Nickel Boys (2024)

ICH, DER AFROAMERIKANER

6/10


© 2024 MGM / Amazon Prime


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: RAMELL ROSS

DREHBUCH: RAMELL ROSS, JOSLYN BARNES, NACH DEM ROMAN VON COLSON WHITEHEAD

CAST: ETHAN HERISSE, BRANDON WILSON, HAMISH LINKLATER, FRED HECHINGER, DAVEED DIGGS, AUNJANUE ELLIS-TAYLOR, ROBERT ABERDEEN, GRALEN BRYANT BANKS U. A.

LÄNGE: 2 STD 20 MIN


Über Regisseur und Autor RaMell Ross muss man wissen: Dieser Mann ruft aus einer Richtung, die dem Mainstream entschieden und mit achtbaren Windspitzen entgegenweht. Nominiert 2019 für den besten Dokumentarfilm-Oscar (Hale County, Tag für Tag) durfte er dieses Jahr nicht nur unter den Nominierten für den Besten Film mitmischen, sondern auch noch unter jenen für das beste adaptiere Drehbuch. Die Academy scheint also offen für Arthouse, das gerne bewährte Sehgewohnheiten sprengt und auch Neues erzählt – nicht immer nur den gleichen, feigen Studio-Schmarrn. Mit Nickel Boys, basierend auf dem Roman von Colson Whitehead, verhindern Diversity-Agenden vehement, dass jemals wieder die Oscars „so white“ werden. Diesmal hatte trotz des „Trumpiarchats“ alles seine politische Correctness – und es ist ja auch nicht so, dass RaMell Ross‘ Film wirklich nur deswegen nominiert wurde, um die Quoten zu erfüllen. Taucht man ein in die Welt der Nickel Boys, wird klar, wie progressiv Kino sein kann. Wie wenig es gefällig sein, wie sehr es immer noch ausprobieren will, auch wenn man sich zugegebenermaßen schwertut, den Stil des Filmes zu absorbieren.

Hier ist etwas Ungewöhnliches im Gange. Eine spezielle Weise, Geschichten zu erzählen, die man vielleicht aus den Werken eines Terrence Malick und ansatzweise von Alejandro Gonzáles Iñárritu kennt. Hier stiftet das Subjektive, Kontemplative, Erratische den Nährboden für einen ohnehin schon langwierigen, gesellschaftspolitischen Problemfilm, der sich dem US-amerikanischen Alltagsrassismus der 60er Jahre annimmt und ihn verknüpft mit der Geschichte einer Freundschaft inmitten einer Welt voller Ressentiments, Repressalien und Freiheitsverlust. Keine leichte Kost, dieses Werk. Erstens schon mal aufgrund seiner visuellen Sichtweise nicht, und zweitens, weil RaMell Ross seine Geschichte niemals auf die leichte Schulter nimmt. Man benötigt also Engagement, um von Nickel Boys unterhalten zu werden. Um ehrlich zu sein: selten lagen Innovation und Konservatismus zu eng beieinander. Der Quotient daraus ist sperriges Kino mit massenhaft Anspruch, verblüffender Optik und einer geweckten Neugierde für ein Experiment, das zu verstehen niemandem leicht fällt.

Der Afroamerikaner wird in Nickel Boys seine Opferrolle niemals los. Das größte Opfer gibt Ethan Herisse als gedemütigter, aber blitzgescheiter Schüler Elwood Curtis, der in der Gunst seines Lehrers steht und die damals ungeahnte Chance wahrnimmt, wirklich etwas zu bewegen. Und dann das: Bei einem Autostopp steigt er nichtsahnend in den gestohlenen Wagen eines Autodiebs. Und wie es das Schicksal so will, beendet das Blaulicht im Rückspiegel nicht nur die Mitfahrt, sondern auch die Chance auf jedwede rosige Zukunft. Elwood gerät in Gefangenschaft und wird an eine dubiose Erziehungsanstalt überstellt, die sogenannte Nickel Academy, die es tatsächlich zwar niemals gab, allerdings an die Dozier School of Boys angelehnt scheint, in welcher ähnliche Zustände geherrscht haben sollen wie im Film. Diese sind schließlich äußerst kriminell, Rassismus und Unterdrückung stehen an der Tagesordnung. Erträglicher wird der auf unbestimmte Dauer angesetzte Aufenthalt durch die Bekanntschaft mit dem Mithäftling Turner (Brandon Wilson). Zwischen beiden entsteht innige Freundschaft – und auch so etwas wie der Geist eines Aufbegehrens gegenüber weißer Gewalt.

Woran man sich niemals so richtig gewöhnen wird, ist die Perspektive des Films. Die Kamera selbst schlüpft in die Rolle des Protagonisten, gewisser Elwood Curtis ist also zumindest anfangs nie zu sehen. Diese First-Person- oder Ich-Methode, die man hauptsächlich aus Computerspielen kennt, sollen den Zuseher tiefer in den toxischen Kosmos eines strafenden, diskriminierenden Amerika eintauchen lassen, als wäre man selbst der Leidgeprüfte. Als gäbe es, so lange der Film läuft, keine Chance, Abstand zu gewinnen. Etwas später wechselt Kameramann Jomo Fray dann doch insofern den Blickwinkel, da er den von Turner einnimmt. Diese Methode entfacht einen suggestiven, bewegten Bildersturm, das nervöse Schlingern einer subjektiven Kamera sorgt für das beklemmende Gefühl der Einengung. Der Erzählung dabei aus Distanz zu folgen, fällt schwer. Ein Grund mehr, warum Nickel Boys so anstrengt. Dazu dieser fragmentierte Szenenwechsel, die kaum stringente Szenenfolge, diese narrativen Lücken dazwischen. Nickel Boys ist eine hart erarbeitete neue Erfahrung, kein Film, dem man bereitwillig folgt, der aber insofern fasziniert, da er Neues versucht. Gefallen muss es einem nicht. Ausschließlich dafür ist Kino ja auch nicht da.

Nickel Boys (2024)

Dead for a Dollar (2022)

IM WESTERN NICHTS NEUES

3,5/10


deadforadollar© 2022 Splendid Film


LAND / JAHR: USA, KANADA 2022

REGIE: WALTER HILL

BUCH: WALTER HILL, MATT HARRIS

CAST: CHRISTOPH WALTZ, WILLEM DAFOE, RACHEL BROSNAHAN, WARREN BURKE, BRANDON SCOTT, HAMISH LINKLATER, BENJAMIN BRATT U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Walter Hill ist zurück! Der Grand Signeur des wenig zimperlichen Actionkinos hatte letztes Jahr zu den Filmfestspielen in Venedig seinen brandneuen Western mitgebracht, und zwar einen mit niemand geringerem als dem mittlerweile etwas überschätzten Christoph Waltz in der Titelrolle. Co-Star ist Allrounder Willem Dafoe, und der Titel des Streifens kann sich gerne an den Italowestern eines Sergio Leone anlehnen, wenn es heißt: Dead for a Dollar. Klingt gut, spricht sich auch gut, könnte sich gut verkaufen. Gerissen hat das Werk beim Festival aber nichts. Es kann auch gut sein, dass sich nach dem Abspann die Hälfte der Kinobesucher nicht sofort aus ihren Stühlen erhoben hat, da diese einem Schlummer anheimgefallen sein könnten, dessen Ursprung wohl die schleppende Erzählweise des Films war. Trotz des knackigen Titels und eines lethargischen Waltz, dessen süffisantes Grinsen Willem Dafoe die meiste Zeit übernehmen wird, will Dead for a Dollar niemals so recht in Schwung kommen.

Dabei wäre der Plot zwar verschwurbelt, aber gar nicht mal so einfallslos. Im Zentrum steht der Kopfgeldjäger Max Borlund, der nach Abliefern seiner aktuellen Beute im Provinzknast auf den Gauner Joe Cribbens stößt, den er damals hinter Gitter gebracht hat. Der schwört ihm: sollte ihm Borlund demnächst nochmal über den Weg laufen, wäre noch eine Rechnung offen. Der phlegmatische Borlund grinst nur warnend und nimmt wenig später den Auftrag eines reichen Schnösels namens Kidd an, dessen Frau womöglich entführt worden ist, und zwar von einem desertierten Soldaten der Armee. Beide haben die Grenze nach Mexiko passiert, also muss Borlund ihnen nach. Was dieser nicht weiß: Das Gebiet obliegt der Oberhoheit eines arroganten Gangsters namens Tiberio Vargas (Benjamin Bratt), der mit dem Deserteur einen Dollar-Deal abgeschlossen hat, um ihnen freies Geleit zu gewähren. Es stellt sich heraus, dass die Entführung mit Lösegeld gar keine war und Lady Kidd, die angeblich Entführte, mit ihrem Lover lediglich durchbrennen wollte. Geld gibt es also keines, und das macht nicht nur Vargas, sondern auch Borlund unrund. Letzten Endes treffen sich alle in einer staubigen Kleinstadt, um miteinander abzurechnen und den bestmöglichen Vorteil aus der verfahrenen Situation herauszuholen.

Was Christoph Waltz mit seiner Filmfigur allerdings nicht macht. Zumindest haucht er ihr nicht mehr Leben ein als notwendig. Sein Spiel ist gelangweilt und lustlos – so missglückt war noch keine seiner Arbeiten. Kann auch sein, dass sich Waltz immer noch zu sehr auf seinen Oscar-Lorbeeren ausruht, denn wirklich wendelbar sind seine Rollen seit damals allesamt kaum. Noch dazu wählt er als sein eigener Synchronsprecher ab und an die falsche Intonation, was nicht gerade dazu beiträgt, seine Rollen besser zu erden. Dahingegen weiß Dafoe viel besser zu improvisieren – doch auch bei ihm scheint der Funke und die Leidenschaft für einen Western wie diesen nicht überzuspringen. Einzig die bierernste Rachel Brosnahan zeigt etwas mehr Engagement, doch nur im Vergleich zu ihren Kollegen. Walter Hill scheint das alles nicht sonderlich zu tangieren. Er lässt seinen Cast einfach machen und wählt wohl, wie es den Anschein hat, für jede Szene die erste Klappe. Dead for a Dollar ist ein Western, der so viel besser hätte sein können. Doch so fahlbraun und entsättigt wie die Bildwelten des Films sind nicht nur Schauspiel und Setting, sondern auch der kraftlose Inszenierungsstil, der noch dazu mit regressiv wirkenden Fade Outs verwundert.

Mit einem Western, der so seine Versprechungen macht, aber nicht hält, fügt Walter Hill, der in den Neunzigern für Genrewerke wie Geronimo oder Wild Bill verantwortlich zeichnete, kein wirklich krönendes Highlight seinem Schaffen hinzu. Und es ist, als wäre dieser Umstand allen Beteiligten schon vorab seltsam bewusst gewesen. Wofür das endenwollende Engagement letztlich sprechen würde.

Dead for a Dollar (2022)