Märzengrund

IN DIE BERG‘ BIN I GERN

7/10


maerzengrund© 2022 Metafilm 


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2022

REGIE: ADRIAN GOIGINGER

BUCH: ADRIAN GOIGINGER & FELIX MITTERER, NACH SEINEM THEATERSTÜCK

CAST: JAKOB MADER, JOHANNES KRISCH, GERTI DRASSL, HARALD WINDISCH, VERENA ALTENBERGER, IRIS UNTERBERGER, CARMEN GRATL, PETER MITTERRUTZNER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Felix Mitterer ist als Bühnen- und Drehbuchautor längst nicht mehr wegzudenken. Dabei war ihm nie genug, nur in der österreichische Seele zu wühlen oder die Blut- und Boden-Heimat eines Karl Schönherr zu zelebrieren. Mitterer geht es in seinen Stücken um elementarere Themen. Um Freiheit, Alter, Tod und Identität. Als Drehbuchautor wird er komödiantisch – Die Piefke-Saga war Anfang der Neunziger eine durchaus aufreibende TV-Sensation, die unsere deutschen Nachbarn wohl etwas vergrämt hat, wobei Mitterer eigentlich auf beiden Seiten seine Ohrfeigen hat fliegen lassen. Mit dem vierten Teil des Fernseherfolges war es dann nicht mehr weit bis zum surrealen Albtraum eines längst ausverkauften und zugrunde gerichteten Urlaubslandes Tirol. Sein düsterstes Werk: Sibirien – der Monolog eines dahinsiechenden, alten Mannes in einem entmenschlichten Altersheim, als Fernsehspiel verfilmt mit Fritz Muliar.

Die Zeit, die an Geist und Körper nagt, ist in Mitterers Aussteigerdrama Märzengrund ebenfalls kein unwesentlicher Motor. Auf der Bühne gut vorstellbar – aber als Film? Die Zahl an Leinwandadaptionen halten sich bei des Künstlers Werken auf einstelligem Niveau – lieber ist das Fernsehen für die mediale Umsetzung seiner Dramen verantwortlich, weniger das Kino. Adrian Goiginger, der mit seinem Erstling Die beste aller Welten eine außergewöhnliche Empathie für sein Ensemble an den Drehtag legte und Skript sowie dessen Umsetzung perfekt in Einklang brachte, scheint mit Märzengrund das als ausgetreten und altmodisch betrachtete Genre des klassischen Heimatfilms wieder aufleben zu lassen. Schicksalskitsch 2.0? Der Förster vom Silberwald oder Geierwally waren gestern, Adrian Hoven oder Rudolf Lenz Lederhosenhelden mit Hirschknöpfen am Revers, die Wilderern das Handwerk legten oder todesmutig das Edelweiß pflückten. Doch was wären Filme wie diese, würden sie in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts plötzlich wieder glückselig auf ihre erfolgreiche Subvention blicken? Prinzipiell nicht viel anders. Vielleicht aber desperater. Peter Brunners Luzifer oder Ronny Trockers Die Einsiedler mit Ingrid Burckhardt. Heimatfilme werden hierzulande zu einer Art Spätwestern. Zum Abgesang von  verstaubten Idealen oder einer nostalgischen Verklärtheit. Das bittere Ende scheint vor allem bei Mitterer stets garantiert, der Kompromiss eine Sache für Luschen.

Genauso wenig zu Zugeständnissen bereit scheint Elias, ein Jungbauer und zukünftiger Erbe eines stattlichen Hofes im Zillertal mit sehr viel Hektar und noch größerem Viehbestand. Wir schreiben Ende der Sechzigerjahre, der Sohn hat gefälligst das, was der Vater bereits aufgebaut hat, weiterzuführen. Und muss auch bis dahin ordentlich Hand anlegen, nebst vorbildlicher Schulleistung. Als Elias kurz davorsteht, den Hof zu übernehmen, lernt er die deutlich ältere, geschiedene Moid (Verena Altengerger) kennen, die sich genauso wie er fremd in der Welt fühlt und für den jungen Mann durchaus auch Zuneigung empfindet – was der herrischen Bäuerin Mutter (großartig: Gerti Drassl) überhaupt nicht in den Kram passt. Das Verbot dieser unorthodoxen Beziehung stürzt Elias in Depressionen, die er erst wieder überwinden kann, als er einen Sommer lang auf der farmeigenen Alm die Kühe hütet. Von diesem Moment an sieht sich Elias für ein Leben fernab jeglichen gesellschaftlichen Treibens bestimmt, fernab aller Menschen und nur im Einklang mit der Natur. Man kann sich denken, wie die Eltern das finden werden. Doch all die Enttäuschung, Verbitterung und der Gram des verratenen Vaters reichen maximal bis zur Baumgrenze – darüber hinaus macht Elias einen auf Robinson Crusoe, ohne Freitag und ganze vierzig Jahre lang. Bis der Körper nicht mehr so kann, wie er will.

Märzengrund ist längst nicht so dicht und packend erzählt wie Die beste aller Welten. Kein Wunder: Mitterer hat in seinen Stücken längst nicht so eine Wortgewalt wie zum Beispiel ein Thomas Bernhard. Aber gerade die Lakonie seiner Arbeiten entwickelt auf der Bühne eine Sogwirkung. Im Kino kompensiert Goiginger die Tragödie eines Aussteigers mit der wuchtigen Berglandschaft Tirols, die vor lauter greifbarem Naturalismus fast schon die Leinwand sprengt. Dabei orientiert sich Kameramann Clemens Hufnagl an die Bilderstürme eines Terrence Malick. Weitwinkel, unmittelbare Closeups, weg von der Statik eines Stativs. In Ein verborgenes Leben, Malicks Rekonstruktion des Falles Jägerstätter, rückt dieser nah an das Dorfleben des vergangenen Jahrhunderts heran, wirkt gemäldegleich und mit Licht, Bewegung und wanderndem Blickwinkel enorm vital.

Märzengrund bietet ein ähnliches Erlebnis, noch dazu mit Schauspielern, die wohl dank eines von Goiginger geschaffenen vertrauten Umfelds tief in ihre Rollen tauchen. Natürlich ist Johannes Krisch – ein Chamäleon des österreichischen Films ­­– ganz vorne mit dabei. Bruno Ganz hätte diese Rolle wohl nicht besser gelebt, mit all der Verbissenheit, der Verzweiflung und dem gefundenen Frieden in der Einsamkeit. Das alles im Tiroler Dialekt, der das Szenario noch stimmiger werden lässt. 

Das Heimatdrama ist also zurück. In einer Form, wie unsere Eltern es bereits gewohnt waren und das für nostalgischem Realismus, wuchtigem Gipfeldrama und nun auch dank Mitterer’scher Gesellschaftskritik für das fatale Dilemma existenzieller Neu- und Unordnung steht.

Märzengrund

Rotzbub

MIT PINSEL UND BUSEN GEGEN RECHTS

5,5/10


rotzbub© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: MARCUS H. ROSENMÜLLER, SANTIAGO LÓPEZ JOVER

SCRIPT: MARTIN AMBROSCH

MIT DEN STIMMEN VON: MARKUS FREISTÄTTER, MARIO CANEDO, GERTI DRASSL, MAURICE ERNST, ROLAND DÜRINGER, ERWIN STEINHAUER, SUSI STACH, GREGOR SEBERG, KATHARINA STRASSER, ADELE NEUHAUSER, WOLFGANG BÖCK, THOMAS STIPSITS, BRANKO SAMAROVSKI U. A.

LÄNGE: 2 STD 28 MIN


„Was war er doch für ein wilder Hund“, konnte man damals in den Neunzigern so manche Lehrkraft auf der Graphischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt erzählen hören, die Manfred Deix als Schüler hatte. Ein Nonkonformist und durchaus gerne vulgär – Dinge, die sich einer wie Deix eben leisten hat können. Denn nicht nur wer Geld hat, schafft an. Auch, wer das Talent besitzt, mir nichts dir nichts den Bleistift zückt und das Wesen der Karikatur auf den Punkt bringt, indem bekannte und weniger bekannte Gesichter bekannter und weniger bekannter Zeitgenossen in ihrem Wesen authentisch bleiben, darüber hinaus aber eine groteske Verzerrung erfahren, die ins Tabulose kippt. Die Karikaturen von Manfred Deix sind wunderbar hässlich, böse und gemein. Gerne auch schweinisch und ungustiös. Unterm Strich aber sind die mit Aquarell angefertigten Arbeiten schlichtweg als genial zu bezeichnen, weil sie die dunklen Ecken der österreichischen Seele, des Volkes Bigotterie und seine Selbstgerechtigkeit in einer laut hinausposaunten Verhöhnung punktgenau vorführen. Dazwischen gabs’s auch weniger Zynisches. Zum Beispiel, wenn der Künstler Katzen oder Hunderassen portraitierte, den mit den Nasenlöchern rauchenden Zigaretten-Mummin für Casablanca entwarf oder vollbusige Damen im Dirndl und mit Doppelkinn zähnefletschend feixen ließ. Schön sind diese Visagen alle nicht, aber stilsicher und unverkennbar Deix.

Nach zehnjähriger Produktionszeit gibt`s nun endlich den Film zu all den bildhaften Eskapaden. Rotzbub heißt er, und könnte unter Umständen neben der Farbe Braun auch autobiographisch gefärbt sein. Denn einen Bleistift, den hält der verträumte Hauptschüler bereits am Kinoplakat herausfordernd in Händen. Noch dazu erwacht im Sommer der Sechzigerjahre irgendwo in Niederösterreich das Interesse an der Weiblichkeit. In Siegheilkirchen – Nomen est Omen – ist für derlei Entwicklungen aber kein Platz. Dominiert wird das Dorfleben von vorgestrigen Restnazis, die inklusive Hitlergruß offen ihre Gesinnung zur Schau tragen, frauenfeindlichen Möchtegern-Patriarchen und Opportunisten, die sich dem Machtgefälle speichelleckend anpassen. Über allem kreist natürlich die katholische Kirche – eine Institution, die Manfred Deix stets am Kieker hatte. Denn es gibt kaum etwas, worüber man mit mehr Genugtuung herziehen kann. Die Dorfjugend sieht die Dinge zunehmend anders, der Traum von gigantischen Oberweiten wird ausgelebt und in der einzigen Bar des Ortes werden ganz neue Rhythmen angeschlagen – allerdings keine einzige Nummer der von Deix so hochverehrten Beach Boys. Zu guter letzt bringt Roma-Mädchen Mariolina den jugendlichen Ungehorsam gegen die Herr Karls dieser kleinen Welt erst so richtig auf Spur.

Wer Bösterreich sehen will, in all seinen verstörenden Abgründen, sollte sich lieber Ulrich Seidl oder Michael Haneke zu Gemüte führen. Rotzbub ist weit davon entfernt, sich auch nur ernsthaft aus dem Fenster einer launigen Provinzkomödie zu lehnen, was aber angesichts der Werkschau des gebürtigen St. Pöltners vielleicht zu vermuten gewesen wäre. Übrig bleiben vor allem kleine, garstige Ferkeleien wie die braunen Bremsspuren des Bürgermeisters, Flatulenzen oder aufplatzende Eiterwimmerl. Trudes dralle Brüste sieht man auch nur auf dem Blatt Papier, dafür aber gibt’s ein „Zumpferl“ statt des Mannes Nase. Elemente, die sich im Kosmos von Deix immer wieder finden lassen. Als besonders liebevoll gestaltet sich das mit des Künstlers Werken gepflasterte Innen- sowie Außensetting der Szenen – wer genau aufpasst, erkennt so einige Klassiker wieder. Ob das reicht, nebst der stets latenten NS-Nostalgie und einer Anspielung auf das Attentat von Oberwart, die österreichische Volksseele seziert zu sehen? Mitnichten. Das liegt auch daran, dass der Rotzbub als Zentrum des Geschehens eine zwar neugierige und unerfahrene, aber moralisch integre Figur darstellt, die einen konstanten, alles durchdringenden Optimismus erkennen lässt, der wiederum nichts Österreichisches an sich hat. Durch diese Sichtweise gerät der Animationsfilm in eine harm- und zahnlose, recht generisch erzählte Seitenlage. Für Deix selig,  der das Projekt am Anfang noch begleitet hat, mag das viel zu geschmackvoll sein. 

Der professionell animierte, manchmal aber vielleicht in den Beinpartien recht ungelenk in Bewegung gesetzte Film ist als liebevolle Verbeugung vor einem großen österreichischen Künstler zu sehen, der weit mehr war als nur bizarres Gewissen auf Papier. Als gallige Satire, wie sie ein Helmut Qualtinger oder Carl Merz angesichts des spießbürgerlichen Perchtenlaufs wohl geschrieben hätte, hat Rotzbub jedoch keine Chance.

Rotzbub

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

DIE WAHREN ABENTEUER SIND IM KOPF

7,5/10

 

wieichlernte© 2019 Filmladen

 

LAND: ÖSTERREICH 2019

REGIE: RUPERT HENNING

DREHBUCH: ULI BRÉE, RUPERT HENNING

CAST: VALENTIN HAGG, KARL MARKOVICS, SABINE TIMOTEO, ANDRÉ WILMS, GERTI DRASSL, UDO SAMEL, WERNER FRIEDL, MARIANNE NENTWICH U. A.

 

Das Salto-Rückwärtskind mit Paketperücke – Die Wirklichkeit die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid. Und überhaupt sind die wahren Abenteuer nur im Kopf – Zeilen aus den Liedern und Texten von André Heller, seines Zeichens schillernder Poet, Phantast und kindlicher Kaiser, der es neben diversen Zaubergärten und Folklore-Projekten sowohl hier als auch jenseits des Mittelmeeres zu stilbildendem Ansehen gebracht hat. Natürlich verhält es sich mit André Heller aber auch so: man mag ihn und seine dekorative Metaphysik, oder man mag ihn eben nicht. Nun, ich muss ganz ehrlich sagen – ich mag ihn. Heller ist ein auffallend kreativer Kopf, er vereint zahlreiche Formen der Kunst auf eine gauklerhaft sichtbare, selbstverliebte Weise, die sich einer unverhohlenen, fast schon jovialen Arroganz nähert. Noch dazu, und das muss ich Heller hoch anrechnen, hat er das klassische Kasperltheater in der Wiener Urania vor dem letzten Vorhang bewahrt. Wer, wenn nicht er, hätte sich der streitbaren Zipfelmütze noch annehmen können? Zu so jemandem wie André Heller muss man aber auch erst mal werden. Womöglich auf eine Art, die in seiner autobiographisch gefärbten Erzählung Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein beschrieben wird. Wieviel davon er selbst erlebt hat, und wieviel davon einfach die Geschichte einer Familie ist, aus der Sicht des Jüngsten, das kann nur Heller selbst beurteilen. Ich darf also interpretieren, und zumindest glauben, was wohl alles dem zwölfjährigen André, der in genannter Erzählung als Alter Ego Paul Silberstein auftritt, wirklich wiederfahren ist. Jedenfalls stimmt es schon, dass Heller einer Süßwarendynastie entstammt. Doch wenn ich jetzt anfange, dessen Biographie zu recherchieren, würde dies am eigentlichen Thema vorbeilaufen, nämlich, Rupert Hennings filmgewordenes Jahrmarktspektakel näher zu bewundern. Denn um André Heller, um den geht es dann doch nur zweitrangig.

Eigentlich, und überhaupt, geht es um die Kraft des eigenen Willens, des noch so seltsamen Ichs und der unwirtlichen Verrücktheit des Lebens. Aus keiner Perspektive lässt sich das besser betrachten als aus der eines Kindes. Mit Ausnahmen, natürlich. In Die fabelhafte Welt der Amelie ist es eine junge Frau, die den Alltag zu etwas Poetischem verklärt. Mitsamt Häschenwolken, sprechenden Nachtischlampen und kauziger Schüchternheit. Aber kindliche Gemüter stecken in allen von uns, manchmal mehr, manchmal weniger. Also ist das Alter der Filmheldin oder des Filmhelden in diesen Belangen gar nicht mal so ausschlaggebend. Bei sich selbst Kind zu sein, das ist etwas, das die Essenz unserer Persönlichkeit zu fassen bekommt, das ist ein loderndes Bündel an Energie, die uns ausmacht und uns das machen lässt, was wir lieben. Das kann uns auch keiner nehmen, das ist eigentlich unkaputtbar und geschützt vor allerlei Widrigkeiten von außen. Dieses „Bei sich selbst Kind zu sein“ ist das, was sich entwickelt und für immer manifestiert, wenn wir noch unter Kuratel der Erwachsenen stehen, uns krümmen oder emporgehoben werden. Dieser Paul Silberstein, der muss sich anfangs krümmen, hat allerlei Ängste und Sorgen und hasst den Internatsalltag in der Klosterschule. Am Schlimmsten jedoch ist neben der verachtenden Diktatur der katholischen Geistlichkeit – für die sich der Film viel Zeit und Wut nimmt – der über allem wie ein Damoklesschwert schwebende Patriarch, der Horror einer Vaterfigur. Die Mutter, die verliert sich in resignativen Tagträumen, der ältere Bruder in der tröstenden Zweidimensionalität seiner Briefmarken.

Rupert Henning, Autor der Brüder-Trilogie und oftmaliger Bühnenpartner von Erwin Steinhauer, hat ein für österreichische Begriffe völlig unübliches und merkwürdiges Stück Leinwandkino entworfen, das dem Wortschatz eines Andre Heller gerecht wird und den funkelnden Hundling einer Coming of Age-Erzählung zwischen den grotesken Märchen eines Jean-Paul Jeunet und den schwelgerischen Eskapaden eines Emir Kusturica oder György Pálfi tänzeln lässt. Die Hermesvilla im Lainzer Tiergarten, die bietet für das Schicksal der Familie Silberstein eine wahrlich barocke Kulisse, so verziert und entrückt wie ein Grimm´sches Hexenhaus, darin die dunkel getäfelten Flure und die hallenartige Leere einer ignoranten Kälte, die vor allem von Vater Karl Markovics ausgeht. Der Schauspieler mutiert in ein bizarres Zerrbild eines vom Krieg traumatisierten Tyrannen, während Sabine Timoteo einen geheimnisvoll stillen Wahnsinn an den Tag legt. Erstaunlich wieder mal: der junge Valentin Hagg als zentrale Figur dieses teils schauerlichen, teils entzückenden Theaters einer Kindheit. Der Zwölfjährige outet sich hier als unbeugsamer, gewinnender Revoluzzer, der die Sympathien auf seiner Seite hat. Dessen Gedanken wir hören und den wir als Einzigen in seinem Handeln verstehen können. Der sich aber nicht in eine irreale Welt zurückzieht wie das Mädchen Ofelia aus Pans Labyrinth, sondern diese Welt herüberholt in die uns allen vertraute und einzige Realität.

Lange dauert dieser Film, aber diese Zeit muss er sich nehmen. Denn zu lernen, bei sich selbst Kind zu sein, geht nicht von heute auf morgen. Das passiert, wenn irgendwann mal alle Stricke reißen, wenn die Not Mutter neuer Gedanken wird. Und mehr noch: ganzer Gedankenkonstrukte, die mit so wegweisenden Prämissen wie Werde nicht wie all die, die du nicht sein möchtest zum Zirkus des Lebens laden. Auf und davon! ist die Devise des kleinen Paul. Diese Selbstfindung ist mitreißend, mitunter abstoßend und bizarr. Und manche Episoden, die wie Seifenblasen lose umherschwirren und kaum was bezwecken, hätten nicht sein müssen. Aber bei all den Abenteuern im Kopf, die für niemanden lesbar im Buche stehen, ist das versponnene Epos so eigenartig betörend und duftend wie der erste nachtschlafende Frühlingstraum bei offenem Fenster, wenn der Winter einer farblosen Disharmonie unter den wärmenden Lichtern einer Heller´schen Akrobatik dahinschmilzt.

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Der Trafikant

BOCKIG IN DIE DUNKLEN ZEITEN

6,5/10

 

DER TRAFIKANT© 2018 Tobis Film

 

LAND: ÖSTERREICH 2018

REGIE: NIKOLAUS LEYTNER

CAST: SIMON MORZÈ, JOHANNES KRISCH, BRUNO GANZ, EMMA DROGUNOVA, REGINA FRITSCH, KAROLINE EICHHORN, GERTI DRASSL U. A.

 

Tiefe Wolken hängen über einer fast schon verwunschenen Bucht des oberösterreichischen Attersees, irgendwann in einem Sommer kurz vor dem Einmarsch der deutschen Hitler-Truppen in Österreich. Wie es das Schicksal will, muss der pubertäre Franz seine nicht mal ansatzweise fassbare Zukunft komplett umjustieren und wird, nachdem Mamas Liebhaber vom unvernünftigen Baden im See während eines Unwetters vom Blitz getroffen wird, nach Wien geschickt. Was hat er denn noch verloren in dieser Einöde zwischen Hühnern und dem Schlick unter dem hauseigenen Steg außer seiner eigenen Kindheit? Der Bub muss was G´scheites lernen, in die Welt hinausgehen. Dort in Wien gibt es eine alte Jugendliebe, den Trafikanten Trsnjek, bei dem soll er anlernen, der Bub. Dieser Abschied vom geborgenen Heim unter den Tannen wird niemals wirklich enden, und das Winken mit dem Sacktuch unter Tränen wird immer niedergeschlagener und kraftloser, in dieser Verfilmung eines Romans von Robert Seethaler, die genauso bühnentauglich wäre wie ein Drama von Ödön von Horvath. Sich genauso gegen Windmühlen stemmend, genauso aussichtslos, genauso resignierend.

Der österreichische Regisseur Nikolaus Leytner, unter anderem bekannt für den launigen Kleinganovenschwank Schwarzfahrer mit Lukas Resetarits, hat sich, so äußerten sich zumindest mehrere Kritiker-Stimmen, ziemlich genau – und manchmal fast zu unselbständig – an die literarische Vorlage gehalten. Das kann ich selbst nicht beurteilen, ich habe hier nur den Film vor Augen, und eine Geschichte, die sich mit keiner anderen Quelle des Erzählten herumschlagen muss. Die Möglichkeiten, die sich aber daraus ergeben, fügen sich dem narrativen Rhythmus eines so rustikalen wie braven Volksstückes, und vor allem in den Szenen, die in Wien der späten Dreißigerjahre spielen, entfaltet sich ein gewisser kulissenhafter Charme mit Hang zur wohlsortierten Miniatur, wie ihn seinerzeit der gute Franz Antel in seinem Bockerer ans Set gelegt hat. Ein bisschen was vom aufmüpfigen Fleischhauer kann Der Trafikant zumindest anfangs unter der Ladentheke hervorholen. Johannes Krisch, der sowieso alles spielen kann, sogar und besonders auch ambivalente Schatten wie Jack Unterweger, orientiert sich auf eine Weise an Karl Merkatz, die weder platte Kopie noch Hommage darstellt. Krisch kreiert aus dem Gehabe eines subversiv rebellischen Wieners den ganz eigenen Typus eines teilbelesenen, selbstbewussten und gütigen Kriegsveteranen, der viel Unschönes gesehen hat und weit davon entfernt ist, sich selbst zu verraten. Ohne dieser schillernden Gestalt des famos verkörperten Alt-Trafikanten wäre das düstere Vorabendszenario im Angesicht des bevorstehenden Untergangs ein durch die Bank bemühtes Schauspielkino geworden. Hauptdarsteller Simon Morzé tut, was er innerhalb seiner erlernten Fähigkeiten kann, um glaubwürdig Bockigkeit an den Tag zu legen. Er bleibt aber, wie es das Variétémädchen Anezka immer wieder betont, ein naives „Burschi“, das seine Furcht vor einer unbestimmten Zukunft in unbequemen, entsättigten Traumsequenzen auslebt. Ihm zur Seite der große Bruno Ganz, der sich als Professor Freud in gepflegter Langeweile meist auf seinen unverkennbaren Bartwuchs verlässt und zur Do-it-yourself-Psychoanalyse rät.

Das Bühnenhafte der durchaus nicht billig scheinenden Produktion wird noch verstärkt durch das neben Krisch wirklich Erlebenswerte an dem Film: nämlich die Fulminanz der Ausstattung. Die Inventur sämtlicher Requisitenkammern dürfte dem Aufbau des Sets vorangegangen sein. In der nachgestellten Zwischenkriegs-Trafik finden sich bis ins kleinste Detail liebevoll nachgestelltes Interieur, von den „zärtlichen Magazinen“ in der verschlossenen Schublade bis zu den Postkarten am Tresen. Auch Freuds schmucke Einrichtung in der Berggasse entbehrt nicht eines gewissen kulturhistorischen Werts. In diesem Punkt war das Team ganz bei der Sache. Ihren Höhepunkt findet die Liebe zur Rekonstruktion im Hernalser Rummel, eine Szene wie aus Ferenc Molnar´s Liliom. Der Trafikant ist also akribisches Ausstattungskino im Stile eines Volksstückes, das aber die schildbürgerliche Zuversicht eines Karl Bockerer vermissen lässt. An seiner Statt tritt ein vergebliches Aufbegehren gegen die dunkle Zeit, die in Szenen wie die der berittenen Polizei einen beklemmenden Bogen in die Gegenwart spannt.

Der Trafikant

Das Tagebuch der Anne Frank

UMS LEBEN GEBRACHT

7,5/10

 

annefrank„Das Tagebuch der Anne Frank“ auf Blu-ray & DVD erhältlich (Universal Pictures)

 

LAND: DEUTSCHLAND 2016

REGIE: HANS STEINBICHLER

MIT LEA VAN ACKEN, ULRICH NOETHEN, MARTINA GEDECK, STELLA KUNKAT, GERTI DRASSL U. A.

 

Es heißt ja immer: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wenn aber auch noch die Hoffnung stirbt, bleibt gar nichts mehr. Nur Dunkelheit, Vernichtung, Resignation. Die Niederschrift des gerade mal 15 Jahre alt gewordenen Mädchens Anne Frank zählt zu den wohl erschütterndsten Dokumenten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Und das nicht, weil Anne Frank das Grauen in all ihren Details beschrieben hat. Solche Berichte sind in ihrem Tagebuch nicht zu finden. Es ist so erschütternd, weil die kindlich formulierte Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit ungehört bleibt. Das unendlich Traurige ist nicht das, was in dem Tagebuch geschrieben steht. Das unendlich Traurige stützt sich auf dem Wissen, das all das Wünschen, Träumen und Hoffen so kurz vor der Erfüllung letzten Endes umsonst gewesen war. Dass nach den letzten Zeilen in diesem Buch nichts mehr war. Nur Leere und Vernichtung.

Es beweist, dass die wichtigsten sozialen Strukturen einer Kernfamilie gegenüber einer zerstörerischen Macht wie dem Nationalsozialismus unweigerlich zerbrechen müssen. Eine heile Familie – die hat so etwas Unbesiegbares. Da wohnt ein Funken inne, der besagt, dass alles gut werden muss. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. So betroffen wie dieses Bewusstsein der Verletzbarkeit vom Wunsch nach Normalität macht auch der Film von Hans Steinbichler. Seine Neuverfilmung des in die Ewigkeit eingegangenen persönlichen Berichts einer Verfolgten hat seine Besetzung mit Bedacht gewählt. Das Ensemble, allen voran Ulrich Noethen als Otto Frank, lässt das Ausharren und Bangen der versteckten Familie lebendig werden. Lea van Acken lässt ihre Anne Frank der enormen Rollenanforderung zum Trotz das aufgewühlte Emotionsspektrum eines Teenagers empfinden – von Zerbrechlichkeit über Selbstzweifel bis hin zu unerschütterlichem Trotz. Die Schwierigkeit, auch unter so extremen Bedingungen wie der selbst auferlegten Isolation vom Kind zur Erwachsenen zu reifen und ihre eigene unverwechselbare Persönlichkeit herauszubilden, wird zur Gratwanderung zwischen Aufbegehren und dem Suchen nach Nähe. Dazwischen träumt sie. Sieht sich auf sonnenwarmen Wiesen, im Wald, an der Luft.

Kaum eine andere Verfilmung nach Tatsachen endet so vernichtend wie Das Tagebuch der Anne Frank. Und dabei war die Erlösung so zum Greifen nah. Dann der abgrundtief höhnische Zynismus einer unbarmherzigen Realität. Das geht dann gar nicht anders, da läuft es einem kalt über den Rücken. Vor allem dann, wenn man beginnt, sich mit den Rollen zu identifizieren. Und das passiert, sofern man selbst Familie hat. Bei den wortlosen Szenen aus dem KZ am Ende des Films fehlen dann auch noch die Worte, wenn sie nicht schon zuvor ihre Stimme verlieren. Nämlich dann, wenn die Eingesperrten voller Zuversicht an das bevorstehende Ende des Krieges glauben – um kurz darauf entdeckt zu werden.

Das Tagebuch der Anne Frank ist ein handwerklich solider, aber inhaltlich so beeindruckender wie erschütternder Film geworden. Eine immens wichtige Neuverfilmung, die durch das Dokudrama Meine Tochter Anne Frank von Richard Ley ergänzt werden kann, welches das Schicksal der Familie aus der Sicht des Vaters Otto Frank erzählt. Des einzigen Überlebenden.

Das Tagebuch der Anne Frank

Liebe möglicherweise

DIE (UN)MÖGLICHKEIT DER NÄHE

5/10

 

liebemoeglicherweise10© WEGA-Film

 

LAND: Österreich 2016

Regie: Michael Kreihsl

Mit Devid Striesow, Silke Bodenbender, Edita Malovčić, Gerti Drassl, Otto Schenk u. a.

 

Ich kann mich noch ganz genau an meine Volksschulzeit erinnern – da bin ich in der hintersten Reihe neben Edita Malovčić gesessen. Tatsächlich haben wir sogar gemeinsam im Rahmen einer Weihnachtsveranstaltung ein Theaterstück gespielt. Sie und ich, wir waren Indianer. Und ja, es gibt Fotos. Und jetzt – jetzt sehe ich meine ehemalige Klassenkollegin auf großer Leinwand oder auf dem Bildschirm. Auf Du und Du mit namhaften Stars. Schauspielerisch in Topform und wahrlich nicht mit Reizen geizend. Edita Malovčić hat im neuen Film von Michael Kreihsl allerdings nur eine verschwindende Nebenrolle. Eine auffällige zwar, aber eine von vielen kleinen Rollen, die mit Gerti Drassl, Devid Striesow und – haltet euch fest – Otto Schenk besetzt sind. Entstehen hätte dann so etwas wie ein episodenhafter Beziehungsreigen mit dem für Episodenfilme üblichen Handlungs-Crossover entstehen sollen. Der Episodenfilm an sich – und zwar der Beziehungs-Episodenfilm – hat in der österreichischen Filmwelt doch irgendwie eine lange Tradition. Das beginnt ja eigentlich schon bei Arthur Schnitzler´s Reigen, dem frivolen Bühnenstück aus dem frühen 20ten Jahrhundert, der nur zu gut und zu gerne in skandalheischender Inszenierung dem entrüsteten Publikum vor den Latz geknallt wird. Wobei – Reigen war schon länger nicht mehr auf der Bühne zu sehen. Dafür aber im Kino – der Film hieß 360°, wurde teilweise in Wien gedreht und hatte neben internationalen Schauspielern wie Jude Law auch solche wie Alexander Krisch im Repertoire. Viel früher noch hat Petra Morze für das stimmig-düstere Liebeskarussell Antares die Hüllen fallen lassen. 

In Liebe möglicherweise fallen zwar nicht wirklich die Hüllen – zu wahren Erkenntnissen kommt man aber in dem ausschließlich in der Wienerstadt gedrehten Ensemblefilm aber auch nicht. Schon klar – Beziehungen sind nicht immer leicht, sei es nun die Beziehung zum Nachwuchs, zu den eigenen Eltern oder zum Lebenspartner. Ja, vielleicht auch die Beziehung zum platonischen Freund oder Freundin. Oftmals ist Nähe da ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist ein immerwährendes Scheitern, Entfremden und Versöhnen, was uns Regisseur Kreihsl da auftischt. Konstellationen, die uns allen nur allzu bekannt vorkommen – und daher für vorhersehbare Langeweile sorgen. Um wirklich mitzufühlen – dafür werden die einzelnen Protagonisten nur allzu sehr von außen betrachtet. Gefühlswelten bleiben auf augenscheinliche Symptome reduziert. Einzig die Problembehandlung Striesow-Bodenbender hat mehr Gewicht, obwohl sich auch hier neue Erkenntnisse rarmachen. Ich frage mich, wieso sich Liebe möglicherweise nicht nur auf die eine Geschichte konzentriert hat. Alle anderen Nebenschauplätze sind so grob skizziert und daher so entbehrlich, dass keiner sie vermisst hätte. Na gut, Otto Schenk vielleicht schon, den sieht man immer wieder gerne. Aber das legendäre Bühnen-Urgestein wäre drehbuchtechnisch auch anders unterzubringen gewesen. 

Ein Episodenfilm also – möglicherweise. Doch um diese dramaturgische Mechanik zu rechtfertigen, dazu mangelt es einfach an psychologischen Details.

Liebe möglicherweise