiben müssen. Dann geht es erst so richtig los, und obwohl Weißes Rauschen bereits 1985 geschrieben wurde, lassen sich vor allem in diesem filmischen Mittelteil so einige Seitenhiebe auf den medialen Umgang mit der Corona-Pandemie entdecken sowie auf das Erstarken einer Querdenker- und Besserwisser-Community. Dies geschieht leider nur am Rande, denn Baumbachs Verfilmung will dann doch wieder ganz etwas anderes, oder auf ganz anderem Wege sein diffuses Ziel erreichen, dass allerdings auch, um es als Hauptthema auszurufen, viel zu wenig fokussiert wird.

Weißes Rauschen ist ein verwirrendes Kunstwerk, liebäugelnd mit dem Farbspektrum der Achtziger und einer obsoleten Konsumgesellschaft, die ausgedient hat. Was das wieder mit dem Tod zu tun hat? Genaues lässt sich nicht herausfinden, und dennoch bleibt hier ein gewisses Staunen übrig, das daher rührt, nicht mehr vorhersagen zu können, was denn nun als nächstes geschieht. Ist das, was wir sehen, nun bedeutungsschwer oder so weit irreführend, dass hinter der Fassade einer kaspernden und wertelosen Gesellschaft nur diese Angst vor dem Tod steht, für die Lars Eidinger, der mittlerweile wie Landsmann Daniel Brühl vermehrt in internationalen Produktionen zu sehen ist, den richtigen Stoff hat.

Vielleicht – und das sogar ziemlich sicher – liest sich Weißes Rauschen besser als es sich ansehen lässt. Doch irgendwie hält dieser Reigen den Betrachter fest, als wäre man unfreiwilliger Teil einer Massenhysterie.

Weißes Rauschen

Enola Holmes 2

DIE MÄDCHEN AUS DER STREICHHOLZFABRIK

5,5/10


Enola Holmes 2© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: HARRY BRADBEER

BUCH: JACK THORNE

CAST: MILLIE BOBBY BROWN, HENRY CAVILL, LOUIS PARTRIDGE, DAVID THEWLIS, ADEEL AKHTAR, HELENA BONHAM CARTER, SHARON DUNCAN-BREWSTER, SUSIE WOKOMA, ABBIE HERN, HANNAH DODD U. A. 

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Da ist er wieder, unser taufrischer Springinsfeld, und dieses Jahr 18 geworden: Milly Bobby Brown. Diesmal bleibt der Shooting-Star von Nasenbluten verschont und wirft auch keine Dämonen gegen Wände. Als Eleven gibt sie in Stranger Things die zur Kultfigur gewordene Auserwählte, die zwischen Upside Down und unserer Welt steht. Als Enola Holmes ist sie besagte Schwester des berühmten Sherlock und so hyperaktiv, das man sich allein schon beim Zusehen tiefer in die Couch gräbt. Diese Übermotivation spiegelt sich auch in Browns Mimik, die, als wäre sie der Character eines Comics, in überhöhter Expressivität alle möglichen Gefühlslagen, die ein junger, positiv gestimmter, aber manchmal auch recht impulsiver Mensch an Emotionen nur so darstellen kann. Das ist anstrengend, das muss auch für Bobby Brown anstrengend gewesen sein, denn sie gibt alles, und weiß auch, dass sie das kann, denn nicht umsonst wanderten für diese Rolle (angeblich) satte 10 Millionen auf ihr Konto. Netflix wird das schon wieder einnehmen, denn Enola Holmes 2 ist Event-Kino für Daheim, dass Jung und Alt und ganze Familien gleichermaßen konsumieren können, ohne verstört das Feld zu räumen, auch wenn manchem Opfer das Messer aus der Brust ragt.

Harry Bradbeer übernimmt auch diesmal wieder die Regie, und alles, was mit Gewalt, Mord und Tod zu tun hat, wird Teil einer vergnüglichen, latent spannenden Schnitzeljagd, die sich geschichtlicher Fakten annimmt, welche ganz gut in unsere Zeit passen und so schwindelerregend brisante Themen wie tobsüchtige Konzerngewalt, mit Füßen getretene Menschenrechte und die Diskriminierung der Frau einer tüchtigen Enola Holmes um den Latz knallen. Natürlich zeigt sie sich engagiert und entsprechend aufsässig, ganz so wie ihre Mutter (Helena Bonham Carter), die, wie wir aus Teil 1 noch wissen, untertauchen musste. Dabei beginnt alles mit der Bitte eines Mädchens aus einer Streichholzfabrik, sich ihrer verschwundenen Kommilitonin anzunehmen, die ebenfalls dort gearbeitet hat und nun als vermisst gilt. Holmes forscht nach und erregt dabei das Interesse ihres Bruders Sherlock (Henry Cavill), der gerade an einem ganz anderen Fall arbeitet, welcher aber, wie es scheint, doch irgendwie mit jenem seiner kleinen Schwester zusammenhängen muss. Es wird herumgeschlichen und investigiert, es werden Verdächtigungen geäußert und es klicken bei Enola sogar mal die Handschellen. Das alles vor dem Hintergrund des 1888 stattgefunden Streiks rund um Sarah Chapman, die seitdem als Pionierin im Bestreben, Fairness am Arbeitsplatz zu gewährleisten, in die Geschichte der Gleichberechtigung eingegangen ist.

So richtig hemdsärmelige Unterhaltung bietet sich hier, mit moralischer Korrektheit und einem ekelhaft fiesen David Thewlis (zuletzt ähnlich diabolisch in der Serie The Sandman). Jenseits dieser Abgründe erlebt Bobby Brown Abenteuer, die jugendliche Detektivinnen nun mal so erleben – vom Tatort eines Mordes bis hin zum Walzertanz mit üblichen Verdächtigen und natürlich dem Herzbuben. Bradbeers Film ist akkurat und überlässt gar nichts dem Zufall. Es wäre fast zu meinen: Hier ebnen Formeln den Weg zum Erfolg, die so sicher funktionieren sollen wie das Amen im Gebet. Wäre diese Offensichtlichkeit nicht schon genug, betreibt Hollywood mit Enola Holmes 2 Besetzungspolitik im observierenden Scheinwerferlicht der Diversität. Gut möglich, dass erst die Debatte ums Casting für Die Ringe der Macht mich selbst dahingehend sensibilisiert hat, dass mir nun die Matrix dahinter so sehr aufzufallen scheint. Da Hollywood von heute auf morgen und so plötzlich seine politisch korrektes Soll erfüllen will, bleibt der Nachgeschmack wohl einer jener Sorte, die daran erinnert, dass Schauspieler nicht in erster Linie deswegen besetzt werden, weil sie der verlangten Rolle entsprechen würden, sondern aufgrund ihres ethnischen Steckbriefs. Das macht Enola Holmes 2 zu einem durchgetakteten und daher wenig spontanen Unterhaltungsfilm, der mit gutem Betragen beeindrucken will. Natürlich ist der Film handwerklich top, und Bobby Brown erhält aufgrund ihres burschikosen Verhaltens eine Vorzugsnote, doch hinter dieser strebsamen Gefälligkeit fühlen sich die gesellschaftspolitische Agenden doch nur oberflächlich an. 

Enola Holmes 2

Naked Singularity

SELIG SIND DIE SCHULDIGEN

4,5/10


naked-singularity© 2021 Ascot Filmverleih


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: CHASE PALMER

BUCH: CHASE PALMER, NACH EINEM ROMAN VON SERGIO DE LA PAVA

CAST: JOHN BOYEGA, OLIVIA COOKE, BILL SKARSGÅRD, ED SKREIN, TIM BLAKE NELSON, LINDA LAVIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Queen Elizabeth II. – Gott hab sie selig – war nicht nur das Gesicht einer ganzen Generation, sondern eben auch in der Popkultur und insbesondere im Film eine gern zweckentfremdete Instanz für Etikette und Ordnung. Und gerade deshalb wurde die Queen als Markenzeichen gerne (parodistisch) verzerrt – auch in der vorliegenden Krimikomödie Naked Singularity, in der Ed Skrein anhand eines Schwurbelartikels im Internet tatsächlich behauptet, Elizabeth II. sei Teil einer Verschwörung reptiloider Invasoren. Ein Detail, das zwar neugierig macht auf einen sich entspinnenden roten Faden, der einen routinierten kleinen Film in eine andere Richtung lenkt, das aber letzten Endes überhaupt nichts zur weiteren Entwicklung von dessen Plot beiträgt. Schade darum.

Schade auch, dass die von Tim Blake Nelson (Old Henry) dargestellte Figur als jemand, der mehr weiß als alle anderen über diese Welt, mit seinen Vermutungen über einen baldigen Paradigmenwechsel letzten Endes ziemlich danebenliegen wird. Und nein, es ist kein Spoiler, denn über den eigentlichen Ausgang der Geschichte lasst sich allein durch Erwähnung dieser Details nichts erahnen.

Nach seinem mehr oder weniger wütenden (und relativ undankbaren) Abschied aus dem Star Wars- Universum ist es um John Boyega ruhig geworden. Kathryn Bigelows Detroit war zwischendurch ein kleines schauspielerisches Highlight, doch danach? Kamen Filme wie zum Beispiel Naked Singularity, in denen er ein bisschen so wirkt wie Denzel Washington, nur etwas devoter, mit weniger Charisma, aber nonkonform. Dieses Sturköpfige steht ihm gut, das war auch schon bei Star Wars so. Boyega ist da wie dort ein liebenswerter, aber selbstgerechter Rebell, der sich nicht anpassen will. In Naked Singularity schlüpft er in die Rolle eines Pflichtverteidigers, der mit undankbaren Fällen klar Verschuldeter vor Gericht ziehen muss – und das ganze amerikanische Rechtssystem mittlerweile ziemlich satthat. Dieser Frust, den er auch offen zur Schau trägt, kommt vor den Juroren selten gut an. Vielleicht aber könnte es ihm aber gelingen, mit dem Fall einer altbekannten straffälligen jungen Dame namens Lea (Olivia Cooke) seine Defensivposition doch für etwas gut sein zu lassen. Wie der Name schon sagt: Als Pflichtverteidiger scheint es Boyegas Pflicht, auch die zu retten, die schuldig sind. Und by the way: Lea hat da noch etwas ganz anderes in petto: eine Fuhre Drogen, die in einem abgeschleppten Auto versteckt sind, das zur Versteigerung steht. Diese zu stehlen und dafür abzukassieren – damit wäre allen geholfen. All jenen, die der Ohnmacht angesichts eines ungerechten Systems nahe sind.

Irgendwo und irgendwann in diesem Film soll es dann diese geheimnisvolle Wendung geben. Anscheinend dürfte dem zugrundeliegenden Roman von Sergio De La Pava die Sache mit dem Rechtsstaat und der unausweichlichen Sogwirkung, einer Singularität gleich, viel ernster sein als Regisseur Chase Palmer. Der setzt gerne auf eine kokette Olivia Cooke, die – a la Mavie Hörbiger auf den diesjährigen Salzburger Festspielen – drauf und dran ist, ein neues Nippelgate zu provozieren. Doch wo Olivia Cooke nun mit einem Patzen Geld in Zusammenhang gebracht werden kann – wie zum Beispiel auch in der irischen und ähnlich nichtssagenden Gaunerkomödie Pixie – da ist der Wink des Schicksals ein erwartbarer. All die kritischen Metaebenen an Gesellschaft und Staat, all diese theoretische Physik eines Stephen Hawking, sind nichts als Fußnoten in einem leicht komödiantischen Thriller, der so einige Namen für sein Ensemble gewinnen konnte, der aber viele Versprechungen macht, die unmöglich alle erfüllt werden können.

Naked Singularity

I’m Thinking of Ending Things

WAS WAR, WAS IST, WAS SEIN WIRD

6/10


imthinkingofendingthings© 2020 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2020

REGIE: CHARLIE KAUFMAN

BUCH: CHARLIE KAUFMAN, IAIN REID, NACH SEINEM ROMAN

CAST: JESSIE BUCKLEY, JESSE PLEMONS, TONI COLLETTE, DAVID THEWLIS, GUY BOYD, HADLEY ROBINSON, GUS BIRNEY, ABBY QUINN, OLIVER PLATT U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Wie ist es wohl, die Welt mit den Augen von, sagen wir mal, John Malkovich zu sehen? Spike Jonze hat uns das gezeigt, damals in den Neunzigern, inszeniert auf Basis eines Scripts von Charlie Kaufman, eines um mehrere Ecken denkenden und grübelnden Träumers, dem keine Idee zu absurd erscheint, um sie nicht auf welche darstellerische Art auch immer sichtbar werden zu lassen. Wenn John Malkovich also in sich selbst einsteigt, gerät das vertraute Universum komplett aus den Fugen.

Was ich damit sagen will: Wenn man als Künstler überhaupt keine Grenzen kennt (und damit meine ich nicht die des guten Geschmacks oder Zumutbaren) und in dieser ziellos umherschweifenden Spinnerei noch dazu Anklang findet, ist das wie das Paradies auf Erden für Kreative. Kaufmans bisheriger Höhepunkt ist zweifelsohne Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Regie: Michael Gondry) mit Kate Winslet und Jim Carrey – eine wunderbar surreale Romanze, mit Liebe zum Detail und viel Verständnis für die schrulligen Seiten gehandicapter Erinnerungsvermögen. Und gerade trotz dieser jenseits aller Realität befindlichen Odyssee zweier Liebender findet dieser Film auch einen Weg, seine Geschichte geschmackvoll abzurunden. Zwar nicht gefällig, aber geschmackvoll. Und nachvollziehbar. Auch das muss gekonnt sein: Wilde Ideen im Zaum zu halten, damit nicht alles als verlorene Liebesmüh über den Tellerrand des Erfassbaren und Verständlichen tropft.

Mit vollem Schöpflöffel und viel zu kleinem Teller hantiert Charlie Kaufman nun ganz auf sich allein gestellt bei der frei interpretierten Verfilmung eines Horrorromans von Iain Reid mit dem Titel The Ending. Aus dieser anscheinend furchteinflößenden Vorlage zimmert Kaufman, der zehn Jahre lang keinen Film mehr gemacht hat und diesen laut eigener Aussage als letzte Möglichkeit ansieht, sich als Regisseur endgültig zu etablieren, ein surreales Gedankenexperiment, das sich in keiner Weise bemüht, den Schleier des Rätselhaften zu heben. Kaufmann scheint dafür keine Energie investieren zu wollen, sondern hangelt sich lieber von Assoziation zu Assoziation, egal, ob es nun andere verstehen oder nicht. Das war schon bei Synecdoche, New York so. Ein verkopftes Sinnieren, kunstvoll arrangiert zwar, aber völlig konfus. Vor vielen Jahren mal gesehen – und nichts davon ist hängen geblieben.

Bei I’m Thinking of Ending Things probiert Kaufman ähnliches, bleibt aber zumindest in der ersten Hälfte seines über zwei Stunden langen Kunstkinos den verdrehten Gesetzen eines aus der Zeit gefallenen Universums treu, welches einem Scherbenhaufen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einige Splitter entnimmt, um sie als Mosaik wieder zusammenzusetzen. Das, was wir sehen, sind Auszüge aus der Lebensgeschichte der Eltern von Jake (Jesse Plemons), der eines Wintertages mit seiner Freundin Lucy (oder Lucia, oder Louisa – wie auch immer) diesen auf ihrer tief verschneiten Farm irgendwo im Nirgendwo einen Besuch abstattet. Dabei verzerrt sich die Wahrnehmung wie in den Filmen von David Lynch, in welchen wechselnde Identitäten stets eine große Rolle spielen und natürlich nichts ist, wie es eigentlich scheint. Dabei nimmt die Figur der Frau mit vielen Namen – dargestellt von Jessie Buckley, die ihre Kleidung so oft wechselt wie ihren Beruf und ihre Biographie – diese vertrackte Welt weitestgehend als selbstverständlich hin, während sich das, was laut ihrer Stimme aus dem Off nicht stimmen soll, in erster Linie auf die Beziehung mit Jesse Plemons bezieht.

Faszinierendes – und im Gegensatz zu David Lynch – weniger bedrohliches Kernstück des Films spielt sich im rustikal ausgestatteten Anwesen der Eltern Toni Collette und David Thewlis ab, die einmal jung, einmal alt, einmal bettlägerig und dann gebrechlich durchs Haus geistern. Hier ballt sich die vierte Dimension zu einem momenthaften Abendessen zusammen, das sich wie ein Traum anfühlt, in dem man nicht so genau weiß, was alles nicht stimmt. Bei genauerem Hinsehen geben diese Anomalien dann den richtigen Hinweis. Konstant als einziger bleibt eigentlich Jake, alles andere irrlichtert um ihn herum, als würde Jake irgendwo anders sich selbst denken, oder darüber nachdenken, was war und was hätte sein können. Eine reizvolle, erstaunliche Idee, die Kaufman zwar düster, aber herzenswarm auf den Punkt bringt – die ihm aber dank seiner Fabulierlust und je länger der Film dauert, zwangsläufig entgleiten muss. Zu viel Bedeutung, zu viel Symbolik; seltsame Intermezzi, die niemand versteht, und gefühlt elendslange Dialoge über für den Film völlig irrelevante Kulturgüter türmen sich übereinander. Darunter das eigentlich sehr sensibel konstruierte Philosophikum, dessen kryptische Untermauerung maximal als Ventil für Kaufmans absurde Anwandlungen Sinn macht.

I’m Thinking of Ending Things

Day Shift

WURZELBEHANDLUNG FÜR VAMPIRE

2/10


dayshift© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JJ PERRY

CAST: JAMIE FOXX, DAVE FRANCO, SNOOP DOGG, KARLA SOUZA, NATASHA LIU BORDIZZO, MEGAN GOOD, SCOTT ADKINS, OLIVER MASUCCI U. A.

LÄNGE: 1 STD 54 MIN


Obwohl Netflix allerlei Weltkino in seinem Bauchladen herumträgt und auch sämtliche Festivalperlen das Sortiment aufschmücken, schenkt der Konzern seinen Eventfilmen und deren Qualität am wenigsten Aufmerksamkeit. Was hier oft zusammenkommt, sind Starvehikel mit Oscarpreisträgern und Quotengaranten, die sich in einem Plot wiederfinden, der so wenig durchdacht ist, dass man sich als Konsument das eine oder andere Mal über den Tisch gezogen fühlt. Filme wie Red Notice sind ja gerade nochmal mit dem blauen Auge davongekommen und drehen sich, bevor sie in der Versenkung verschwinden, nochmal um und rufen „Hey, ich war immerhin sauteuer!“. Schön für den Film, langweilig für uns. Um The Man from Toronto habe ich trotz des immer wieder gern gesehenen Woody Harrelson einen großen Bogen gemacht, dank durchaus nachvollziehbarer Kritiken von anderswo. Bei Day Shift habe ich dann doch Halt gemacht. Lust auf Horroraction im Stile von Daybreakers? Gerne! Dass der trotz lichtscheuen Vampiren sonnendurchflutete Film mit Jamie Foxx, auch Mitglied des Haus- und Hof-Ensembles von Netflix (siehe Project Power), wohl kaum tiefgründiges Patschenkino werden wird, war zu erwarten. Doch es muss nicht immer nachhaltig sein, es darf auch so manches Junk-Food mit auf die Watchlist, denn immer wieder sind da kernige Guilty Pleasures dabei.

Day Shift von Regiedebütant JJ Perry gehört definitiv nicht dazu. Qualitätskino? Nein. Nachhaltig auch nicht. Tiefgründig sowieso nicht. Und Guilty Pleasure? Zumindest Night Teeth, der letzte urbane Vampirfilm auf Netflix mit einem geschmackvollen Cameo von Megan Fox als Untote mit Potenzial, hätte die Bezeichnung unter Bauchweh verdient. Day Shift ist weder knackig noch mitreißend, wenn man zumindest von der ersten Actionsequenz des Filmes absieht. Da lässt man gar kurzzeitig die Finger über der Popcornschüssel ruhen, wenn Jamie Foxx als angeblicher Poolreiniger den Bungalow eines Blutsaugers infiltriert und mit einer zähnefletschenden Oma aneinandergerät, die sich so verbiegen kann wie die Schlangenmenschen des Cirque du Soleil (welche dann auch wirklich für den Film engagiert wurden) und dem Vampirjäger ordentlich Paroli bietet. Sieh einer an, denke ich mir. Das sieht vielversprechend aus. Nach diesem Schlagabtausch hat der Film allerdings sein As bereits aus dem Ärmel gezogen. Der Rest ist liebloser Pfusch, schlecht gespielt und von der Story her so sehr zerfahren, dass diese in der Belanglosigkeit versinkt und einzig Jamie Foxx, der es nicht schafft, so zu tun, als würde er sich für die präpubertären Zoten von Dave Franco interessieren, durch einen Actionfilm stolpert, der wirklich nur dazu da ist, restverwertet zu werden, bevor das verantwortliche Studio ihn eingestampft hätte.

Worum es geht? Anscheinend gibt es in dieser phantastischen Version der USA eine Gewerkschaft, die sich mit dem Jagen und Eliminieren von Vampiren beschäftigt. Jamie Foxx als sorgender Papa müsste mitansehen, wie seine Tochter samt geschiedener Mama nach Florida zieht, hätte er nicht innerhalb weniger Tage ein schönes Sümmchen an Dollar zur Verfügung, um seine Alimente zu zahlen. Dafür fleht er um Wiederaufnahme in die Vampirjägergilde, die ihm auch gewährt wird, allerdings mit Aufpasser Franco an seiner Seite, der keine Ahnung vom Außendienst hat. Und da ist dann noch irgendeine Obervampirin, die sich für den Tod an eingangs erwähnter Oma rächen will.

Selten hatten Vampire so wenig Charisma wie hier. Was daran liegt, dass das Skript falsche Prioritäten setzt. Um eine Welt zu schaffen, in der Untote wie diese inhärent sind, braucht es einen erklärenden Unterbau, der viel zu spät aufpoppt – und zwar dann, wenn sich niemand mehr dafür interessiert. Die Blutsauger, darunter Oliver Masucci, der sich womöglich aufgrund guten Geldes dazu hinreißen ließ, eine Dreiwortsatzrolle wie diese anzunehmen, sind fade und uninteressant, die Effekte billig und schal. Day Shift ist trotz diverser spitzer Zähne, die auf dem Schwarzmarkt landen, so zahnlos wie schlafende Vampire mit verschriebenen Dritten, die, würden sie von diesem Film wissen, wütend darüber wären, wie nachlässig mit ihrem Mythos umgegangen wird.

Day Shift

The Gray Man

DIE PFUSCHER VOM (GEHEIM)DIENST

5,5/10


grayman© 2022 Netflix


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANTHONY & JOE RUSSO

CAST: RYAN GOSLING, CHRIS EVANS, ANA DE ARMAS, BILLY BOB THORNTON, REGÉ-JEAN PAGE, WAGNER MOURA, JESSICA HENWICK, DHANUSH, JULIA BUTTERS, ALFRE WOODARD U. A.

LÄNGE: 2 STD 9 MIN


Ryan Gosling muss seine Identität nicht wechseln. Dafür hat er eine Nummer. Sierra 6. Oder so ähnlich. Netflix will nämlich auch gerne sein eigenes Agenten-Franchise haben, doch irgendwie mag es damit nicht so recht funktionieren. Vielleicht zäumt der derzeit unter einigem Kundenschwund leidende Streamingriese sein Pferd von der falschen Seite auf. Des Rätsels Lösung scheint nämlich nicht, jede Menge Superstars einzukaufen, die dann als abrufbares Haus-und-Hof-Ensemble zur Verfügung stehen. Wir haben Ryan Reynolds, Dwayne Johnson, Gal Gadot, Ana de Armas schon des Öfteren. Mark Wahlberg, Jamie Foxx und jetzt auch zur Freude aller Fans von Nicolas Winding Refn, der ihn mit Drive so richtig stoisch in Szene gesetzt hat: eben Ryan Gosling. Das muss doch funktionieren, denken sich die Verantwortlichen von Netflix und feiern sich und den Actionthriller The Gray Man als neues Ei des Columbus, dessen um der Standfestigkeit willen in Mitleidenschaft gezogene Unterseite mehr Brüche quer durch den Film verursacht als anfänglich in Kauf genommen.

Denn was hat The Gray Man denn eigentlich wirklich Besonderes zu bieten – neben des Casts natürlich? Die Antwort ist nicht leicht zu finden. In der Story ruht sie jedenfalls nicht. Zugrunde liegt dieser ein x-beliebiger 08/15-Roman aus der Feder von Tom Clancys gehostetem Sidekick Mark Greaney, der gegenwärtig die Jack Ryan-Reihe munter fortführt. Um nicht dauernd dasselbe in Grün zu schreiben, gibt’s auch anderen Stoff – eben The Gray Man um einen angeblich lautlosen Killer eingangs erwähnter Nummer, der irgendwann aus dem Gefängnis geholt wird, um für die CIA als nicht ganz legaler Mister Saubermann zu arbeiten, mit einem Ticket rund um die Welt und einer Verpflichtung auf lebenslang. Die CIA und andere Geheimdienste nutzen zwar wiederholt gut ausgebildete, steuerfreie Schergen zur bequemen Beseitigung potenziell weltverschlimmernder Individuen, wollen aber andererseits natürlich nicht, dass irgendwo in den Rechtsstaaten etwas davon durchsickert. Eine oft benutzte und noch öfter variierte Grundlage für das Thriller Entertainment, sei es nun im Kino oder als Serie. Bei Hanna hat das gut geklappt, bei den Bourne-Filmen ebenso. Bei The Gray Man – nun ja. Die Art und Weise, wie die Einsatzgruppe Scriptwriting hier die Belletristik adaptiert hat, lässt darauf schließen, dass Netflix wirklich nur auf Prominenz setzt.

Der Thriller hat inhaltlich nichts zu bieten. Also zumindest nichts Neues. Die Handlung bemüht sich, auf Spielfilmlänge zumindest so auszusehen, als hätten alle Beteiligten die Sache durchdacht. Und zwar auf kreative Weise. Mit Achterbahnfahrten quer durch Europa (gar nicht mal so exotisch – für die USA vielleicht, in uns Europäern weckt das nicht so sehr das Fernweh) und hineingezwängten Wendungen, die gestressten Nine-to-Five-Jobbern gleich bei stoßzeitlicher U-Bahnüberfüllung auch noch hinter die Tür des abgefertigten Zuges wollen. Dabei entstehen Logiklöcher, die, auch wenn man will, nicht oder nur schwer zu übersehen sind. Tom Cruise schafft in seinen Mission Impossible-Filmen trotz all der kuriosen Schauwerte immer noch sowas wie Plausibilität – den Russo-Brüdern, die mit den beiden Infinity-Filmen aus dem MCU wirklich zeigen konnten, was sie drauf haben, bleibt angesichts des schalen Plots kaum Füllstoff, um dramaturgischen Wendungen nicht den Sinn zu rauben.

Und dennoch: Die Rechnung von The Gray Man ist nicht eine, die gar nicht aufgeht. Wir haben den mimisch recht einsilbigen, aber sympathischen Gosling, der mit Gaze-Auflagen Scherenstiche heilt und Herumballern als diskrete Killermethode bezeichnet. Und den freudvoll aufspielenden Chris Evans jenseits von Captain America, der mit Pornobalken und enger Hose gerne mal den Ungustl gibt. Ana de Armas bleibt da außen vor – ihre guten Momente sind zum Beispiel in der ebenfalls auf Netflix veröffentlichten Agenten-Biopic Sergio zu finden. Und die Action? Spricht nicht für den teuersten Netflix-Film aller Zeiten. Obwohl ich kein Fan bin: Michael Bay hätte diese wohl prächtiger inszeniert. Wobei die krachige Straßenbahnsequenz in Prag außerplanmäßigen Intervallen infolge einer Zugstörung neue Bedeutung verleiht.

The Gray Man

Ein Festtag

VENUS IM HERRENHAUS

7/10


einfesttag© 2021 Tobis Film


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: EVA HUSSON

SCRIPT: ALICE BIRCH, NACH EINEM ROMAN VON GRAHAM SWIFT

CAST: ODESSA YOUNG, JOSH O’CONNOR, OLIVIA COLMAN, COLIN FIRTH, GLENDA JACKSON, SOPE DIRISU, PATSY FERRAN, EMMA D’ARCY U. A.

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Eine junge Frau spaziert nackt durch die menschenleeren Hallen eines stattlichen Landsitzes. Die Herrschaften sind ausgeflogen, es ist schließlich Mothering Sunday, also Muttertag. Mit leisen Sohlen schleicht sie über gebürstete Teppiche und leise knarzende Dielen, streicht über die Buchrücken akkurat einsortierter Lederbände in einer dunkel getäfelten Bibliothek. Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fällt, lässt diesen weiblichen Körper als etwas Sphärisches erscheinen. Als eine vom Olymp herabgestiegene Aphrodite – oder Venus, wenn es römisch sein soll.  Dabei ist diese Venus „nur“ ein Zimmermädchen, und noch dazu eines, dass hier, in diesen Räumen, eigentlich nichts zu suchen hätte. Doch die Liebe zum Erben des ansässigen Gutsherren Sheringham ist größer und stärker als die gesellschaftliche Ordnung, welche besagt, dass Pärchen unterschiedlicher Klassen nichts gemeinsam haben sollen. Weder Ehebett noch Kinder noch ihre Ideale. Dazu ist Paul Sheringham, die große Liebe von Jane Fairchild, einer anderen Dame der Oberschicht versprochen, die während des Picknicks am See nervös auf ihren Verlobten wartet. Die Zukunft der jungen Leute, die schmieden immer noch die noblen Eltern. Dass es daraus kein Entkommen gibt, weiß auch Jane. Doch sie weiß nicht, welches Schicksal dieser Tag wohl noch bringen wird, nachdem sich Paul nach einem Nachmittag aus Leidenschaft, Hingabe und inniger Vertrautheit verabschieden muss.

Statt den Crawleys auf Downton Abbey gibt es hier die Nivens und die Sheringhams, Adelsfamilien mit Anstand und Reichtum, jedoch seelisch gezeichnet, denn wir schreiben die bitteren Nachkriegsjahre der 1920er, und Mrs. Niven (Olivia Colman) kommt über den Tod ihres Sohnes am Schlachtfeld einfach nicht hinweg. Dieser Schatten des Krieges und eine Zeit des kummervollen Phlegmatismus, in welcher Güter und Gesellschaft längst nicht die nötige Freude am Leben lukrieren, hängt über Graham Swifts Romanadaption wie die weißen Laken über dem Interieur in einem Anwesen, dass schon viel zu lange Zeit keiner mehr betreten hat. In dieser begüterten Einsamkeit bleibt Jane eine selbstbewusste Erscheinung, die gute Seele eines traurigen Hauses und gleichermaßen befähigt und rebellisch genug, starre Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen. Die junge Australierin Odessa Young ist dabei eine Offenbarung, und am meisten zu verdanken hat sie dies Kameramann Jamie D. Ramsay, der Youngs Bereitschaft, sich durchaus freizügig in Szene setzen zu lassen, mit erotischen und enorm geschmackvollen Bildern honoriert, für die sich ein David Hamilton wohl etwas weniger kompetent fühlen könnte.

Ein Festtag, die auf mehreren Zeitebenen ausgetragene, bittersüße Erinnerung an eine Liebe, ist weder ein durch Dialoge ermüdetes Kostümdrama noch schmachtender Historienkitsch, der sich an Erfolgsshows wie Bridgerton oder Downton Abbey auch nur irgendwie anbiedern will. Ein Festtag ist auf innovative Weise losgelöst von allzu konventionellen Versatzstücken. Regisseurin Eva Husson setzt ihren Fokus vor allem auf die Inszenierung einer vertrauten, entspannten, unbeobachteten Atmosphäre aus Intimität und intellektueller Reife. Jenseits dieses Nachmittags der Zweisamkeit hadert die Oberschicht mit vergangenen und zukünftigen Schicksalen.

Der britische Virtuose James Ivory hätte diesen Stoff vermutlich dezenter umgesetzt – doch gerade die Offenheit von Hussons Sicht auf die Dinge, die im Argen liegen und andererseits so schön sein könnten, wäre Freiheit seiner Zeit nicht so sehr unterworfen, schenkt diesem Liebesfilm besondere Momente, die in seiner Art nur dort zu finden sind.

Ein Festtag

Firestarter

ZÜNDELN WILL GELERNT SEIN

3,5/10


firestarter© 2022 UNIVERSAL STUDIOS. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: KEITH THOMAS

CAST: ZAC EFRON, RYAN KIERA ARMSTRONG, MICHAEL GREYEYES, KURTWOOD SMITH, JOHN BEASLEY, GLORIA REUBEN, SYDNEY LEMMON U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Wir wissen das noch aus der eigenen Kindheit, oder? – Wenn die Eltern kurz mal außer Haus mussten. Da hieß es doch nebst des obligaten Merk-Reims Messer, Gabel, Scher‘ und Licht… abschließend noch: Nicht zündeln! Vor allem wäre es mir, damals in Elternhausen, ein leichtes gewesen, den Feuerteufel auf Ausgang zu schicken, hatten wir doch einen guten alten Koksofen, der mich zur kalten Jahreszeit allmorgendlich aus dem Schlaf zu reißen wusste. Heute wäre solch eine Selbstversorger-Heizung in Anbetracht obszön steigender Energiekosten wünschenswert. Hat man aber jemanden wie Stephen Kings Firestarter im Haus, sind Warmwasser und Heizkosten kein Thema mehr, solange man Töchterchen Charlie nur ein bisschen ärgert – schon wabert die Luft und das Wasser im Topf schlägt Blasen. Das Problem an der Sache: Charlie kann ihre Special Skills nicht wirklich steuern, gelegentlich nur unterdrücken, mithilfe einer Technik, die ihr Papa Zac Efron beigebracht hat. Je älter man aber wird, umso emotionaler reagiert man auf die Umwelt – und das Feuer brennt überall dort lichterloh, wo es nicht brennen soll. Als das Geheimnis an die Öffentlichkeit kommt, ruft das jene auf den Plan, die ihre Fähigkeiten überhaupt erst ermöglicht hatten – ein dubioses Wissenschaftslabor, dass mit Gen-Experimenten Leute hervorgebracht hat, die wir aus den X-Men-Filmen oder und vor allem auch aus der FSK-18-Serie The Boys kennen.

Das ganze Szenario erinnert stark an den Marvel-Teeniehorror The New Mutants – hilflose Andersbegabte sind einer eigennützigen Organisation ausgeliefert, die letztlich gar nicht so hilflos scheinen, würden sie ihre Fähigkeiten nicht mehr nur random einsetzen, sondern gezielt, um all den Bösen die Rache auch wirklich süß genug schmecken zu lassen. Kalt serviert wird sie hier jedenfalls nicht: Ryan Kiera Armstrong heizt durch die Gänge und verursacht da und dort Brandwunden zweiten und dritten Grades. Wer grundlegend schon mal Angst vor Feuer hat und selbst beim Entfachen eines Feuerzeugs feuchte Hände bekommt, wird bei all den züngelnden Flammen vielleicht Reißaus nehmen, so plötzlich, wie es hier wabert. Und dennoch: Auch wenn Zac Efron als mit hypnotischen Fähigkeiten ausgestatteter Papa-Mutant jedes Mal rezeptpflichtig aus den Augen blutet, wenn er andere gedanklich manipuliert und sich seinen elterlichen Sorgen souverän hingibt, lässt der Fantasythriller so einiges anbrennen. Vielleicht, weil er sich nicht zwischen Horror und Superhelden-Genese entscheiden kann (was man seit Doctor Strange in the Multiverse of Madness eigentlich nicht müsste) oder weil Stephen Kings literarische Vorlage prinzipiell nicht so viel hergibt wie andere. Auch bleibt der kindliche Hauptcharakter relativ flach, und der ganze Unterbau rund um eine Stranger Things-Verschwörung ist von irgendwoher bis zur Grobkörnigkeit abkopiert. Ab einem gewissen Punkt im Film – und das schon sehr früh – verliert die Geschichte seine Zuseher, weil der Plot bewährten Schnittmustern folgt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in rund 90 Minuten packen will und keine Zeit für seine Figuren hat. 

Will man sich von der Unberechenbarkeit flammender Inferni wirklich die Nackenhaare aufstellen lassen, bleibt immer noch Ron Howards Backdraft ein empfehlenswerter Knüller, so auch der Feuerwehr-Abgesang No Way Out mit Josh Brolin. Und würde unsere Brandstifterin nicht Charlie, sondern Jean Grey heißen, könnte Firestarter zumindest als alternatives Prequel für Dark Phoenix seinen Platz finden. So aber fällt es schwer, mit dieser Blumhouse-Dutzendware warm zu werden.

Firestarter

Der Anruf

AGENTEN BEIM WEIN

6/10


deranruf© 2022 Amazon Studios


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: JANUS METZ

SCRIPT: OLEN STEINHAUER, NACH SEINEM ROMAN

CAST: CHRIS PINE, THANDIWE NEWTON, LAURENCE FISHBURNE, JONATHAN PRYCE, ORLI SHUKA, COREY JOHNSON, DAVID DAWSON U. A. 

LÄNGE: 1 STD 41 MIN


Wenn Chris Pine als Agent Henry Pelham aus dem Fenster seiner Wohnung blickt, dann sieht man die klassizistischen Kuppeln der Wiener Hauptmuseen – wenn man ganz genau schaut, sogar die Minoritenkirche. Da haben die Macher dieses Streifens in Städtekunde aufgepasst, was aber nun auch keinen Eintrag ins Klassenbuch lukriert, denn sonst bleibt die Kapitale Österreichs hinter generischen Gassen und Fassaden gut verborgen. Die Gloriette ist übrigens auch nicht mehr das, was sie mal war. Aber das schert die wenigsten. Mir als Wiener fällt sowas natürlich auf, wie damals schon, bei James Bond: Der Hauch des Todes, als Timothy Dalton im Cellokasten die slowakischen Alpen runterbrettert und sich vor den Toren Wiens einbremst. Das Marchfeld liegt anderswo.

Aber genug der fremdenführerischen Spitzfindigkeiten. Es geht schließlich um Superstar Chris Pine – vormals Captain Kirk und die große Liebe von Wonder Woman – und um Thandiwe Newton, Mission Impossible- und Star Wars-geeicht. Die beiden sind also auf alles vorbereitet und haben vieles gemeinsam durchgemacht – also zumindest in diesem Film, der den prickelnden deutschen Namen Der Anruf trägt, wobei: den Originaltitel All the Old Knives zu verstecken, erscheint fast schon ignorant. Weiß Olen Steinhauer (nicht verwandt mit Erwin) davon? Aber andererseits: er wird froh sein, seinen gerade mal sieben Jahre alten Roman verfilmt zu sehen, noch dazu mit solcher Spitzenbesetzung, da lässt sich ein Anruf schon ignorieren. Steinhauer wird ja praktisch als jemand angesehen, der die Kalte-Krieg-Ära eines John le Carré (der ja tatsächlich im Geheimdienst tätig war) bis in die Gegenwart und darüber hinaus weiterspinnen will. Mit Russland hat vorliegendes Werk also nur peripher zu tun, was sich in Zukunft vielleicht ändern könnte, denn der Kalte Krieg hat sich, wie es scheint, erneut aus dem Grab erhoben. Hier, in Der Anruf, wärmt Steinhauer die globale Angst vor dem islamischen Terror nochmal ordentlich auf, indem er gleich zu Beginn ein Flugzeug der (natürlich fiktiven)Turkish Alliance entführen und auf dem Flughafen von Wien-Schwechat landen lässt. Darin fordern eine Handvoll lebensunlustige Radikale die Freilassung diverser Gefangener. Glück im Unglück: die CIA hat einen ihrer Männer im Flieger, vorzugsweise inkognito – doch dieses Ass im Ärmel fällt für alle sichtbar auf den Boden. Irgendwo gibt es einen Maulwurf – die Rettung der Passagiere misslingt, der Vorfall kommt zu den Akten und Thandiwe Newton als Agentin Celia wirft das Handtuch. Acht Jahre später soll die Sache mit Flug 127 neu aufgerollt werden, Agent Harry soll der Sache nachgehen und alle damals Beteiligten nochmals unter die Lupe nehmen. Darunter auch Celia, ehemals große Liebe und vielleicht verdächtig. Beide treffen sich in Kalifornien in einem noblen Weinlokal, um die alten Zeiten – oder die alten Messer – neu zu wetzen.

Der Anruf unter der Regie von Janus Metz (Borg vs. McEnroe) trägt als Grundgerüst alle Parameter eines dialogreichen, vielleicht gar psychologisch gefinkelten Kammerspiels, in welchem aber jede Menge Rückblenden eingebettet sind, die das Ganze ausweiten zu einem tragischen Spionagedrama quer durch den Osten Europas. Da ist Tschetschenien mit im Spiel und Moskau, vor allem Wien und immer wieder mal fällt der Name Angela Merkels. Die Spurensuche nach dem Sicherheitsleck quer durch die österreichische, deutsche und amerikanische Geheimdienstpolitik gestaltet sich gemächlich, trifft sich in Kaffeehäusern oder schlägt sich den Mantelkragen im regnerisch-kalten London hoch. Dabei gehen Steinhauers Ermittlungen ähnlich wie bei John le Carré, so sehr ins Detail und greifen nach so vielen losen Fäden, dass die Übersicht langsam bröckelt. Wer nun was wo tut und getan hat und warum, mag dem Stoff schon etwas die frische Färbung nehmen. Zusehends wird alles recht grau, und der Modus Operandi muss immer wieder mal in sich gehen, was den Zuseher warten lässt.

Und doch ist Der Anruf ein Film, der die zwischenmenschlichen Emotionen, die im Angesicht globaler Katastrophen außen vorgelassen werden müssten, so sehr ins Spiel bringt wie so manches frühe Nachkriegswerk des schwarzen Spionagefilms. Die individuelle Tragödie stellt die Weltpolitik aufs Abstellgleis, das Zerbrechen des eigenen Lebenstraums läutet die nächtliche Sperrstunde ein. Und Chris Pine, der, graumeliert und mit Dreitagebart, nach George Clooney die männliche Spätromantik neu einläuten könnte, schenkt uns da bei so viel Konflikt überzeugend wehmütige Blicke.

Der Anruf