Der Fremde (2025)

DIE GLEICHGÜLTIGKEIT DER WELT

7/10


© 2025 Foz Gaumont France2Cinema / Carole Bethue

ORIGINALTITEL: L’ÉTRANGER

LAND / JAHR: FRANKREICH 2025

REGIE: FRANÇOIS OZON

DREHBUCH: FRANÇOIS OZON, NACH DEM ROMAN VON ALBERT CAMUS

KAMERA: MANUEL DACOSSE

CAST: BENJAMIN VOISIN, REBECCA MARDER, PIERRE LOTTIN, DENIS LAVANT, SWANN ARLAUD, MIREILLE PERRIER, JEAN-CHARLES CLICHET U. A.

LÄNGE: 2 STD


The Cure haben darüber ein Lied geschrieben: Killing an Arab. Dieser äußerst provokante Titel bezieht sich auf den literarischen Klassiker von Albert Camus, der nun von François Ozon, dem man nicht wirklich nachsagen kann, immer nur dieselbe Art von Filmen zu drehen, neu aufgelegt wurde. Zuletzt war Luchino Visconti dran, mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle, doch das ist schon einige Jährchen her, genauer gesagt lief der Film Ende der Sechzigerjahre in den Kinos. Diese Sechzigerjahre haben es Ozon allerdings angetan: Sein Film Der Fremde wirkt, als würde er sich hüten, als zeitgemäße Neuinterpretation verstanden werden zu wollen. Alles darin macht große Schritte zurück in der Zeit und tut mit ziemlich viel Erfolg gar so, als hätten wir es mit der Wiederaufführung von etwas längst Vergangenem und neu Entdecktem zu tun. Nicht unwesentlich ist dabei die Umsetzung in unexperimentellem, akkuratem Schwarzweiß – die einzige mögliche Methode, eine Geschichte wie die von Albert Camus darzustellen. Denn jede Farbe, jeder Effekt, jedes visuelle Geräusch würde diesem existenzialistischen Sozialhorror zuwiderlaufen. Doch was heißt Existenzialismus – Albert Camus treibt es in seiner Ich-Erzählung, gegliedert in zwei Teile, so dermaßen auf die Spitze, das nichts mehr bleibt, außer eben dem Nichts, einer nihilistischen Weltsicht, die sich, frei von jeglicher Emotion, mit der erbarmungslosen Gleichgültigkeit einer Welt bestens versteht.

Ein unerträglicher Charakter

Im Zentrum dieser eiskalten Gesamtsituation aus Zynismus und Empfindungsarmut steht die gespenstische Figur des jungen Meursault, den man schon in den ersten Minuten regelrecht verabscheut. Nichts im Gesicht von Schauspieler Benjamin Voisin (u. a. Die Tanzenden) regt sich, nicht mal dann, als er vom Tod seiner Mutter erfährt. Trauer, Schmerz, das Gefühl von Verlust? Fehlanzeige. Doch Meursault tut, was er tun muss, er imitiert die Kultur des christlichen Abendlandes in einem Land, das ihm nicht gehört, in dem er als Fremder im kolonialen Algerien seine Brötchen verdient, und verdient er sie mal nicht, beginnt er Affären mit Frauen, die sich nicht daran stoßen, dass Meursault nichts empfindet, zu nichts eine Meinung hat, weil nichts in der Welt als sinnvoll gilt.

Das geht sogar so weit, dass unser Protagonist einen Mord begeht. Einmal vor Gericht, offenbart sich schließlich die ganze Schrecklichkeit einer belanglosen Existenz in einer langweiligen Welt, die Fatalität der Natur der Dinge, die in stoischer Regungslosigkeit all die Anstrengungen der menschlichen Spezies, um dort hin zu gelangen, wo sie sich aktuell befindet, gleichgültig reflektiert.

Existenz hat keine Meinung

Francois Ozons grimmiger Edel-Nihilismus seziert einen unerträglichen Charakter in ästhetischen Bildern – und findet: nichts. Die Gestalt des Meursault ist wie die Vorwegnahme einer künstlichen Intelligenz, eines Androiden, der nichts empfinden kann, nicht weil er nicht will, sondern weil die Welt nichts dafür übrig hat. Voisin ergibt sich seinem provokante Spiel, immer mehr wundert man sich, dass die soziale Isolation nicht als Konsequenz für dieses ignorante Leben eine gerechte Strafe wäre, doch isoliert ist er nicht, genauso wenig wie Patrick Bateman in Bret Easton Ellis‘ American Psycho, eine ähnlich gelangweilte, abgestumpfte, übersättigte Person, die den Reiz der eigenen Lebendigkeit nur anhand von Bluttaten empfindet. Camus‘ Der Fremde mag Inspiration gewesen sein für diesen Killer-Charakter, doch selbst ist er keiner. Am Ende des Films wird klar, das all die Sinnlosigkeit der Existenz niemals selbstgewählte Überzeugung war, sondern das Resultat einer epochalen Enttäuschung, die daraus resultiert, auf keine der Fragen an die Welt jemals eine Antwort bekommen zu haben.

Resignativ, aber immer noch verzweifelt genug: So gelingt François Ozon, ohne uns selbst an dieser Figur verzweifeln zu lassen, eine messerscharfe, fast schon klinische Charakterstudie, oder besser gesagt, ein Psychogramm, abgestumpft und verdrossen, dass sich mit dem Dialog zwischen einem zum Tode Verurteilten und einem Geistlichen zu einem Crescendo aufbäumt, dass die Essenz des Existenzialismus als gewaltige emotionale Krise darstellt. Da haben wir es wieder, das Gefühl. Im Grunde war es immer da.

Der Fremde (2025)

Anatomie eines Falls (2023)

DIE WAHRHEIT IN DER WAHRNEHMUNG

7/10


anatomieeinesfalls© 2023 Plaion Pictures


LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

REGIE: JUSTINE TRIET

DREHBUCH: JUSTINE TRIET, ARTHUR HARARI

CAST: SANDRA HÜLLER, SWANN ARLAUD, MILO MACHADO GRANER, ANTOINE REINARTZ, SAMUEL THEIS, JEHNNY BETH, SAADIA BENTAÏEB, CAMILLE RUTHERFORD, SOPHIE FILLIÈRES, ANNA ROTGER U. A.

LÄNGE: 2 STD 31 MIN


Manche sagen, Sandra Hüller sei die Königin von Cannes gewesen. Ungekrönt zwar, aber dennoch. In zwei Filmen war sie heuer vertreten, einer davon hat die Goldene Palme kassiert. Die Rede ist von Anatomie eines Falls – ein Titel, der in der deutschen Übersetzung herrlich zweideutig daherkommt. Entweder ist es besagter Sturz des Ehemanns aus dem Fenster (oder vom Balkon), oder es ist der Fall an sich, dessen Zutragen niemand beobachtet hat und für ewig ein Geheimnis bleiben wird – oder doch nicht? Ob Königin oder nicht – die deutsche Schauspielerin, die 2006 mit dem Exorzismus-Drama Requiem reüssierte und genauso wie Peter Simonischek mit Toni Erdmann international Aufmerksamkeit erlangte, gibt sich unprätentiös, authentisch und spart sich den ganzen Glamour. Wenn sie spielt, dann haben ihre Rolle etwas unverwechselbar Natürliches, weit weg von verkrampftem Method Acting oder sonstigen Spielereien. Sowas nennt man Naturtalent, und das sieht man. Genau diese schauspielerische Handschlagsqualität dürfte auch Justine Triet bewundert haben. Anatomie eines Falls ist nicht ihre erste Zusammenarbeit mit Hüller – in Sibyl – Therapie zwecklos gab diese eine entnervte Regisseurin, und zwar mit Hingabe. Nun aber liegt der Fokus ganz auf ihr – und dem phänomenalen Milo Machado Graner, ihrem weitaus jüngeren Schauspielpartner, der Filmsohn Daniel verkörpert, welcher mit vier Jahren aufgrund eines Unfalls fast das Augenlicht verlor.

Schauplatz des Kriminaldramas – ich würde den Film mal als solchen grob verorten – ist die ganze breite Bühne für einen Whodunit-Krimi, wie ihn Agatha Christie oder Patricia Highsmith wohl schreiben würden: Ein Chalet irgendwo in den tiefverschneiten französischen Alpen nahe Grenoble. Bewohnt wird dieses seit nicht allzu langer Zeit von Schriftstellerin Sandra Voyter, ihrem Ehemann Samuel und besagtem Spross, dem sehtechnisch eingeschränkten Daniel, dessen bester Freund wohl Hund Snoop scheint, der mehr mitbekommt als Hundebesitzern vielleicht lieb sein könnte. Eines Tages lädt Sandra eine Studentin zum Interview, doch dieses muss frühzeitig abgebrochen werden, da Samuel in provokanter Rücksichtslosigkeit alle Anwesenden mit lautstarker Musik zwangsbeschallt. Kurze Zeit später verlässt auch Daniel für eine Runde mit dem Hund das Haus, um bei seiner Rückkehr seinen Vater tot vor dem Haus liegend vorzufinden. Ein Sturz entweder aus dem Dachgeschoß oder aus dem zweiten Stock, allerdings könnte das Schädel-Hirn-Trauma auch durch einen Schlag auf den Kopf verursacht worden sein. Sandra gerät unter Mordverdacht, hat aber einen alten Bekannten an ihrer Seite, der als Anwalt den Fall sogleich übernimmt. Was sich in den nächsten Wochen und Monaten entspinnt, ist ein lupenreiner Indizienprozess, der zwar auch den Hergang des Unglücks aus verschiedenen Perspektiven rekonstruiert, viel eher aber in den sozialpsychologischen Gesamtzustand eines familiären Biotops eintaucht, um daraus Schlüsse für die Wahrheit zu ziehen.

Genau hier verkündet Justine Triet ordentlich Einspruch. Für sie ist Wahrheit nichts, was anhand eines Justizprozesses ans Tageslicht kommt. Dort geht es um die Kraft der Überzeugung, die bessere Show, das Ehestmögliche, doch niemals um den tatsächlichen Fakt. Viel zu viele Blickwinkel treffen aufeinander, subjektive Wahrnehmungen und damit einhergehende Interpretationen, für dessen Tatsache man sich, wie es im Film auch heisst, entscheiden muss. Anatomie eines Falls mutet zwar an wie ein Gerichtssaaldrama à la Zeugin der Anklage, ist es aber nur sekundär. Triet arbeitet nicht mit plakativen Wendungen, die fürs Eventkino eines Knives Out-Vehikels vermutlich hilfreich wären. Ihr Film ist kein oberflächliches Entertainment, sondern ein aus brillanten, straffen, von unnötigen blumigen Worthülsen befreiten Gesprächsprotokollen errichtete Rekapitulation eines tatsächlichen Zustandes zwischen Frau, Mann, Kind und Hund. Wie sehr trugen Streit, Misstrauen und Geheimnisse zum Geschehen eines Unglücks bei, das alles sein könnte: Mord, Totschlag, Unfall oder Selbstmord. Lässt sich aus diesem Unglück die Verantwortung eines kurz vor der Dysfunktion stehenden Zusammenlebens festmachen? Dabei geht es Triet weder darum, mit ihrem Cannes-Sieger dem Kino mit wuchtiger oder vielleicht gar verstörender Inszenierung gerecht zu werden. Ihr Film wird von Worten getragen, von Missverständnissen und Auslegungen. Minutenlang, wenn nicht länger, wird Sandra Hüller einvernommen. Und wir hängen an ihren Lippen, auch an den Lippen des jungen Daniel und an denen des Staatsanwalts. Schon längst geht es uns nicht mehr um den Fall an sich, sondern um die Wahrheit einer Beziehung, die es letztlich einfach niemals geben kann, da stets ein dritter oder vierter fehlt, um sie objektiv einzuordnen. Und selbst da fehlt diesem die nötige Biografie dieser Dreisamkeit, und hätte er sie, wäre er längst wieder Teil dieses Karussells aus Glauben und Interpretation, eigener Weltsicht und fehlender Weitsicht.

Der einzige Wermutstropfen: Anatomie eines Falls hält emotional auf Distanz, ist weder packend noch aufwühlend. Dafür aber pragmatisch und akkurat komponiert. In höchster Konzentration, die niemals ermüdet, folgt man einem ganz speziellen, lebendigen Hörfilm, in der sowohl die Diskrepanz unterschiedlicher Sprachen eine weit wichtigere Rolle spielt als das Visuelle. Es ist das Gefühl, es ist die Art, wie etwas gesagt wird, um sich daraus ein Bild machen zu können. Das vorgegebene ist dabei nicht wichtig.

Anatomie eines Falls (2023)