Murer – Anatomie eines Prozesses (2018)

ALS WÄRE DAS ALLES NIE GEWESEN

7/10


murer© 2018 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, LUXEMBURG 2018

REGIE / DREHBUCH: CHRISTIAN FROSCH

CAST: KARL FISCHER, KARL MARKOVICS, ALEXANDER E. FENNON, URSULA OFNER, RAINER WÖSS, GERHARD LIEBMANN, KLAUS ROTT, SUSI STACH, MENDY CAHAN, MATHIAS FORBERG, ROLAND JAEGER, MELITA JURIŠIĆ, INGE MAUX, HEINZ TRIXNER, CHRISTOPH KRUTZLER, FRANZ BUCHRIESER, ERNI MANGOLD U. A.

LÄNGE: 2 STD 17 MIN


Im Freisprechen sind die Österreicher Weltmeister, insbesondere im Freisprechen ehemaliger NS-Verbrecher, die sich nach Kriegsende auffällig leise verhalten und ihr biederes Gemeinwohlleben wieder aufgenommen haben. Das geht dann so weit, dass sie als integrer Teil der Gesellschaft unentbehrlich werden. Menschen wie diese, die während des Hitler-Regimes die Freiheit hatten, straflos über anderes, vermeintlich minderwertiges Leben zu richten, sind perfide genug, um so zu tun, als wäre nichts gewesen. Die verlederhoste Trachten-Gemütlichkeit, von der selbst Elfriede Jelinek schon geschrieben hat, beschert dem gern als Opfer unbequemer Zeiten angesehenen Provinz-Spießer die wahre Glückseligkeit. Einer wie Franz Murer, der ist ein Halbgott des Österreichtums, ein geselliger, bisschen kauziger Großgrundbesitzer mit Einfluss auf die Gemeindepolitik, umgeben von rechten Freunden und freundlichen Rechten. Der, so sagt er, sich niemals etwas zuschulden kommen ließ. Schließlich war Murer immer woanders, nur nicht dort, wo Verbrechen passiert sind.

Manche nannten ihn den Schlächter von Wilna. So ein namentlicher Appendix, der kommt nicht von irgendwoher und auch nicht aus dem Nichts. Als Fleischhauer wird er wohl nicht in die Geschichte eingegangen sein, denn schließlich war Murer Oberaufseher des litauischen Juden-Ghettos, und als Machtperson vor allem einer, dessen lockerer Finger am Abzug gar Frauen und Kindern das Leben gekostet hat. Ein Mann wie er hat Schaden und Schmerz verursacht, dass es ärger nicht hätte gehen können. Ein Mann wie er ist in den Sechzigern zum angesehenen Bürger geworden, wie viele andere auch in diesem schönen Land. Mit Simon Wiesenthal hat dann aber keiner gerechnet. Und so hat es dieser nach seinem Bravourstück mit Adolf Eichmann auch schließlich geschafft, diesen Franz Murer vor Gericht zu bringen.

Da sitzt der feiste Mittfünfziger mit kaltem Blick und wehleidiger Mine als einer, der nicht glauben kann, was ihm vorgeworfen wird. Ein Gesicht wie dieses, wenn es denn mordet, vergisst wohl niemand von denen, die dabeigewesen waren. Da ist es nicht wichtig, ob die Uniform grün oder schwarz oder dunkelbraun oder hellbraun gewesen war. Was zählt, ist das Konterfei, die ausdruckslose Mine, die Unerbittlichkeit willkürlichen Machtgebrauchs. Die Verteidigung sieht das anders, sie baut ihre Gegenargumentation auf Details wie diese auf. Und vermutet gar eine Verschwörung gegen den Angeklagten, der eine Lobby hinter sich weiß, die bis in die damalige österreichische Regierung reicht. Der Populismus war damals schon en vogue, und so gerät unter der Regie des Filmemachers Christian Frosch die Chronik eines Prozesses zur Leistungsschau autoritär Gesinnter, die als bereitwillige Mitläufer den Nazis eifrig zugearbeitet hätten – oder haben. Denn in den Sechzigern ist das Grauen in Europa bereits schon – oder erst – zwanzig Jahre her. Mord verjährt nie, und eine Anklage will gut vorbereitet sein. In einem Grazer Gerichtssaal wird der Zuseher Zeuge eines bereits im Vorfeld äußerst rechtslastigen Verfahrens, zu dem jüdische Zeugen, die im Ghetto von Wilna auf Murer stießen, geladen und angehört werden. Der Ausgang dieses Prozesses steht in den Annalen der österreichischen Gegenwartsgeschichte: Freispruch in allen Anklagepunkten.

Für die Rekonstruktion der Ereignisse konnte Frosch eine ganze Menge bekannter Gesichter gewinnen – Karl Fischer gibt das leutselige, scheinbar harmlose Monster im gedeckt grünen Jagdschloss-Look, bei den Zeugenaussagen spielt seine Mimik alle Stücke, während er versucht, nicht der zu sein, für den ihn viele halten. Karl Markovics darf in die Rolle Simon Wiesenthals schlüpfen. Klaus Rott, Susi Stach oder Gerhard Liebmann (grandios in Eismayer) sind drei der acht Geschworenen, Inge Maux zum Beispiel wütet als gedemütigte Jüdin gegen den schierpas erstaunten Murer, der im Heischen nach Mitleid ertrinkt. Dank dieses Ensembles führt Christian Frosch trotz seines nüchternen Inszenierungsstils die eigentliche Ambition hinter Murer – Anatomie eines Prozesses an ihr Ziel: Den authentischen Entwurf eines latent antisemitischen Dunstes, der durch den Gerichtssaal zieht. Zunehmend wird es unbequem, den Aussagen zu folgen, doch weniger wegen der Gräuel, von denen berichtet wird, als vielmehr von der grassierenden Verlachung von Tragödien. Statt Zeugen anzuhören, werden diese verhöhnt, erlittenes Unglück beschwichtigt. Wenn die Exekutivorgane der Justiz beim Freispruch des Schuldigen aus der Befürwortung dessen kein Hehl mehr machen, weiß man, was es geschlagen hat. Murer ist eine fröstelnd machende Bestandsaufnahme eines braun unterwandernden Österreich. Der Advokat des Teufels mag zwar am Ende geläutert sein – die Realität holt jede Fiktion dennoch ein und erzeugt vor einer unbequemen Klangkulisse einen Kloß im Hals, der einhergeht mit der Gewissheit, dass längst noch nicht alles gut ist.

Murer – Anatomie eines Prozesses (2018)

Anatomie eines Falls (2023)

DIE WAHRHEIT IN DER WAHRNEHMUNG

7/10


anatomieeinesfalls© 2023 Plaion Pictures


LAND / JAHR: FRANKREICH 2023

REGIE: JUSTINE TRIET

DREHBUCH: JUSTINE TRIET, ARTHUR HARARI

CAST: SANDRA HÜLLER, SWANN ARLAUD, MILO MACHADO GRANER, ANTOINE REINARTZ, SAMUEL THEIS, JEHNNY BETH, SAADIA BENTAÏEB, CAMILLE RUTHERFORD, SOPHIE FILLIÈRES, ANNA ROTGER U. A.

LÄNGE: 2 STD 31 MIN


Manche sagen, Sandra Hüller sei die Königin von Cannes gewesen. Ungekrönt zwar, aber dennoch. In zwei Filmen war sie heuer vertreten, einer davon hat die Goldene Palme kassiert. Die Rede ist von Anatomie eines Falls – ein Titel, der in der deutschen Übersetzung herrlich zweideutig daherkommt. Entweder ist es besagter Sturz des Ehemanns aus dem Fenster (oder vom Balkon), oder es ist der Fall an sich, dessen Zutragen niemand beobachtet hat und für ewig ein Geheimnis bleiben wird – oder doch nicht? Ob Königin oder nicht – die deutsche Schauspielerin, die 2006 mit dem Exorzismus-Drama Requiem reüssierte und genauso wie Peter Simonischek mit Toni Erdmann international Aufmerksamkeit erlangte, gibt sich unprätentiös, authentisch und spart sich den ganzen Glamour. Wenn sie spielt, dann haben ihre Rolle etwas unverwechselbar Natürliches, weit weg von verkrampftem Method Acting oder sonstigen Spielereien. Sowas nennt man Naturtalent, und das sieht man. Genau diese schauspielerische Handschlagsqualität dürfte auch Justine Triet bewundert haben. Anatomie eines Falls ist nicht ihre erste Zusammenarbeit mit Hüller – in Sibyl – Therapie zwecklos gab diese eine entnervte Regisseurin, und zwar mit Hingabe. Nun aber liegt der Fokus ganz auf ihr – und dem phänomenalen Milo Machado Graner, ihrem weitaus jüngeren Schauspielpartner, der Filmsohn Daniel verkörpert, welcher mit vier Jahren aufgrund eines Unfalls fast das Augenlicht verlor.

Schauplatz des Kriminaldramas – ich würde den Film mal als solchen grob verorten – ist die ganze breite Bühne für einen Whodunit-Krimi, wie ihn Agatha Christie oder Patricia Highsmith wohl schreiben würden: Ein Chalet irgendwo in den tiefverschneiten französischen Alpen nahe Grenoble. Bewohnt wird dieses seit nicht allzu langer Zeit von Schriftstellerin Sandra Voyter, ihrem Ehemann Samuel und besagtem Spross, dem sehtechnisch eingeschränkten Daniel, dessen bester Freund wohl Hund Snoop scheint, der mehr mitbekommt als Hundebesitzern vielleicht lieb sein könnte. Eines Tages lädt Sandra eine Studentin zum Interview, doch dieses muss frühzeitig abgebrochen werden, da Samuel in provokanter Rücksichtslosigkeit alle Anwesenden mit lautstarker Musik zwangsbeschallt. Kurze Zeit später verlässt auch Daniel für eine Runde mit dem Hund das Haus, um bei seiner Rückkehr seinen Vater tot vor dem Haus liegend vorzufinden. Ein Sturz entweder aus dem Dachgeschoß oder aus dem zweiten Stock, allerdings könnte das Schädel-Hirn-Trauma auch durch einen Schlag auf den Kopf verursacht worden sein. Sandra gerät unter Mordverdacht, hat aber einen alten Bekannten an ihrer Seite, der als Anwalt den Fall sogleich übernimmt. Was sich in den nächsten Wochen und Monaten entspinnt, ist ein lupenreiner Indizienprozess, der zwar auch den Hergang des Unglücks aus verschiedenen Perspektiven rekonstruiert, viel eher aber in den sozialpsychologischen Gesamtzustand eines familiären Biotops eintaucht, um daraus Schlüsse für die Wahrheit zu ziehen.

Genau hier verkündet Justine Triet ordentlich Einspruch. Für sie ist Wahrheit nichts, was anhand eines Justizprozesses ans Tageslicht kommt. Dort geht es um die Kraft der Überzeugung, die bessere Show, das Ehestmögliche, doch niemals um den tatsächlichen Fakt. Viel zu viele Blickwinkel treffen aufeinander, subjektive Wahrnehmungen und damit einhergehende Interpretationen, für dessen Tatsache man sich, wie es im Film auch heisst, entscheiden muss. Anatomie eines Falls mutet zwar an wie ein Gerichtssaaldrama à la Zeugin der Anklage, ist es aber nur sekundär. Triet arbeitet nicht mit plakativen Wendungen, die fürs Eventkino eines Knives Out-Vehikels vermutlich hilfreich wären. Ihr Film ist kein oberflächliches Entertainment, sondern ein aus brillanten, straffen, von unnötigen blumigen Worthülsen befreiten Gesprächsprotokollen errichtete Rekapitulation eines tatsächlichen Zustandes zwischen Frau, Mann, Kind und Hund. Wie sehr trugen Streit, Misstrauen und Geheimnisse zum Geschehen eines Unglücks bei, das alles sein könnte: Mord, Totschlag, Unfall oder Selbstmord. Lässt sich aus diesem Unglück die Verantwortung eines kurz vor der Dysfunktion stehenden Zusammenlebens festmachen? Dabei geht es Triet weder darum, mit ihrem Cannes-Sieger dem Kino mit wuchtiger oder vielleicht gar verstörender Inszenierung gerecht zu werden. Ihr Film wird von Worten getragen, von Missverständnissen und Auslegungen. Minutenlang, wenn nicht länger, wird Sandra Hüller einvernommen. Und wir hängen an ihren Lippen, auch an den Lippen des jungen Daniel und an denen des Staatsanwalts. Schon längst geht es uns nicht mehr um den Fall an sich, sondern um die Wahrheit einer Beziehung, die es letztlich einfach niemals geben kann, da stets ein dritter oder vierter fehlt, um sie objektiv einzuordnen. Und selbst da fehlt diesem die nötige Biografie dieser Dreisamkeit, und hätte er sie, wäre er längst wieder Teil dieses Karussells aus Glauben und Interpretation, eigener Weltsicht und fehlender Weitsicht.

Der einzige Wermutstropfen: Anatomie eines Falls hält emotional auf Distanz, ist weder packend noch aufwühlend. Dafür aber pragmatisch und akkurat komponiert. In höchster Konzentration, die niemals ermüdet, folgt man einem ganz speziellen, lebendigen Hörfilm, in der sowohl die Diskrepanz unterschiedlicher Sprachen eine weit wichtigere Rolle spielt als das Visuelle. Es ist das Gefühl, es ist die Art, wie etwas gesagt wird, um sich daraus ein Bild machen zu können. Das vorgegebene ist dabei nicht wichtig.

Anatomie eines Falls (2023)

Argentina, 1985 (2022)

NÜRNBERG WAR AUCH ANDERSWO

7/10


argentina1985© 2022 Amazon Studios


LAND / JAHR: ARGENTINIEN, USA 2022

REGIE: SANTIAGO MITRE

BUCH: MARIANO LLINÁS, SANTIAGO MITRE

CAST: RICARDO DARÍN, PETER LANZANI, GINA MASTRONICOLA, FRANCISCO BERTÍN, SANTIAGO AMAS ESTEVARENA, ALEJANDRA FLECHNER, NORMAN BRISKI, GABRIEL FERNANDEZ CAPELLO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 20 MIN


Versteckt im Angebotssortiment der Flatrate von Amazon Prime findet sich ein Film, der gute Chancen hat, bei den diesjährigen Oscars den Goldjungen für den besten internationalen Film mit nach Argentinien zu nehmen: Die Rede ist von Argentina, 1985, einem akkurat inszenierten Politdrama, das so ungefähr in jene Richtung geht, die seinerzeit Stanley Kramer mit Das Urteil von Nürnberg eingeschlagen hatte. Der für elf Oscar nominierte Streifen konnte einen für Maximilian Schell gewinnen, den anderen für das beste adaptierte Drehbuch. Letzteres ist wahrlich kein Wunder: Nazis bei ihrem verzweifelten Versuch zuzusehen, wie sie ihr bizarres Weltbild erörtern, hat schon etwas Verstörendes, abgesehen von den vielen niederschmetternden und an die Nieren gehenden Aussagen scheinbar unendlich vieler Zeugen, die allesamt das System hinter den Gräueln bestätigen konnten.

Was in Europa in den 30er und 40er-Jahren passiert war, gab es in abgewandelter, aber nicht minder heftiger Form auch in Argentinien – da riss in den 70erjahren das Militär die Macht an sich und errichtete eine Schreckensherrschaft aus Überwachung, Entführung, Verhör, Folter und Mord. 1983 war dann Schluss damit. Wie es zu diesem Befreiungsschlag kam, darauf geht Argentina, 1985 eigentlich nicht ein. Man muss jedoch, als nicht ganz so mit profundem Südamerika-Wissen ausgestatteter Zuseher, diesen Umstand nicht unbedingt kennen. Um hier noch tiefer in die Materie einzusteigen – dafür gibt es zahlreiche Dokumentationen, die man gerne begleitend sichten kann. Man muss es aber nicht. Argentina, 1985 funktioniert losgelöst von der restlichen Geschichte eines Landes, da der Film in seinem Bestreben, abzubilden, wie man Verbrechen an der Menschlichkeit ahnden kann, durchaus als universell gilt. Verbrechen wie diese gab und gibt es überall auf der Welt. Wer als Volk durch so eine Hölle ging, kann sich im Nachhinein nur noch darum bemühen, es nie wieder so weit kommen zu lassen.

Um ordentlich Gerechtigkeit walten zu lassen, wurde ein Jahr vor dem großen Prozess der Bundesanwalt Julio Strassera engagiert. Was zur damaligen Zeit besonders überrascht: der faschistische Sumpf ist da noch längst nicht trockengelegt, Anhänger hat das abgesägte Militär immer noch genug. Dieses Paradoxon lässt sich auch schwer nachvollziehen, doch wie auch immer: aufgrund dieses Engpasses an Integrität muss Strassera sein Team aus völlig unerfahrenen, aber hochmotivierten Justiz-Anfängern zusammenstellen, was ihm letzten Endes aber zum Vorteil gereichen sollte. Dieser erfrischenden, unverbrauchten Energie ist es zu verdanken, dass die Beweise in Rekordzeit zusammengetragen wurden, um die ersten neun Generäle, die für die dunklen Jahre Argentiniens verantwortlich waren, anzuklagen.

Zu Wort kommen diese vorwiegend ergrauten weißen Männer allerdings nicht. Wäre interessant gewesen, wie diese ihre Ideologie gerechtfertigt hätten, gleich den Psychopathen im Europa der Nachkriegszeit. Es wäre vermutlich auch erfüllend gewesen, ihre Argumentation im Keim ersticken oder bis auf den letzten Krümel versuchter Schadloshaltung verblasen zu lassen. Dieser Konfrontation geht Santiago Mitre aus dem Weg. Nichtsdestotrotz sorgt dieser mit seinem Aufarbeitungswerk und der originalgetreuen, fast schon gestengleichen Nachstellung der eindringlichsten Prozessmomente für eindringliche Geschichtsstunden nicht nur für jene, die wirklich viel Ahnung davon haben, was auf anderen Kontinenten in den vergangenen Jahrzehnten im Argen lag. Mitre komprimiert das Trauma und seine Verarbeitung auf leichte Überlänge und setzt seinen Fokus stets auf den Helden der Nation, nämlich Strassera, der wiederum von Argentiniens wohl bekanntesten Schauspieler dargestellt wird: Ricardo Darín. Hinter Achtzigerjahre-Frisur und Schnauzer ist er kaum wiederzuerkennen, und in seiner resoluten, furchtlosen und unkorrumpierbaren Art und Weise hält er wie ein Fels in der Brandung, bei Wind und Wetter, seine Prinzipien hoch. Angstmache und Einschüchterungen zeigt er die kalte Schulter. Strassera dürfte ein militanter Humanist gewesen sein. Argentina, 1985 ist daher auch weniger die Aufarbeitung des Schreckens, sondern viel mehr das Denkmal eines Mannes, der wie Captain America ein ganzes Team taufrischer Avengers angeführt hat, um die Heilung eines Staates voranzutreiben. Geschichte, die sich zum Guten wendet, wird eben von Leuten geschrieben, die nicht um ihrer selbst willen ins Rampenlicht treten, sondern für andere.

Argentina, 1985 ist penibel recherchiertes, dialoglastiges Kino, das zwar manchmal des Publikums erhöhte Aufmerksamkeit braucht, dann aber wieder Emotionen der Entrüstung und der Bestürzung lukriert. Dem Bösen ins Wort fällt der Film aber nicht. Was bleibt, ist ein klassischer Fall von lupenreinem Justizdrama, das nichts neu erfinden muss und es auch nicht tut – ausser die Zukunft eines friedlichen Zusammenlebens eines ganzen Volkes.

Argentina, 1985 (2022)

Der Gesang der Flusskrebse

UNTER’M MOOS WAS LOS

5/10


gesangderflusskrebse© 2022 Sony Pictures Entertainment


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: OLIVIA NEWMAN

CAST: DAISY EDGAR-JONES, TAYLOR JOHN SMITH, HARRIS DICKINSON, DAVID STRATHAIRN, GARRET DILLAHUNT, STERLING MACER JR. U. A.

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


Eine junge Frau, die, isoliert von der Außenwelt, im Wald aufwächst? Kinogehern der Neunziger kommt hier vermutlich Michael Apteds Resozialisierungsdrama Nell in den Sinn. Jodie Foster, entrückt und menschenscheu, auf non- bis paraverbale Kommunikationsmittel beschränkt. Ein verkümmerter Sprachschatz, ein animalisches Verhalten. Liam Neeson hat hier das versucht, was damals schon François Truffaut in seinem Tatsachendrama Der Wolfsjunge probiert hat: den Mensch dorthin zu bringen, wo er hingehört – In die Zivilisation.

Die junge Frau, weitgehend isoliert von der Außenwelt, wird in Delia Owens Bestseller Der Gesang der Flusskrebse beibehalten. Das animalische aber ist verschwunden, der Einklang mit der Natur nicht. Begeisterten Lesern des Romans zufolge sind die Schilderungen des Marschlandes North Carolinas mit all seiner Flora und Fauna das wahre Highlight des literarischen Werks, die von einer Kakophonie an tierischen Geräuschen untermalte Stimmung zwischen Riesenbäumen und labyrinthartigen Wasserwegen der Grund, warum Owens Buch ein Bestseller geworden ist. Mittendrin in diesem grünen Biotop: Ein Mädchen namens Kya, alleingelassen von allen. Erst von der Mutter, dann von den Geschwistern und schlussendlich vom Vater. Ein Leben aus Verlassenwerden und Einsamkeit. Die Einzige Konstante: die tägliche Agenda der Vögel, die vertrauten Gezeiten, der sich niemals ändernde Mechanismus eines intakten Ökosystems. Daheim ist daheim, auch wenn man dieses Daheim mit niemandem mehr teilen muss. Kya ist aber keine Nell, wie schon erwähnt. Sie ist klug, kann sprechen, außerdem bildhübsch und logischerweise menschenscheu. Was ihr dabei noch fehlt in ihrer sprichwörtlichen Raupensammlung: Die Anklage wegen Mordes. Also zerrt man sie aus ihrer vertrauten Umgebung und pflanzt sie vor Gericht, und das aufgrund von Vermutungen und der Bequemlichkeit, eine Außenseiterin wie Kya problemlos als hexengleiches Inquisitionsopfer einzubuchten, da ihr die Lobby fehlt. Das ändert sich jedoch mit einem herzensguten Anwalt im Ruhestand, der Kya von klein auf kennt und seinen Job für diese Sache wieder aufnimmt. Mit diesem Engagement folgt der Startschuss für mehrere Blicke in die Vergangenheit, die das Leben und die Liebe Kyas illustrieren sollen.

Das Buch schwelgt hier vielleicht in wortgewaltiger Romantik im Stile eines modernen Adalbert Stifter mit seitenweisen Satzgemälden, die das Dort so lebendig werden lassen. Im Film darf die Kamera des öfteren auf den majestätischen Eichen und Sumpfzypressen verweilen, die, behangen mit dem gespenstisch anmutenden, spanischen Moos, dem Wald eine ganz eigene Aura verleihen. Tiere, insbesondere Vögel, kommen auch ab und an vor, dürfen aber nur in der zweiten oder dritten Reihe zwitschern. Viel wichtiger ist die Romanze, die in diesem Sumpfland gedeiht. Mit diesem einen jungen Mann, der Kya das Lesen beibringt und sich natürlich in sie verliebt, was bei Daisy Edgar-Jones‘ reizendem und einfühlsamem Spiel wahrlich keine Kunst ist. Und mit diesem anderen, ebenfalls jungen und auch recht adretten Macho, den das Marschmädchen auf ganz andere Weise fasziniert, der aber sehr bald nicht mehr lockerlässt.

Reese Witherspoon hat das Buch fasziniert – und für die Verfilmung das nötige Kleingeld besorgt. Bei so viel Landschaftsliteratur sollte auch die passende Regie ans Werk gehen. Gut vorstellbar, was einer wie Terrence Malick daraus gemacht hätte. Seine frühen Arbeiten, unter anderem In der Glut des Südens, erheben die Natur zu einer üppigen Sensation aus Licht und Schatten. Der Gesang der Flusskrebse wäre wohl sein Ding gewesen. Auch die für Malick typische Stimme aus dem Off hätte hypnotischer, philosophischer, ausdrucksstärker geklungen. Dazu mystische Aufnahmen von Eule und Greifvogel, Frosch und Alligator. Olivia Newman fällt der Zugang in so eine Welt sichtlich schwer. Ihre Sumpfbilder sind da, weil das Buch es verlangt. Der Konflikt mit der Zivilisation ebenso. Wichtig ist der fürs breite Publikum so relevante Herzschmerz, männliche Rivalitäten und das vergebungshungrige Schmachten reuevoller Verliebter. After Love trifft auf Jungfrau-Robinsonade? Ungefähr so, nur der periphere Kriminalfall wartet darauf, dass irgendwo gar Sean Connery aus dem Sumpf des Verbrechens steigt. Stattdessen gibt David Strathairn den integren Advokaten mit überzeugendem Schlussplädoyer.

Den Vergleich mit dem Buch kann ich an dieser Stelle leider nicht ziehen, nur traue ich Owens Werk wohl kaum diese wenig plausible Entwicklung zu, die sich im Film offenbart. Manches begnügt sich, undurchdacht zu bleiben. Der Film selbst: arg konventionell. Edgar-Jones gibt ihr Bestes, hätte aber in ihrer naturkundlichen Leidenschaft und ihrem zerbrechlich-widerstandfähigem Äußeren einen besseren, wuchtigeren Film verdient, der die Thematik des Verlassenseins weniger auf das Ende von Romanzen reduziert.

Der Gesang der Flusskrebse

Ballade von der weißen Kuh

DER MENSCH DENKT, DOCH GOTT LENKT

7/10


balladevonderweissenkuh© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: IRAN, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: BEHTASH SANAEEHA & MARYAM MOGHADDAM

CAST: MARYAM MOGHADDAM, ALIREZA SANIFAR, AVIN PURRAOUFI, POURYA RAHIMISAM U. A. 

LÄNGE: 1 STD 45 MIN


Gottes Wege sind unergründlich – und manchmal tödlich. Ganz besonders im Iran, einem Land, in welchem sich die Todesstrafe einer gewissen politischen Beliebtheit erfreut. Wir wissen längst, dass die Justiz natürlich nicht die Weisheit mit dem Löffel gefressen hat – und nur darüber richten kann, was an Beweisen oder Nicht-Beweisen vorhanden ist. Da kann viel passieren. Manchmal ist der Schuldige dann wirklich schuldig, manchmal aber auch nicht. Und das ist dann schon relativ unfair, zumindest aus Sicht des Betroffenen. Wenn dann so einer auch noch sein Leben lassen muss für nichts und wieder nichts, könnte man überlegen, das Richtschwert doch lieber an den Haken über den Kamin zu hängen, als nostalgisches Mahnmal einer vergangenen, mittelalterlich agierenden Epoche. Die iranische Politik tut das nicht. Vergeltung ist Teil des Korans und Blutgeld gern gesehen. Die einigen wenigen, die sich darüber Gedanken machen, ob das wirklich Sinn macht, sind Filmemacher. Vor zwei Jahren hat der Episodenfilm Doch das Böse gibt es nicht bei den Filmfestspielen Berlin den goldenen Bären gewonnen. Das Kammerspiel Yalda erzählt das Schicksal einer zur Hinrichtung Verurteilten, der fahrlässige Tötung vorgeworfen wird, die aber dem Schicksal im Rahmen einer Fernsehshow entkommen könnte, würden ihr die Hinterbliebenen des Opfers vor laufender Kamera vergeben. Ballade von der Weißen Kuh ist der jüngste Beitrag zu diesem Thema, und man sieht – kalt lässt die Sache dort niemanden mehr.

Im Mittelpunkt steht Mina, Mutter einer gehörlosen Tochter, die ihren Ehemann an die Gerichtsbarkeit ihres Landes verliert. Verurteilt wegen Mordes, ist dieser plötzlich, nach dem Wissen der Tochter, plötzlich ganz weit weg und wird nicht mehr zurückkehren. Wie sich bald herausstellen wird: Papa war unschuldig, den Mord hat mittlerweile jemand anderer gestanden. Nur kommt die Amnesie ein bisschen zu spät, aus dem Jenseits lässt sich niemand mehr zurückholen. Mina fordert dennoch eine Entschuldigung der Justiz. Nebenbei fordert ihr Schwiegervater das Sorgerecht der Tochter, während wie aus dem Nichts ein Jugendfreund des Verstorbenen auftaucht und angebliche Schulden bezahlt, die er bei diesem gehabt haben soll. Mit dieser Begegnung ändert sich für Mina plötzlich alles. Denn dieser Reza zeigt sich in vielerlei Hinsicht plötzlich so hilfsbereit wie Mutter Teresa, was die traurige Restfamilie kaum glauben kann. Manchmal meint es Gott ja wirklich gut mit einem, trotz seines kruden Willens, den keiner versteht.

Wenn schon Filme aus dem Iran, dann über Schuld, Sühne und Vergebung. Vielleicht mitunter ein bisschen Rache, aber die unterwirft sich schnell einer gewissen Besonnenheit. Im Iran darf man das große Ganze nicht aus den Augen verlieren. Und natürlich die Folgen, die einem blühen könnten, würde man seinen Gefühlen nachgeben oder Dinge tun, die der gesellschaftlichen Norm ungern angehören. Ballade von der weißen Kuh, geschrieben und inszeniert von Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam, hat seine Gefühle fest im Griff. Das Teheran ihres tragödienhaften Dramas erträgt in einer gewissen Lethargie einen fahlen, grauen, schmucklosen Winter. Die ganze Stadt fühlt sich an, als wäre sie der Innenhof eines Staatsgefängnisses, wo man zu bestimmten Zeiten seine Runden drehen kann. Manchmal steht dort auch eine Kuh herum, weiß wie die Unschuld. Diese Schwermut zieht sich durch den ganzen Film und findet überraschenderweise Abwechslung in Maryam Moghaddams einnehmenden Spiel zwischen Trauer, Pragmatismus und leiser Hoffnung. Moghaddam trägt den Film im Alleingang – eine stolze, toughe, zähe Persönlichkeit, die weiß, wo ihre Rechte liegen. Die weiß, dass sie das Zeug hat, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, auch für ihre Tochter. Ein kraftvolles Psychogramm, das im Rahmen einer schicksalhaften, an die Filme Ashgar Farhadis erinnernden Häufung von Zufällen und Bestimmungen mit langem Atem analysiert wird.

Ballade von der weißen Kuh

Marshall

ROUTINE VOR GERICHT

5/10


marshall© 2017 Droits réservés

LAND / JAHR: USA 2017

REGIE: REGINALD HUDLIN

CAST: CHADWICK BOSEMAN, JOSH GAD, DAN STEVENS, KATE HUDSON, STERLING K. BROWN, SOPHIA BUSH, JAMES CROMWELL, JOHN MAGARO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 58 MIN


Chadwick Boseman lässt sich zurzeit nachhören – und zwar in der auf Disney+ erschienenen, animierten Marvel-Serie What If… . Anscheinend dürften diese Synchronarbeiten schon etwas länger zurückliegen. Gerade als alternativer Star Lord T’Challa hätte Boseman wohl vielleicht sogar einen Multiversum-Auftritt in der neuen MCU-Phase haben und ganz viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Doch leider wird das nichts. Falls man aber den charismatischen Schauspieler nochmal gerne auf den Schirm holen möchte, bietet sich natürlich das Heimkino an. Einer seiner Filme, die wohl nicht ganz so an die große Marketing-Glocke gehängt wurden, weil sie vielleicht zu hausbacken geworden sind, wäre jedenfalls Marshall – ein Biopic über den ersten schwarzen US-Richter der Geschichte. Zuvor war dieser allerdings als Anwalt für Minderheiten tätig, unter anderem für einen Kriminalfall wie jenen, den Regisseur Reginald Hudlin (u. a. Boomerang mit Eddie Murphy) hier als sehr herkömmliches Justizdrama aufbereitet hat.

Marshall spielt in den frühen Vierzigerjahren, zu einer Zeit also, in der es Schwarze deutlich schwerer hatten, vor Gericht Gehör zu finden als natürlich die Weißen. Die waren überdies auch einfach wohlhabender und konnten, wenn schon nicht mehr Sklaven, so doch ihre Bediensteten mit Minderheiten besetzen. Einer davon: Chauffeur Joseph Spell (Sterling K. Brown), der kurzerhand verhaftet wird, nachdem ihm eine wie Kate Hudson, die hier die High Society gibt, der Vergewaltigung beschuldigt. Das Wort einer Weißen steht gegen das eines Schwarzen – der wiederum beteuert, das Verbrechen nicht begangen zu haben. In dieser Not tritt Thurgood Marshall auf den Plan, für den Fälle wie diese zum Job gehören, der aber ganz besonders in dieser Sache mit dem jüdischen Anwalt Sam Friedman (Josh Gad) zusammenarbeiten muss, der zwar nur Versicherungsfälle betreut, in dieser Oberliga aber mitmischen muss, da Marshalls Konzession in diesem Eck der USA nicht gilt.

Es lässt sich in Marshall wieder ganz gut erkennen, wie sehr Chadwick Boseman mit nur wenigen charakterlichen Adaptionen gänzlich unterschiedliche Persönlichkeiten spiegelt. Sein Thurgood Marshall ist weit von einem Black Panther entfernt, und auch weit von seiner letzten, meiner Meinung nach besten Rolle, nämlich die des Trompetenspielers aus Ma Rainey´s Black Bottom. In diesem Film hier gibt sich Boseman distinguiert und aufgeräumt, konzentriert und selbstbewusst – keinesfalls leidenschaftlich. Ein praktisch veranlagter Anwalt, der keiner Obsession erliegt. Entsprechend konventionell ist auch Hudlins Krimidrama geworden. Für ein Fernsehspiel wäre Marshall vielleicht bemerkenswert gewesen. Oder eben gerade richtig. Großes Kino ist diese Routine vor Gericht somit nicht. Es ist ein Spiel nach bewährten Formeln, die allesamt fraglos verstanden wurden. So wirklich packend sind aber weder die mögliche Aussicht auf ein falsches Urteil noch die obligaten Schlussplädoyers. Hier fühlt man sich als stoischer Ordnungshüter auf dem Flur vor dem Gerichtssaal, der Fälle wie diese immer wieder zu hören bekommt. Deren Erörterung mag ja manchmal für die ganze verstockte Gesellschaft von damals zu einem nachhaltigen Ergebnis gelangt sein. Das Wie und Weshalb, das dazu führt, ist aber doch nur pflichtbewusste Tagesagenda.

Marshall

Stillwater – Gegen jeden Verdacht

DAS RICHTIGE TUN

8,5/10


stillwater© 2021 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2021

REGIE: TOM MCCARTHY

CAST: MATT DAMON, CAMILLE COTTIN, ABIGAIL BRESLIN, LILOU SIAUVAUD, DEANNA DUNAGAN, ANNE LE NY U. A. 

LÄNGE: 2 STD 20 MIN


Ihr könnt euch sicher alle noch an den aufsehenerregenden Fall Meredith Kärcher erinnern. Wenn da nichts klingelt, dann vermutlich beim Namen Amanda Knox. Jene Studentin, die knapp einer lebenslangen Haftstrafe entging, als sie nach vier Jahren aus dem Gefängnis kam, aufgrund eindeutiger Beweise der Unschuld der Angeklagten. Dennoch: das Image des Engels mit den Eisaugen blieb ihr – Danke den Medien an dieser Stelle, die das Kriminal-Brimborium publikumswirksam ausschlachten konnten. Amanda Knox hat sich im Falle des aktuellen Kinofilmes Stillwater – gegen jeden Verdacht gar zu Wort gemeldet – natürlich mit Plagiatsvorwürfen gegen das Drama von Tom McCarthy (Drehbuch-Oscar für Spotlight), der sich von dieser merkwürdigen Konstellation aus Opfer, Täter und Verdächtige inspirieren hat lassen. Wie gesagt: inspirieren. Nur sehr vage erinnert der Film an die tatsächlichen Ereignisse. Kein Grund, hier irgendwelche Rechte verletzt zu sehen. Und lässt sich der prägnante Lebenswandel einer bekannten Person denn tatsächlich rechtlich schützen? Gibt‘s dafür schon ein Copyright?

Abigail Breslin, die hat ohnedies keine eisblauen Augen, und sitzt außerdem nicht in Italien, sondern in Frankreich als Allison hinter schwedischen Gardinen. Schuldig des Mordes an ihrer Partnerin. Ausgefasst hat sie statt 26 „nur“ neun Jahre, und sie kann froh sein, dass ihr Vater Bill (die Mutter hat Suizid begangen, aber nicht wegen des Schicksals ihrer Tochter) immer wieder mal nach Marseille reist, um nach dem Rechten zu sehen und seiner Tochter die Wäsche zu waschen. Da überreicht sie ihm einen Brief für ihre Anwältin, mit einer wichtigen Information, die sie vielleicht, wenn alles klappt, deutlich früher als geplant entlasten und entlassen könnte. Papa Bill geht der Sache nach. Stößt zwar erst auf taube Ohren und bringt leere Kilometer hinter sich, doch dann öffnen sich ganz andere Chancen, die das Leben des sonst vom Pech verfolgten Amerikaners für immer verändern könnten.

Interessant und ungewöhnlich dabei ist, dass in Stillwater – Gegen jeden Verdacht der Fokus gar nicht mal zwingend auf dem Kriminalfall liegt, sondern sich vielmehr auf das Leben des verarmten, hart arbeitenden und ganz und gar nicht auf die Butterseite des Lebens gefallenen Charakter von Matt Damon konzentriert. Der liefert die beste und intensivste Performance seiner Karriere ab, wofür er, so hoffe ich, bei den nächsten Oscars zumindest nominiert werden sollte. Seine Rolle, die er mit jeder Faser seines schauspielerischen Know-Hows verkörpert, ist die eines schlichten, wortkargen Gemüts, eines bärbeißigen Arbeiters und Vorbestraften, der das Herz allerdings am rechten Fleck hat, sich im Zwischenmenschlichen allerdings ordentlich schwertut. Damon bringt mit wenigen Variationen des Ausdrucks dennoch eine ganze Palette an Gefühlsregungen zustande, von väterlicher Liebe bis zur fahrigen Anspannung. Sein Spiel ist wahrhaftig, seine zum Scheitern verurteilten Versuche, das Richtige zu tun, eine für ihn bewusstseinsverändernde Erfahrung. Tom McCarthy gelingt mit einem komplexen Script, das auf mehreren Ebenen funktioniert und in seiner Tonalität an Ken Loachs Sozialdramen erinnert, der psychosoziale Lebensentwurf einer Familie, die von einem andauernden schlechten Karma verfolgt zu sein scheint. Kurzum: Während die einen im Leben privilegiert sind, haben es andere scheinbar absichtlich schwer. In diesem Dilemma, indem das Richtige niemals richtig sein kann, sucht Matt Damon nach dem einzig richtigen Ausweg. Dieser Prozess ist bewegend, vielschichtig und grandios inszeniert. Trotz seiner Überlänge spart sich der Film unnötig Offensichtliches, behauptet sich sowohl als ruhiges Drama als auch als stimmungsvoller Thriller. Stillwater – Gegen jeden Verdacht zählt schon jetzt für mich zu den außergewöhnlichsten und daher auch besten Filmdramen des Jahres.

Stillwater – Gegen jeden Verdacht

Der Mauretanier

KUBAKRISE 2.0

6,5/10


mauretanier© 2021 TOBIS Film GmbH.


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN 2021

REGIE: KEVIN MACDONALD

CAST: TAHAR RAHIM, JODIE FOSTER, SHAILENE WOODLEY, BENEDICT CUMBERBATCH, ZACHARY LEVI, COREY JOHNSON U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Es kommt immer darauf an, wie Message Control ihre Arbeit leistet: Außen hui, innen pfui. Nach Filmen wie Judas and the Black Messiah oder eben Der Mauretanier ist das Bild von den (ehemals) selbsternannten Wächtern der Welt das eines durchtriebenen Heuchlers, der westliche Werte predigt, und selbst aber zu Mitteln greift, die schon in der spanischen Inquisition irgendwann später als überholt galten. Die Rede ist vom Foltern, bis das Geständnis kommt. Statt Streckbank und Daumenschrauben gibt’s in Guantanamo Waterboarding, Schlafentzug und sonstige Abscheulichkeiten, die den Gefangenen brechen sollen. Mit diesen Methoden ist es ein Leichtes, alle möglichen Geständnisse zu erzwingen, und seien es auch jene, die zugeben, mit sowas Abstraktem wie dem Teufel im Bunde zu sein oder den Hexensabbat zu tanzen. Unterzeichnete Wahrheiten, die nichts wert sind. Doch zumindest befriedigt es die Wähler, denn die wollen einen Sündenbock für das 9/11-Verbrechen, und da ist einer, der über mehrere Ecken mit Bin Laden zu tun hatte, gut genug.

Dieser Jemand ist Muhamedou Ould Slahi, eben ein Mauretanier, der früher mal auf Seiten der Amerikaner und der Al Kaida gegen die kommunistischen Invasoren in Afghanistan gekämpft hat. Der wird eines Nachts, kurz nach dem 11. September, ganz einfach einkassiert, zuerst in den Nahen Osten verschleppt, dann in Guantanamo inhaftiert – und folglich immer wieder verhört. Zuerst noch auf humane Weise, später dann auf die harte Tour. Klar sieht man das in diesem Film, manche Szenen wirken so, als wären sie aus der Horrorreihe The Purge oder aus einem anderen perfiden Psycho-Murks. Tatsächlich waren das Methoden des US-Militärs. Von dieser Schande erfuhr die Öffentlichkeit erst einige Zeit später, und das dank einer liberalen, sozial engagierten Anwältin, die sich Slahi annimmt, einfach, um einen fairen Prozess auf Schiene zu bekommen – und den Verdächtigen mangels Beweisen freizubekommen. Das gebärdet sich natürlich schwieriger als gedacht.

Das Beeindruckende an diesem Politdrama von Kevin McDonald, der in Sachen Menschenrecht und Politik schon mit Der letzte König von Schottland verstört hat, sind die im Abspann zu sehenden, echten Aufnahmen des ehemals Gefangenen. Slahi wirkt wie eine unerschütterliche, lebensbejahende und enorm sympathische Person. Wie einer, der es geschafft hat, dank seines Glaubens an Gott diese 14 gestohlenen Jahre zu überstehen. Tahar Rahim versucht, diesem Gemüt ebenfalls zu entsprechen – und bekommt das szenenweise wirklich gut hin. Dieses Verschmitzte, Zuversichtliche, diese direkte Art, aber auch dieses Unbeugsame: eine stilsichere Performance. Dagegen bleibt Jodie Foster angespannt und blass, der Golden Globe für diese Rolle wurde womöglich aus reiner Sympathie vergeben. Der Fokus liegt also eindeutig auf Rahim, der übrige illustre Cast bleibt nicht mehr als solide, was man von der eigentlichen Inszenierung allerdings auch sagen kann. Schwierig, so einem brisanten Thema gleichzeitig den Schrecken zu lassen und andererseits aber ein chronologisch akkurates Geschichtskino zu bieten. Sehr wohl gelingt das, und auch schafft MacDonald den Schulterschluss mit vergeltungsaffinen, skeptischen und humanitär veranlagten Parteien. Dadurch bekommt Der Mauretanier eine überlegte Nüchternheit – doch was nebenbei den stärksten Effekt erzielt, ist die erfolgreiche Nutzbarkeit eines festen, inneren Glaubens, in diesem Fall dem des Islam, der in seiner reinen, von kulturellen Geboten entkoppelten Beschaffenheit genauso wie das Christentum Geist und Seele schützen kann.

Der Mauretanier

Im Labyrinth des Schweigens

DAS BÖSE ZUR RECHENSCHAFT ZIEHEN

6/10


labyrinthdesschweigens© 2014 Universal Pictures


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND 2014

REGIE: GIULIO RICCIARELLI

CAST: ALEXANDER FEHLING, GERT VOSS, JOHANNES KRISCH, ANDRÉ SZYMANSKI, JOHANN VON BÜLOW, ROBERT HUNGER-BÜHLER, LUKAS MIKO, FRIEDERIKE BECHT U. A. 

LÄNGE: 2 STD 3 MIN


Was habe ich nicht die schauspielerischen Spitzen dieses großartigen Künstlers auf den Brettern des Wiener Burgtheaters genossen! Egal, ob Thomas Bernhard oder Samuel Beckett – mit seiner sonoren Stimme und seinem Charisma war Gert Voss immer ein Erlebnis. 1995 gar von der Times als bester Schauspieler Europas genannt, verstarb dieser mit nur 72 Jahren – sein letzter Auftritt lässt sich im Holocaust-Aufarbeitungsdrama Im Labyrinth des Schweigens bewundern, in welchem er den legendären Eichmann-Jäger Fritz Bauer verkörpert. Voss hat seine Version des Staatsmannes ganz anders angelegt als dies ein Jahr später Burghart Klaußner in Der Staat gegen Fritz Bauer getan hat. Die zerzauste weiße Haarpracht, kettenrauchend und im Verhalten recht sperrig – zumindest optisch weiß Klaußner die historische Persönlichkeit schillernder und naturgetreuer zu verkörpern. Voss ist da womöglich bereits von seiner Krankheit gezeichnet, bleibt lieber er selbst als jemand anderer, erreicht aber immer noch Größe. Allein dafür wäre dieser Film schon sehenswert. Und natürlich kann ein Film nicht nicht ansehenswert sein mit einer Thematik wie dieser, geht’s doch um so etwas menschenrechtlich relevantes wie die in Frankfurt stattgefunden Auschwitz-Prozesse. Der Film beleuchtet, wie es dazu eigentlich gekommen war.

Im Mittelpunkt dieses in seinen Fakten tatsächlichen Geschehens steht allerdings eine fiktive Figur, die im Grunde die drei wirklichen Anwälte zusammenfassend darstellt: Alexander Fehling gibt den jungen Anwalt Johann Radmann, der sich erstmal nur mit juristischem Pipifax auseinandersetzen muss – Bezirksgericht auf langweilig. Bis ihm allerdings die Aussage eines Holocaust-Überlebenden namens Kirsch in die Hände fällt (gewohnt intensiv: Johannes Krisch), der dann folglich vieles ins Rollen bringt, in erster Linie aber ganz viel Papierkram und Organisatorisches. Ziel ist es schließlich, so viele Zeitzeugen wie möglich zur Aussage zu bewegen, um damit so gut wie alle Nazis, die in Auschwitz stationiert waren, des Mordes oder zumindest der Beihilfe dessen zu verurteilen. Fritz Bauer ist da als Generalstaatsanwalt ganz vorne mit dabei (in eingangs erwähntem Film von Lars Kraume sieht man ganz genau, auf welchen Widerstand aus den eigenen Reihen er damals gestoßen war). Im Laufe seiner Arbeit allerdings verbeißt sich Radmann auf eine ganz bestimmte Person – nämlich jene des nach Brasilien geflüchteten KZ-Arztes Josef Mengele, dem Inbegriff unmenschlicher Scheußlichkeiten.

Im Labyrinth des Schweigens ist konventionelles, polithistorisches Erzählkino, notwendigerweise chronologisch aufgebaut und vermengt mit den Versatzstücken eines pseudobiographischen Begleitdramas rund um Fehlings Filmfigur. Geschichtsdramen wie diese brauchen einen gefälligen, dramaturgischen Unterbau, schon allein deshalb, um eine Identifikationsfigur auf Augenhöhe zu schaffen. Hier, im Frankfurt der späten 50er Jahre, kauert der Faschismus hinter den Masken jener, die es sich gerichtet haben. In einer Szene verfällt Anwalt Radmann geradezu in verzweifelte Panik, weil er plötzlich in allen und jeden einen heimlichen Nazi zu erkennen glaubt. Dieser braune Dunst wabert über dem Retro-Interieur privater Wohnungen und Büros – ein schwelender Zustand, den Regisseur Giulio Ricciarelli relativ gut einzufangen weiß.

Ganz besonders begrüßenswert ist aber vielmehr die Art und Weise, wie der Film mit den schrecklichen Details umgeht, die weder breitgetreten noch als sentimentales Betroffenheitskino demonstrativ eingesetzt werden. Über die erzählenden Gesichter unterschiedlichster Art legt er den Mantel des Schweigens, nur ab und zu werden so manch erschütternde Erinnerungen artikuliert, und der ganze schreckliche Rest lässt sich in den eigenen Gedanken sowieso nacherleben – wenn man es zulassen kann und will. Durch diese pietätvolle Balance findet Im Labyrinth des Schweigens nie sein Ziel aus den Augen. Was bleibt, ist wichtiges Kino, allerdings nach bewährtem Muster, das durch seine prosaische Norm zwar interessant ist, aber nie wirklich emotional vereinnahmt. Dass dann tatsächlich so jemand wie Mengele bis in die 70er Jahre hinein unbehelligt weiterleben konnte, macht einem zumindest klar, wie sehr man in Sachen Gerechtigkeit damals wie heute gegen Windmühlen kämpft.

Im Labyrinth des Schweigens

Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra

VOM VERRATEN DER VERRÄTER

7/10


iltraditore© 2020 Pandora Filmverleih


LAND: ITALIEN, FRANKREICH, DEUTSCHLAND, BRASILIEN 2019

REGIE: MARCO BELLOCCHIO

CAST: PIERFRANCESCO FAVINO, MARIA FERNANDA CÃNDIDO, FABRIZIO FERRACANE, LUIGI LO CASCIO, FAUSTO RUSSO ALESI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 33 MIN


Anfangs scheint es noch so, als wäre die italienische True Story rund um Mafioso Tommaso Buscetta so eine ähnlich tragende, romantisierte Gewaltoper wie Francis Ford Coppolas natürlich meisterliche Trilogie rund um die Familie Corleone. Wir finden uns plötzlich an der sizilianischen Küste wieder, am Tage der heiligen Rosalia am 4. September 1980. Die Familien der Cosa Nostra kommen zusammen, um sich zu verbrüdern, zu plaudern und zu feiern. Beziehungen werden vertieft und neue gesponnen. Es scheint, als wäre die Mafia sowas wie ein gesitteter Adel, dabei war sie zu den damaligen Zeiten längst von einer gewissen Tollwut befallen, die in blinder Machtgier und Raserei ganze Sippen bis auf den letzten Blutstropfen über die gewetzte Klinge springen ließ. Tommaso Buscetta hat sowas schon geahnt – und sich aus dem Staub gemacht Richtung Südamerika. Dorthin, wo regelmäßig allerlei Verbrecher auswandern, in der Hoffnung, unter falschem Namen nicht mehr gefunden zu werden. Dieser Buscetta war noch dazu aus dem Gefängnis von Turin geflohen – also Gründe gibt es mehrere, um zwangsläufig zu privatisieren. Doch der Arm der Justiz ist lang. Er reicht auch bis nach Rio – und macht den Schurken dingfest. Der aber will vor seiner Vergangenheit nicht mehr davonlaufen. Ein Ehrenmann, wie er selbst einer zu sein glaubt, muss für seine Taten gradestehen. Also packt er aus. Als Kronzeuge gegen all die Schurken, die längst nicht mehr dem „noblen“ Codex des mafiösen Geheimbundes Folge leisten.

Bis auf die glamouröse Feier Anfang des zweieinhalbstündigen Films hat die sizilianische Mafia hier nichts mehr vom imperialen Schimmer, den sie in Filmen und Romanen immer wieder gerne aufpoliert bekommt. Die Mafia ist hier ein fast schon zerlumpter Haufen herumballernder Figuren ohne Moral, nicht viel mehr als Meuchelmörder. Irgendwo auf der Spitze dieser von Buscetti erläuterten Pyramide sitzt der Kommandant und hält das Zepter in der Hand. Während der sogenannten Maxi-Prozesse gegen gefühlt alle Mitglieder des Kartells werden viele davon auch verurteilt. Wie und wodurch – das spart Regisseur Marco Bellocchio so ziemlich aus, denn Zeuge Buscetta allein kann es nicht gewesen sein. Verurteilen kann man nur jene, die unter akkuraten Beweisen einknicken. Also muss es noch jede Menge Belastendes gegeben haben. Nur was? Das hätte ich gerne noch gewusst. Aber dann wäre der Film um die doppelte Spielzeit länger geworden. Il Traditore – Als Kornzeuge gegen die Cosa Nostra ist daher in erster Linie kein Film über die Mafiaprozesse, sondern ein biographisches Justizdrama um den Charmebolzen Buscetta, der sich zur Wahrheit durchringt und mit den Sünden seiner Vergangenheit reinen Tisch machen will. Perfrancesco Favino verleiht seiner historischen Figur etwas unnahbar Charismatisches, gleichermaßen aber auch etwas abstoßend Chauvinistisches und Patriarchalisches, wie das Klischee eines Mafioso eben. Zwischen den Rissen dieser errichteten Zitadelle aus Selbstgefälligkeit und Zugeständnis blitzt eine von Furcht und Erschöpfung wie gelähmte Seele, die von Alpträumen geplagt wird.

Il Traditore ist trotz seiner Überlänge ein in seinen Szenen klug selektiertes, straffes Biopic, bei dem man allerdings leicht die vielen Namen, Familien und Beziehungen durcheinanderbringt, was aber den kathartischen Grundton des Films und die zentralen Figuren nicht vernebelt. Die Mafia selbst wird hier trotz ihres weitreichenden Netzes und ihrer scheinbar unerschütterlichen, zeitlosen Struktur zu einem bröckelnden, obsoleten Konstrukt, das angreifbar wird und sich aushebeln lässt. Das kann man als Entrümpelung eines Mythos verstehen, der sich, verfolgt man die Fakten, längst überholt hat. Oder mittlerweile zu etwas ganz anderem geworden ist.

Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra