Armand (2024)

NACHSITZEN FÜR ELTERN

3/10


© 2024 Pandora Film


LAND / JAHR: NORWEGEN, NIEDERLANDE, DEUTSCHLAND, SCHWEDEN 2024

REGIE / DREHBUCH: HALFDAN ULLMANN TØNDEL

KAMERA: PÅL ULVIK ROKSETH

CAST: RENATE REINSVE, ELLEN DORRIT PETERSEN, ENDRE HELLESTVEIT, THEA LAMBRECHTS VAULEN, ØYSTEIN RØGER, VERA VELJOVIC U. A.

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Als schlimmster Mensch der Welt konnte sich Renate Reinsve in Joachim Triers tragikomischen Beziehungsklassiker auf niemanden wirklich einlassen. Mittlerweile ist die Norwegerin auch dank dieses Films längst in Hollywood angekommen. Zuletzt war sie an der Seite von Sebastian Stan in der bizarren Psychokomödie A Different Man zu sehen, nachdem sie in Handling the Undead ihren untoten Sohn pflegt. Mit Armand begibt sich die mit unbändigem Esprit ausgestattete, kraftvolle Schauspielerin in Gefilde, die bereits Yasmina Reza mit dem Kammerspiel Der Gott des Gemetzels ausgelotet hat. Was sehr nach antiker Tragödie klingt, ist in Wahrheit eine Nabelschau der Befindlichkeiten zeitgeistiger Erwachsener, deren Lebensinhalt sich ausschließlich um sie selbst dreht; die zwar Kinder haben, aber diese nur als Spiegel ihrer eigenen Komfortgrenzen betrachten. Wichtig sind sie ihnen nicht, und deshalb hat Reza auch in keiner Minute ihres Stücks das Auftreten derer eingeplant, die diese Zusammenkunft zweier Elternpaare überhaupt erst notwendig werden lassen. Schließlich scheint es nicht wert, die Heranwachsenden selbst zu befragen oder sie als vollwertige Person zu betrachten.

Armand tickt vom Konzept her sehr ähnlich wie dieses von Roman Polanski bereits verfilmte und prunkvoll besetztes Stück. Kate Winslet, Jodie Foster und Christoph Waltz konnten dabei ihre tragikomisch-dialogwitzige Ader pulsieren lassen. Armand hat den unterschwelligen Witz zur Gänze außen vorgelassen. Im Film von Halfdan Ullmann Tøndel gibt es so etwas wie augenzwinkernde Distanz nicht. Das kann doch nicht daran liegen, dass Tøndel der Sohn von Liv Ullmann und Ingmar Bergman ist? Bergman ist aus der Filmgeschichte nicht mal minutenweise wegzudenken, das wäre so, als würde man hundert Jahre menschlicher Entwicklung streichen. Bergmans Filme sind legendär, surreal, psychologisch durchdacht und völlig anders als das, was Hollywood jemals zustande brachte. Mit ihm lässt sich auch das skandinavische Filmschaffen fast schon als eigenes Genre betrachten. Doch zurück zu Tøndel, denn der ist nicht Ingmar Bergman. Oder doch? Beeinflusst scheint ihn das Gesamtwerk seines Vaters aber sehr wohl zu haben. Daher auch diese drückende, bedeutungsvolle, selbstverliebte Schwere, in die sich Renate Reinsve bettet, als wäre sie Medea.

Dabei muss Reinsves Figur der narzisstischen Schauspielerin, die alle Welt kennt, kurz vor Ferienbeginn doch nur in der Schule ihres Sohnes antanzen, um einen Sachverhalt zu klären, der auch die Eltern ihres Neffen betrifft. Zwischen diesen beiden Jungs herrscht schließlich ein Gefälle im Kräfteverhältnis, und der Stärkere – titelgebender Armand – soll den Schwächeren sexuell unterdrückt haben. Wenn Erwachsene solche Situationen ausbaden müssen, ohne ihre Kinder miteinzubeziehen, geht es bald nur noch ums jeweilige Ego. Pädagogisch spannend ist Armand daher in keiner Weise.

Wenn Eltern im Clinch liegen und recht behalten wollen, kann das so funktionieren wie in Gott des Gemetzels. Nicht aber bei Tøndel. Sein Versuch, einen dialogstarken Psychokrieg vom Zaun zu brechen, missglückt insofern, da dieser sich irgendwann, und das sehr bald, nur noch für seine Schauspielerin als Schauspielerin interessiert, deren soziale Inkompetenz von niemandem sonst außer dem Regisseur selbst ergründet werden will. Wenn Reinsve als Elizabeth mit dem Putzmann durchs leere Schulhaus tanzt oder sich einem minutenlangen Lachanfall hingibt, kräuselt sich meine Stirn. Im falschen Film? So würde ich es nennen. Wer glaubt dabei in ein emotional starkes Vexierspiel zu geraten wie seinerzeit Mads Mikkelsen im brillanten Schulthriller Die Jagd von Thomas Vinterberg, der darf bald gähnend einer Solo-Performance beiwohnen, die sich für ihr eigentliches Thema nicht mehr interessiert, sondern nur noch in bedeutungsschweren Sinnbildern herumhechelt, und das für einen psychisch labilen Charakter, der längst nicht so interessant ist wie er sich selbst nimmt. Diese Arroganz kickt den schwer zu ertragenden, lähmend irrelevanten Kunstfilm leider ins Aus.

Armand (2024)

Die Hüterin der Wahrheit – Dinas Bestimmung

IHR SOLLTET EUCH SCHÄMEN

7/10

 

hueterinderwahrheit© 2015 polyband Medien GmbH

 

LAND: DÄNEMARK 2015

REGIE: KENNETH KAINZ

CAST: REBECCA EMILIE SATTRUP, MARIA BONNEVIE, JAKOB OFTEBRO, PETER PLAUGPORG, SØREN MALLING U. A.

 

Lene Kaaberbøl ist Dänemarks Joanne K. Rowling. Die Verfilmung ihrer Buchreihe rund um die Wildhexe kam Ende letzten Jahres ins Kino, und davor schon wurde ihr phantastisches Märchen Die Hüterin der Wahrheit mit kaum vernachlässigbarem Budget und daher auch mit ordentlich Aufwand verfilmt. Kaaberbøl ist zwar als Kinderbuchautorin bekannt – als Kindergeschichte würde ich ihr mediävales Abenteuer aber nicht bezeichnen. Ganz so wie Harry Potter eignet sich auch Dinas Schicksal ideal für den Nachwuchs nach der Grundschule. Die Geschichte ist spannend, düster und magisch, wenngleich hier deutlich weniger phantastische Tierwesen den Alltag dominieren wie bei Rowling. Kaaberbøl hält sich ungefähr an das Level, an das sich Georg R. R. Martin auch bei seinen Thronspielen gehalten hat. Die ersonnene, alternative Mittelalter-Welt, in der das Mädchen Dina gegen finstere Mächte ankämpfen muss, die ist maximal von flügellosen Drachen bevölkert, die ungefähr so aussehen wie die Warane auf der indonesischen Insel Komodo, neben den Krokodilen die größten Reptilien unseres Planeten, deren Biss noch dazu giftig ist. Diese Drachen, die hausen in den Katakomben ebenso finsterer Burgen, in denen Intrigen, Mord und das Handwerk des Henkers fröhliche Urstände feiern. Der unrechtmäßig an die Macht gepushte Bastard des Königs, dem ist die Sippschaft rund um Dina ein Dorn im Auge – denn diese unter eher ärmlichen Bedingungen landwirtschaftenden Bürgerinnen, die haben eine ganz besondere Gabe. Man nennt sie die Beschämerinnen. Was das heißt? Nun, sie können die Sünden der anderen lesen, aber nur dann, wenn diese Sünden Scham verursachen, versteckte Scham.

Ein interessanter Kniff in diesem doch eher und gerade richtig düsteren Märchen, das genauso wie Game of Thrones das Zeug dazu hätte, ein Streaming-Knüller mit mehreren Episoden zu werden. Der Film ist aber auch nicht schlecht, gibt dem ganzen Szenario aus Verrat, Geheimnis und verdeckten Ermittlungen allerdings nicht die Zeit, die es verdient hätte. Das ist die Krux bei Kinofilmen – sie haben eine begrenzte Laufzeit, man will das Publikum sicherlich nicht überstrapazieren, also muss der Plot in abendfüllenden zwei Stunden erzählt sein. So gut es geht schafft Regisseur Kenneth Kainz dennoch Raum um seine prinzipiell interessanten Figuren, die alle einen starken, unbeirrbaren, aufmüpfigen Charakter haben. Die mittlerweile 19jährige Rebecca Emilie Sattrup macht es allen vor – dabei hat sie ein bisschen was von Hermine aus Harry Potter, aber auch von Arya Stark, die Assassinin unter Westeros Sonne. Und ein bisschen was von Klima-Greta. Eine einnehmende, trotzige, wütende Gestalt. Und gesegnet mit einer Gabe, die gleichzeitig gesellschaftlicher Fluch ist.

Wer also von der gängigen Siegerstraße uns längst bekannter Fantasy-Welten abzweigen will in eine alternative, verschlossene Anderswelt, um frische magische Luft zu schnuppern, der sollte den Trampelpfad Richtung Dänemark nutzen, denn dort hat eine von Franchise-Hypes abgewandte Welt genügend Bodenhaftung gefunden, um fast schon als Geheimtipp zu funktionieren, den womöglich nicht viele von euch kennen, der aber einen konzentrierten Blick lohnt – aber wenn geht, bitte nicht direkt in die Augen Dinas. Denn dann könntet ihr euch schämen.

Die Hüterin der Wahrheit – Dinas Bestimmung