Ich seh ich seh (2014)

BRÜDER IM GEISTE

5/10


ichsehichseh© 2014 Ulrich Seidl Filmproduktion


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2014

REGIE / DREHBUCH: VERONIKA FRANZ & SEVERIN FIALA

CAST: SUSANNE WUEST, ELIAS SCHWARZ, LUKAS SCHWARZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Juvenile Zwillinge, die nach einer Gesichts-OP ihrer Mutter nicht mehr wissen, ob es sich dabei noch um dieselbe Person handelt – mit dieser Prämisse lassen sich ganz gut Ängste schüren. Die von Veronika Franz und Severin Fiala ersonnene Idee hat Biss und Potenzial, Alfred Hitchcock wäre erfreut darüber gewesen, hätte ihm jemand ein ähnliches Skript wie dieses auf den Tisch gelegt. Dieses Suspense-Kino hier kommt – oder kam, schließlich sind bereits zehn Jahre ins Land gezogen – aus heimischen Landen. Wie so oft in diesem Genre, sofern selbstproduziert, verortet sich der österreichische Horror im geheimnisvollen Waldviertel, da gibt es genug finstere Botanik, Einschicht und Isolation. Nirgendwo sonst kann es so gespenstisch werden, nirgendwo sonst ist selbst der Sommer immer einer, in dem die Wärme der Sonnenstrahlen nicht nur die Gemüter weckt, sondern auch ein bisschen den Wahnsinn. In dieser menschenleeren, doppeldeutigen Abgeschiedenheit müssen die quietschvergnügten Jungs Elias und Lukas ihre Ferien fristen, während sie auf die Rückkehr ihrer Mutter warten, die – keiner weiß, wie lange sie weg war – frisch von der Schönheits-OP daheim wieder aufschlägt. Dabei drängt sich gleich die erste Frage auf, die Ich seh ich seh nicht unbedingt einen Freifahrtschein in Sachen Plausibilität ausstellt: Kann es sein, dass die beiden – noch nicht mal Teenager – im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein selbst klarkommen mussten? Vernachlässigung der Aufsichtspflicht– ein Fall für das Jugendamt. Aber gut, ich gebe dem Streifen noch eine Chance, denn alles fühlt sich so an, als wäre es sehr wohl so gedacht gewesen, den Psychothriller in einer nüchternen, geradezu sperrigen Realität zu verankern, die zwar ordentlich mit Reduktion klarkommen muss, das Phantastische aber nur als Ausdruck eines Seelenzustandes streifen möchte.

So ist Susanne Wuest mit ihren Gesichtsbandagen nicht sofort als Mama zu erkennen, und die Zwillinge hegen erste Zweifel, ist doch das Verhalten der scheinbar fremden Frau so anders, als es zuvor war, als Mama noch Mama war, und nicht dieser Eindringling, der vorgibt, vertraut zu sein. Der Verdacht einer Home Invasion steht im Raum, während Lukas bei Elias weiter Ängste schürt und Panik verbreitet. Er scheint auch das weniger geliebte Kind zu sein, womit Mama nicht hinterm Berg hält. Diese ungesunde Konstellation aus Misstrauen, Zweifel und häuslicher Gewalt lässt sehr bald den Haussegen ordentlich schief hängen, was zur Folge hat, dass Elias zu drastischen Mitteln greift, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Der Einfluss eines Ulrich Seidl, welcher den Film auch produziert hat, ist unübersehbar. Wenig Score, nüchternes Setting, das Interieur des Hauses ist trotz flauschiger Teppiche kalt und unnahbar, die Bilder der berühmten Mama an der Wand, ist sie doch eine angesehene Fernsehmoderatorin, bewusst unscharf, was als wunderbare Symbolik dafür dient, die Identifikation geliebter Menschen zu verhindern. Sie dienen als Platzhalter für Doppelgänger und Falschspieler, und angesichts dieser erziehungsverpflichteten Übermacht denken die beiden Jungs aber gar nicht daran, sich zu unterwerfen. Und dann passiert das: In einem Thriller, in dem andauernd falsche Fährten gelegt werden und Vermutungen geschürt, bevor sie wieder verpuffen, macht Ich seh ich seh seine Exskalationsspirale von gewissen Umständen abhängig, die so, wie sie dargestellt werden, wohl kaum passieren hätten können. Die Unwahrscheinlichkeiten in der Handlung häufen sich, je näher wir dem wuchtigen Grande Finale kommen.

Ein weiteres Problem sind die kaum stringent gezeichneten Charaktere. Zwischen übergriffig und devot mäandert die Rolle der Mutter durch den Film, ähnlich orientierungslos sind die beiden Jungdarsteller, die sich aufgrund einer dem Storytwist geschuldeten, sperrigen Inszenierung dem filmischen Konzept unterordnen müssen. Als Psychostudie versagt der Film auf ganzer Linie, als Horrorthriller mag er mit allerlei Genrezitaten aus dem Suspense-Sektor wiederum punkten. Doch das Grundproblem, das viele Horrorfilme aufweisen, und womit auch der Anspruch steht und fällt, als solcher ernstgenommen zu werden, ist die mangelnde Glaubwürdigkeit in Bezug dessen, wie sich Menschen normalerweise in Extremsituationen oder generell in Situationen, die den Horror begünstigen, tatsächlich verhalten würden. Die Mängel sind der Tribut, den Filmemacher dafür zollen müssen, um ihre filmische Wirkung zu garantieren. Der eine Anspruch bedingt aber den anderen, daher ist es gar nicht mal so leicht, guten Horror hinzubekommen, ähnlich wie bei einer guten Komödie. Nachvollziehbarkeit und eine gewisse inhärente Logik lassen, wenn man es gut macht, das Blut in den Andern gefrieren.

Bei Ich seh ich seh sind letztlich die Kompromisse zu zahlreich, um zu überzeugen, wenngleich Dramatik und Idee dahinter eine beachtenswerte Leistung darstellen, die Veronika Franz und Severin Fiala als ein vielversprechendes Regieduo auszeichnen, das frischen Wind ins österreichische Genrekino gebracht hat. Man darf gespannt sein auf ihren Neuling Des Teufels Bad, der diesjährig bei der Berlinale 2024 den Silbernen Bären für Kameramann Martin Gschlacht abholen konnte.

Ich seh ich seh (2014)

Wald (2023)

IN DER EINSCHICHT LIEGT DIE KRAFT

7,5/10


wald© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE: ELISABETH SCHARANG

DREHBUCH: ELISABETH SCHARANG, INSPIRIERT VOM GLEICHNAMIGEN ROMAN VON DORIS KNECHT

CAST: BRIGITTE HOBMEIER, GERTI DRASSL, JOHANNES KRISCH, BOGDAN DUMITRACHE, LARISSA FUCHS, DAGMAR SCHWARZ, HEINZ TRIXNER, HEINRICH MAYR, MIEL WANKA U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Das im Norden Österreichs gelegene Waldviertel – ein dicht bewucherter Teil des Bundeslandes Niederösterreich, sagenumwoben und voller kulturhistorischer Hot Spots – sieht stellenweise tatsächlich so aus, als wäre man in Schweden oder Finnland – sanfte Hügel, Birkenpopulationen, natürlich jede Menge Nadelwald. Ein Eldorado für Baummeditationen und um Kraftquellen anzuzapfen (sofern man einen Zugang dazu hat). Kleine Dörfer säumen quadratkilometergroße Flächen des Grüns, und sobald die Tage kürzer werden, zieht Nebel auf. Da möchte man meinen, Geister herumspuken oder neolithische Ahnen aus dem Moor kriechen sehen. Metaphysich, sagenhaft. Im Selbstfindungs- und Psychodrama Wald, frei nach dem Roman von Doris Knecht, ist die magische Idylle etwas, das sich zu erschließen lohnt. Allerdings ist der Weg dorthin einer, der an verbohrten Dörflern und Menschen aus der Kindheit vorbeiführt. Er führt an Ablehnung, enervierendem Hass und scheinbar irreversibler Kränkung vorbei. Dort stehenzubleiben, wo es für den Moment kein Weiterkommen gibt, ist eine Eigenschaft, die Marian erst nach und nach lernen muss. Oder wiedererlangen. Denn sie kennt das verschrobene Volk hier, sie kennt die Leute, die sich entweder selbst nichts gönnen oder alles haben wollen, weil sie – wie in Wilhelm Penys und Peter Turrinis Alpensaga – unaufgefordert alle Regeln diktieren. Diesen Regeln muss Folge geleistet werden, so meint es immerhin Franz, einer der Gesichter, die Marian gut kennt, zumindest sieht sie Ähnlichkeiten in einem Konterfei, dass damals zwanzig Jahre jünger war.

Marian, eine mit Preisen ausgezeichnete, renommierte Journalistin, die an einem Ort wie diesen, dem Waldviertel, im Grunde nichts verloren zu haben scheint, hofft, zumindest das wiederzufinden, was sie wieder auf Spur bringt. Es ist das geerbte Haus ihrer Großeltern am Rande des Waldes und zehn Kilometer vom Dorf entfernt; ein alter, baufälliger Hof mit muffigem Inneren als Zeitkapsel eines verklärten Damals der Kindheit. Alles ist noch so, wie es früher war, nur das Dach ist undicht und Strom gibt’s längst keinen mehr. Genau dort, allen Bequemlichkeiten entsagend, sucht Marian die Geborgenheit von Leuten, die es nicht mehr gibt – bis auf eine. Jugendfreundin Gerti, die in sowohl unmittelbarer als auch ferner Nachbarschaft die Rückkehr eines verräterischen Lebensmenschen mit Wut im Bauch beäugt, ist Marian doch damals, nach dem Tod der Mutter, einfach verschwunden. Die Kunst ist es nun, die Mauer der Ablehnung zu durchbrechen, die von beiden Seiten langsam, zögerlich, aber doch, praktiziert werden wird, einen ganzen Herbst, einen ganzen Winter lang. Der Wald, dunkel und düster, aber nichts Böses wollend, sondern therapierend, sieht dabei zu. Die kultivierten Landschaften, das konservierte Gestern, und zwischendrin das Trauma eines Terroranschlags, ergeben das erfrischend ungefällige Gemälde eines fulminanten Heimatfilms.

Das in spätsommerlichen Farben gemalte Vergangene trifft auf eine kaltschnäuzige, pragmatische Gegenwart, das Landleben wurde bislang selten so grob aus dem Stein gehauen wie hier. Die Idylle eines Dorfes fehlt ganz, Elisabeth Scharang reduziert den Mikrokosmos auf das von Alkoholdunst getränkte Innere einer Gaststube, was nahezu beklemmend wirkt. Das inhärente Gedächtnis einer solchen wird auch in Lars Jessens Mittagsstunde befragt, ein ähnlicher, stiller, auf Metaebenen wandelnder Blick auf ein kryptisches Damals.

Befreit hingegen bleibt die Weite der Felder und die Möglichkeit, sich trotz des möglichen Abstands näher zu kommen. Die Idee hinter diesem Homecoming-Drama setzt Scharang in meisterlicher Effizienz in die Praxis um. Sie bündelt, was das österreichische Gemüt bewegt und wie es tickt, sie greift auf eine Weise den vor knapp drei Jahren in Wien wie aus dem Nichts hereingebrochenen Amoklauf eines Terroristen auf, sie holt sich Brigitte Hobmeier als unprätentiöses, authentisches Sprachrohr für eine ganz persönliche, aber niemals einsame Katharsis, die sie mit einer gewohnt greifbar agierenden Gerti Drassl teilt. Johannes Krisch ergänzt schließlich in gewohnter Qualität das Trio einer unfreiwilligen Selbsthilfegruppe der Angeknacksten, die letztlich vieles gemeinsam haben und sich in einem unverhofften Revival einander stärken. So bleibt Wald längst kein schwermütiges Bewältigungsdrama mehr, sondern die wunderschöne, wenn auch unbequeme Geschichte einer Freundschaft. Und über die Verantwortung Menschen gegenüber, die das eigene Leben irgendwann, und sei es auch nur für kurze Zeit, bereichert haben.

Wald (2023)