Playground

SCHLACHTFELD SCHULE

7,5/10


playground© 2022 Stadtkino Filmverleih


LAND / JAHR: BELGIEN 2021

BUCH / REGIE: LAURA WANDEL

CAST: MAYA VANDERBEQUE, GÜNTER DURET, KARIM LEKLOU, LAURA VERLINDEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 12 MIN


Die Welt der Peanuts ist eine, in der es so gut wie keine Erwachsenen gibt. Was nicht heißt, dass sie nicht ab und an auftreten, doch meist unsichtbar und aus dem Off unverständliches Zeug brabbelnd – Worte, die ein Kind nicht wirklich tangieren, es sei denn, sie werden direkt angesprochen und müssen Pflichten erledigen, die für ihr zukünftiges Fortkommen durchaus, so sagen andere, relevant sind. Charles M. Schulz hat mit seinen Comics also eine Welt kreiert, die nur den Kindern gehört. In welcher deren Regeln gelten und psychosoziale Mechanismen aus dem eigenen kindlichen Antrieb heraus entstehen. Dennoch würde Schulz womöglich niemals sagen, dass den Kindern das Kommando gegeben werden soll, wie es einst Herbert Grönemeyer in einem großen Missverständnis juveniler Psychologie gegenüber lauthals singend verlautbart hat.

Den Kindern das Kommando zu geben ist ein falscher Weg. Kindern aber die Möglichkeit zu geben, aus eigenem selbstbestimmtem Handeln heraus komplexe zwischenmenschliche Probleme erst zu verstehen, um sie dann zu lösen, ist notwendig. Das beste Biotop dafür: Die Schule. Dort passiert alles, was uns später genauso und immer noch widerfährt, nur kennen wir die Mechanismen zur Deeskalation womöglich besser – die Emotionen, die dabei im Spiel sind, verleiten aber immer noch dazu, sich aufzuführen wie ein Kind.

Playground von Laura Wandel ist wie die Peanuts, nur ohne charmanter Ironie – es ist härter, brutaler, gnadenloser. Was bei Wandels erster Regiearbeit zunehmend irritiert, ist der eng gesteckte Radius der Wahrnehmung, kurze Brennweiten und die Perspektive auf Augenhöhe der zentralen Filmfigur Nora. In Playground gibt es kein Rundherum, nur Kantine, Pausenhof und Klassenraum. Erwachsene erscheinen, sofern sie sich nicht auf Augenhöhe der Kinder begeben, als Fragmente von Körpern, die sich fast schon übergriffig und dominant ins Bild schieben. Playground ist ein Spiel mit den Hierarchien, nicht nur zwischen den Mitschülern, sondern auch und vor allem zwischen Kind und Aufsichtsperson. Fast gleicht dieses Schülerdrama einem Gefängnisfilm, in dem wilde Regeln gelten und das Recht des Stärkeren, Beliebteren.

Die Problemlage des Films ist es überdies wert, in weiterem Vorgehen ergründet zu werden: Die siebenjährige Nora beginnt ihren ersten Schultag an der Schule ihres Bruders Abel und muss sich ihr eigenes soziales Umfeld von der Pike auf neu errichten. Das scheint für den Anfang gar nicht so schwer – doch als sie merkt, dass Abel von drei Buben zusehends und immer heftiger gemobbt wird, findet sie sich in einer Zwangslage wieder: Soll sie nun, gegen den Willen von Abel, angesichts dieser psychischen und physischen Gewalt intervenieren und ihre Beliebtheit aufs Spiel setzen? Oder das Drama zu eigenen Gunsten ignorieren?

Wandel rückt keinen Millimeter von ihrer Kinderdarstellerin Maya Vanderbeque ab. Sie ist das Zentrum des Films, alles dreht sich um sie, all der Lärm vieler Stimmen, all die Gemeinheiten und all der Spott, auf dem die lern(un)willige Klassengesellschaft errichtet wird. Vanderbeques natürliches Spiel ist großartig und es ist wieder mal verblüffend anzusehen, was Filmemacher aus solchen Jungdarstellern herausholen können. Das erinnert mich an Jeremy Milikers Performance in Die beste aller Welten, einem der stärksten österreichischen Filme der letzten Jahre.

Es ist auch verblüffend, wie sehr das Verhalten von Kindern dem von Erwachsenen gleicht, nur lässt sich hier, in diesem schmerzlichen Kammerspiel, die ganze Dynamik ungefiltert beobachten. Geschickt setzt Wandel aber Wendepunkte in diesem Geschehen, bei welchen den Erwachsenen mehr oder weniger die Hände gebunden sind, und folgt dem steinigen Weg kindlicher Selbstfindung auf erzählerisch wuchtige, hochdramatische Weise.

Playground

Bad Luck Banging or Loony Porn

DIE KRUX DES EGOZENTRISCHEN WELTBILDES

7,5/10


badluckbanging© 2021 Panda Lichtspiele

LAND / JAHR: RUMÄNIEN, LUXEMBURG, TSCHECHIEN, KROATIEN 2021

BUCH / REGIE: RADU JUDE

CAST: KATIA PASCARIU, CLAUDIA IEREMIA, OLIMPIA MALAI, NICODIM UNGUREANU, ALEXANDRU POTOCEAN, DANA VOICU, GABRIEL SPAHIU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Es kann gut sein, dass mein Beitrag nach dem Teilen auf diversen Social Media-Plattformen von der Zensur geblockt wird. Das Wort „Porn“ kommt darin vor. Kann gut sein, dass die Zugriffe auf diesen Artikel dadurch in die Höhe schnellen. Kann alles sein. Kann sogar sein, dass ein Film wie dieser trotz oder gerade wegen seinen expliziten Darstellungen den Goldenen Bären der Berlinale gewinnen kann. Und auch, obwohl sich Banging und Porn in den Titel schummeln. Eine Vorverurteilung hat aber nicht stattgefunden, denn Radu Jude hat für seine virtuose Satire tatsächlich die höchste Auszeichnung erhalten. Gibt es also rund 50 Jahre nach Deep Throat ein Porno-Revival in klassischen Kinosälen? Nein, nicht wirklich. Bad Luck Banging or Loony Porn will das gar nicht. Dieser Film – wie soll ich sagen – ist zwar ein obszönes, aber gutgemeint groteskes Stück Kino, das sicherlich nicht zum besten Freund wird – auf den zweiten Blick jedoch kann man das, was da abgeht, so gut nachvollziehen, als wäre man mit diesem polemischen Stück publiker Selbstreflexion schon lange auf Du und Du.

Man kann gut erkennen, was entsteht, wenn nichts und niemand einem Filmemacher ins Handwerk pfuscht. Radu Jude befindet sich inmitten der Pandemie, wir schreiben das Jahr 2020, und man merkt auch, dass für seine Ideen die Weltlage gar nicht besser hätte sein können. In dieser Pandemie, die Jude auf die aufreibendsten Arten des Maskentragens, Händedesinfizierens und nicht eingehaltene Sicherheitsabstände reduziert, ist der gesellschaftliche Sodbrand kurz davor, bis in den Rachenraum aufzusteigen. Zu keiner Zeit in der jüngeren Geschichte lässt sich die Doppelmoral des Menschen in der Dynamik einer Gesellschaft so sehr ans Tageslicht zerren wie in dieser. Dabei passiert nicht viel, und seit Thomas Vinterbergs grandiosem Rufmord-Drama Die Jagd wissen wir auch, wie Massenmedien im Computer- und Handyzeitalter zusätzlich Zunder geben. Zum Leidwesen der Kinder und derer, die des Berufs wegen für diese verantwortlich sind. Immerhin ist passiert, was nun mal so passiert: Die Lehrerin Emi hat Sex mit ihrem Ehemann – sie filmen sich dabei, und wir sehen das auch. Blöderweise stellt der nicht wirklich vorausdenkende Göttergatte das sogenannte Sex Tape auf Pornhub – wo dieses alsbald von den Schülern aus Emis Klasse gesehen wird. Empörter kann die Elternschaft nicht sein. Wie kann man nur! Sie fordern eine Konferenz, um die gute Frau zur Rede zu stellen. Oder ganz einfach fertigzumachen.

Bad Luck Banging or Loony Porn hat drei Kapitel, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Nach dem gar nicht jugendfreien Vorspiel folgen wir Emi quer durch Bukarest. Es ist die Bestandsaufnahme einer verdorbenen Welt aus billigen Obszönitäten, Aggressionen und kompensierten Psychosen. Ein Panoptikum zwischen Zerfall und Übersättigung, dabei ruht die Kamera weniger auf Emis Spaziergang durch die Welt als vielmehr auf einen Alltag, der sich selbst zuwider zu sein scheint. Kapitel zwei ist ebenfalls ein Sammelsurium – eine alphabetische Abfolge diverser Begriffe, die, größenteils mit Archivaufnahmen bebildert, eine Collage dessen ergeben, was Rumänien bewegt. Kapitel drei dann der Elternabend des Grauens. Eine Geisterbahnfahrt des Fingerzeigens und des Besserwissens. Ich will nicht sagen: des Querdenkens.

Wer mir dazu einfällt: Der Schwede Ruben Östlund beschäftigt sich nicht erst seit The Square mit ähnlichen Themen und seziert dabei menschliches Gruppenverhalten, über welches die Vernunft allzu leicht stolpert. Sei es nun, Eigenverantwortung zu übernehmen – oder die Verantwortung über den eigenen Nachwuchs. Jude spricht diese Fähigkeit der „Elterngeneration What?“ Ein für alle Mal ab. Seine Erzieherinnen und Erzieher verorten aus reiner Bequemlichkeit und nach erhörten Predigten über ein egozentrisches Weltbild die moralische Verantwortung jenseits der eigenen Familie. Dabei ist nicht das Problem, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Wahl der immer bequemeren Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Was bleibt, ist ein Aneinanderrennen starrer Weltsichten und liberaler Koketterie. In Judes Groteske erkennt man letzten Endes mit Schrecken, selbst zu einer dieser Gruppen zu gehören. Was dagegen tun? Im Avantgarde-Kino von heute bleibt da nur noch die verzweifelte Möglichkeit, mit ätzendem Zynismus die Nimmerbelehrbaren in die Selbstreflexion zu nötigen.

Bad Luck Banging or Loony Porn

Booksmart

PARTY MACHT SCHULE

7,5

 

booksmart© 2019 Annapurna Pictures

 

LAND: USA 2019

REGIE: OLIVIA WILDE

CAST: BEANIE FELDSTEIN, KAITLYN DEVER, BILLIE LOURD, SKYLER GISONDO, LISA KUDROW, JASON SUDEIKIS, WILL FORTE U. A.

 

„Wo foahr‘ ma hin? – eine‘ ins Leben!“ – so lässt es das österreichische Musiker-Duo Pizzera & Jaus ertönen. Wie bezeichnend für Olivia Wildes Regiedebüt, die sich dem farbenfrohen Genre des Coming of Age-Films angenommen hat. Da gibt es natürlich unterschiedliche Herangehensweisen. Von der Entdeckung der eigenen Reife, verschachtelt mit der Allegorie eines Monsters, ob Vampir oder Werwolf (u.a. So finster die Nacht oder When Animals dream). Da wäre auch die ziellose Schwerelosigkeit wie sie Lady Bird aka Saoirse Ronan in Greta Gerwigs gleichnamigem Film hatte. Da wären aber auch niveaulose Kalauerkomödien im College-Dunstkreis, die zum Fremdschämen einladen. Oder kluge, niemals peinliche Einblicke in die Gedankenwelt völlig unterschiedlicher Jugendlicher wie in John Hughes immer noch aktuellem Klassiker Breakfast Club. Hughes selbst war ohnehin einer der wenigen, die aus der Pubertät nicht gleich ein Zerrbild notgeiler Sex-Debütanten gemacht hat. Und hat gezeigt, dass da weitaus mehr dahintersteckt als nur Spritztouren und Mädelsaufreißen, Schönheitswahn und Zickenkrieg. Olivia Wilde findet das auch. Und lässt die beiden College-Absolventinnen Molly und Amy so einiges über sich selbst und all die anderen erfahren, die längst nicht das sind, was sie all die Jahre hindurch vorgegeben haben zu sein.

Die Bedenken, die ich bei Filmen wie diesen habe, nämlich, dass sie sich als ordinäres Spaßkino auf Kosten diverser Pennälerklischees entpuppen, ist bei Booksmart so ziemlich unbegründet. Die Zuneigung, die Olivia Wilde ihren jungen Alltagsheldinnen entgegenbringt, macht fehlenden Respekt unmöglich. Beanie Feldstein und Kaitlyn Dever danken es ihr, indem sie aufspielen, als gäbe es kein Morgen mehr. Oder zumindest keine Schule. Was dieser augenzwinkernde Abgesang auf einen längst in seiner Routine liebgewonnenen Lebensabschnitt bereithält, ist das Umtriebige einer Nacht, ein feuchtfröhliches Roadmovie durch jugendliche Feierlichkeiten zwischen Luxusjacht und Gefängnis, doch alles soweit geerdet, dass es zwar klassisch amerikanisch und durchaus schrill einhergeht, dabei aber nie den Tag nach dem Abfeiern aus den Augen verliert. Denn das ist es, was alle hier bewegt, vom Mädchenschwarm bis zum Mauerblümchen: der Morgen nach der Schule, der erste Schritt in eine Zukunft, die mit Selbstbestimmung  frohlockt, aber auch die Obhut der Eltern entzieht. Die eine geht für ein Jahr nach Botswana, die andere nach Yale, und ganz andere versuchen sich im Sport. Dabei wird klar, dass diese Nacht, die hier so liebevoll gezeichnet wird, sämtliche Masken fallen lässt. Was zum Vorschein kommt, ist Neugier, Angst, Unsicherheit und der Versuch, ein jahrelang penibel zugelegtes Image auf Null herunterzusetzen, um sich und die anderen neu kennenzulernen. Oder selbst anders gesehen zu werden. In dieser Nacht haben alle, so unterschiedlich sie auch sein mögen, nämlich genau das gemeinsam: eine ungewisse Zukunft, die alle Absolventen neu definieren wird.

Booksmart ist kein sonderlich origineller Wurf, nichts unerwartet Neues. Dafür aber unerwartet bodenständig, wortgewandt und witzig. Ein wohlgesampelter Soundtrack mit fetten Beats pusht so richtig die Lust, einen draufzumachen. Wobei Humor hier nicht zum Selbstzweck verkommt. sondern aus den unerwarteten Situationen resultiert, in denen sich zwei Streberinnen wiederfinden, die dem Trugschluss erliegen, womöglich vieles verpasst zu haben. Beanie Feldstein agiert dabei unglaublich sympathisch und entwickelt einen dermaßen kumpelhaften Ehrgeiz, dem ich mich nicht entziehen kann. Partymachen muss also nicht zwingend etwas sein, das den nächsten Morgen in verschämter Katerstimmung und hinter dicken Sonnenbrillen durchbeißt, sondern kann auch wie das Nachsitzen bei John Hughes zu interessanten Erkenntnissen führen. Solche über verkannte Mitmenschen, Freundschaft oder über das Leben selbst, dem man sich irgendwann stellen muss.

Booksmart

I Kill Giants

ZU GROSS FÜR DIESE WELT

6/10

 

ikillgiants© 2018 Koch Films

 

LAND: USA 2018

REGIE: ANDERS WALTER

CAST: MADISON WOLFE, ZOE SALDANA, IMOGEN POOTS, JENNIFER EHLE, SYDNEY WADE U. A.

 

Dämonen gibt es wirklich. Täglich haben wir mit ihnen zu kämpfen. Es sind die in unserem Inneren. Zum Verhängnis werden sie, wenn man sich nicht mit ihnen arrangiert. Dazu braucht es ganz schön viel Kraft, eisernen Willen, und – was Kinder besonders gut abrufen können, um es mit den Dämonen des Lebens aufzunehmen: Fantasie. Ein gutes Beispiel: die kleine Ofelia, die sich in Pans Labyrinth eingeschlichen hat, um sich unter anderem gruseligen Kreaturen zu stellen, die ihre Augen in den Handflächen haben. Mit Fantasie geht alles leichter, das gibt der Unwirtlichkeit des Lebens ein bekämpfbares Gesicht, das bettet sie ein in eine Form, die man aus dem elterlichen Vorlesen gewohnt ist. Warum aber brauchen Kinder Fantasie? Um die Realität besser zu begreifen. Um den Halt, den sie verloren haben, anderswo zu suchen. In einer Welt, die sie bewältigen können. Es sind Projektionen, die gebannt werden können. Und je größer die Angst, je unsicherer das Leben, je unwirtlicher das Zuhause, desto größer wird der projizierte Dämon, das Bild vor den kindlichen Augen. Und umso uferloser die Fantasie.

Bei dem 13jährigen Connor aus Bayonas Buchverfilmung Sieben Minuten nach Mitternacht war es ein riesenhaftes Baumwesen mit erdiger, tiefer Stimme, dass den um seine Mutter bangenden Jungen an drei Nächten drei Geschichten erzählen wird. In Zac Snyders Sucker Punch tanzen sich psychisch labile Girlies in eine martialische Welt aus fiktiven Kriegen hinein, in denen sie als Heldinnen ihren Ausweg finden sollen. Und hat Tolkien nicht auch seine Traumata aus dem Ersten Weltkrieg mit der Erschaffung von Mittelerde gebannt? Gut, dass der Mensch seine Fähigkeit dazu hat, die Realität zumindest in seinem Kopf zu verändern. Das tut die 15jährige Barbara in I Kill Giants auch, doch sie ist fest davon überzeugt, dass es sie wirklich gibt: Riesen. Sie streifen umher und zerstören alles, das Mädchen aber ist die einzige, die sich ihnen entgegenstellen kann. Sie besänftigt sie mit Honig und tötet sie mit einer selbstgebastelten Streitaxt. Zu ihrem Schutz trägt sie Hasenohren und vollführt seltsame Rituale. Weil sie das macht, ist sie an ihrer Schule unbeliebt, eine Außenseiterin, ein Freak. Der Nonkonformismus der jungen Frau stößt auf Ablehnung, doch wer gegen Riesen kämpft, den scheren Unkenrufe aus den hinteren Reihen wohl kaum. Einzig Zoe Saldana als Schulpsychologin wird auf den verhaltensauffälligen Teenager aufmerksam. Was ist dran an den Riesen?

I Kill Giants ist eigentlich ein Comic des Amerikaners Joe Kelly, und sieht man den Film, erschließen sich die Panels automatisch im Kopf. Riesenkillerin Barbara ist eine expressive Figur nahe am Manga, irgendwo zwischen Alita, Alice im Wunderland und einer der Nachsitzenden aus dem Breakfast-Club. Madison Wolfe versucht dieser zerrissenen Psyche des Mädchens gerecht zu werden, doch sie bleibt unnahbar, distanziert, seltsam verschroben. Was der Rolle womöglich gerecht wird. Man nähert sich ihr erst gemeinsam mit Zoe Saldana, die versucht, zu begreifen, was es mit den phantastischen Monstern auf sich hat. Das macht es, auch wenn es authentisch ist, schwer, sich für die von allen abgewandten Protagonistin ernsthaft zu interessieren. Da hat Lewis McDougall in Sieben Minuten nach Mitternacht mehr und viel eher sein Herz geöffnet. I Kill Giants erzählt im Grunde die gleiche Geschichte wie eben erwähnter Film, Vergleiche drängen sich auf. Doch während der Baumdämon in Bayonas Film eine vermittelnde, belehrende Funktion hatte, marodieren die Riesen, die durchaus an Guillermo del Toros Pacific Rim erinnern und die man nur selten zu Gesicht bekommt, wie finstere Bedrohungen durch die Landschaft. Ihnen vorangehend erscheint ein prophetisches, abgründiges Spukwesen. Wenn es erscheint, sind die Dämonen nicht fern. Fern bleibt hingegen so ziemlich den ganzen Film durch die Annäherung an die Ursache der seltsamen Wahrnehmung. Bis dahin bleibt I Kill Giants ein düsteres Jugenddrama mit phantastischen Elementen, dass aber verwirrt und weltfremd bleibt. Und ja, eigentlich wie die Psyche des Mädchens. Dass sich als Comic sicherlich großartig visualisieren lässt, sich aber als Film mehr dem Storytelling des gezeichneten Mediums verwandt fühlt als dem Kino. Für die wuchtige Katharsis des Mädchens bleibt dann doch nur wenig Zeit. Das sind dann aber die besten Momente, die man durchaus geduldig erwarten kann und die den Film dann doch noch lohnen.

I Kill Giants

Spider-Man: Far From Home

WIR MÜSSEN JETZT STARK SEIN

6,5/10

 

spidermanfarfromhome© 2019 Sony Pictures

 

LAND: USA 2019

REGIE: JON WATTS

CAST: TOM HOLLAND, JAKE GYLLENHAL, SAMUEL L. JACKSON, JON FAVREAU, MARISA TOMEI, ZENDAYA, COBIE SMULDERS U. A.

 

Gibt es denn ein Leben nach dem Endgame? Ja, doch, das gibt es. Darüber hinwegzukommen, dass die finale Schlacht um Thanos nicht ohne Verluste blieb, geht natürlich nicht von heute auf morgen. Und auch nicht von Frühling bis Sommer, wie uns der neue Spider-Man klarmachen will. Da hilft meistens nur die Methode, Abstand von alldem zu gewinnen. Denn das sind ja keine Peanuts, wenn man auf fremden Planeten gegen einen violetten Giganten antritt, an der Außenhülle eines Raumschiffs hängt und am Ende noch seinen Mentor verliert. Das schreit nach einer Auszeit fernab jeglichen Heldengetöses, in der sich Jungs wie Peter Parker, nicht mal noch volljährig, auf die eigentlich wesentlichen Dinge des Lebens rückbesinnen können. Auf das Zwischenmenschliche sozusagen. Auf das Mädchen MJ aus Parkers Klasse, die durch ihre unkonformistische Art das Interesse des Fassadenjunkies geweckt hat. Gut, dass die ganze Klasse gemeinsam nach Europa fliegt, denn auf Reisen lässt sich einfacher Bande knüpfen als im Alltagstrott daheim, wo vielleicht ohnehin nur neue Heldentaten auf ihre Erfüllung warten. Was sie auch tun, denn Ex-S.H.I.E.L.D.-Manager Nick Fury versucht verzweifelt, den Jungspund zu erreichen.

Mit Spider-Man: Far From Home endet Phase 3 des Marvel Cinematic Universe. So wie es aussieht holt sich Phase 4 dann doch noch den einen oder anderen Protagonisten mit aufs Boot, das zu neuen Ufern aufbrechen will. Die ganz alten Haudegen dürften Geschichte sein, das lässt sich auch anhand des rührseligen Farewell-Intros des vorliegenden Abenteuers nochmal besser begreifen. Tom Holland aber dürfte noch einiges vorhaben, wie es aussieht. Und mit ihm auch Samuel L. Jackson als Nick Fury oder Jon Favreau als integrer Happy, die gute Seele des Hauses, wenn man so will. Das macht den Abschied leichter, und den Übergang in ein neues Kapitel gar nicht so sehr zu einem Abnabelungsprozess wie befürchtet. Mit Jake Gyllenhaal taucht dann noch dazu ein kompletter Neuling auf, einer, der von einer alternativen Erde stammt, und mit anpackt, wenn es heißt, die neue Bedrohung des Planeten durch die Eternals abzuwenden. Das neue Abenteuer sieht also nach einem jugendlichen Interrail-Trip quer durch Europa aus, nur ohne Interrail und zwischendurch gibt es weltbewegende Giganten, die nicht nur die Lagunenstadt demolieren.

Jon Watts beweist da einmal mehr ein Händchen fürs lockere Inszenieren, fürs unbekümmerte Zusammenspiel seines Ensembles, das sichtlich Spaß an der Sache hatte, sich aber manchmal zu sehr auf ihren kindlich-naiven Charme verlässt, der natürlich einnehmenden Unterhaltungswert hat, allerdings nicht ganz so treffsicher Show macht wie bei Spider-Man: Homecoming. Dessen Esprit war eindeutig besser, und auch Michael Keaton war ein Antagonist, der nicht ganz so sehr einer Allmachtsfantasie erlegen war wie das bei Bösewichten oft der Fall ist. Spider-Man: Far From Home scheint da diesmal gänzlich ohne handfesten Widerpart auszukommen – oder doch nicht? Zu leicht tappt man bei der Rezension des aktuellen Abenteuers ins Spoiler-Fettnäpfchen, an jeder Ecke lauern kleine, nicht immer schlüssige Story-Twists, die aber für enorme Kurzweil sorgen, und die auch richtig schön ins Geschehen katapultieren, sodass sich der Alltag wie bei einer Reise üblich mit dem Fingerschnippen ausknipsen lässt.

Das quirlige Actionspektakel mit allerhand Akrobatik hat aber zum Glück nicht vergessen, seine Story auch mit einem Quäntchen Zeitgeistkritik zu versehen. Hier dreht sich viel um Social Media, Fake News und Meinungsmache, nah am Puls technophiler Trends. Dem wird mit viel süffisanten Seitenhieben und durchaus auch aufrichtiger Skepsis begegnet, wobei das Vermächtnis des Tony Stark und all die paranormalen Gewaltakte der letzten 22 Filme sehr starken Einfluss auf Spider-Man: Far From Home haben, denn nichts bleibt ohne Folgen, schon gar nicht im MCU, weshalb hier auf Details geachtet und auf ein gutes Erinnerungsvermögen gesetzt werden muss, bis zurück an die Anfänge. Wichtig ist es auch, sitzen zu bleiben bis nach dem Abspann, und ich meine, ganz nach dem Abspann, denn die Post Credit-Szenen, die wir bei Endgame schmerzlich vermisst haben, sind wieder da – und haben es in sich, wie selten zuvor. Wobei klar wird: das Bündel, das der Junge im Stretch tragen muss, wird schwer auf seinen Schultern lasten, aber was hilft´s – wir alle müssen jetzt Stark sein 😉 Oder kann es doch nur einen geben?

Spider-Man: Far From Home

Wenn du König wärst

PROJEKTTAGE MAL ANDERS

7/10

 

wenndukoenig© 2019 20th Century Fox Deutschland

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2019

REGIE: JOE CORNISH

CAST: LOUIS ASHBORNE SERKIS, TOM TAYLOR, REBECCA FERGUSON, DEAN CHAUMOO, RHIANNA DORRIS, ANGUS IMRE, PATRICK STEWART U. A.

 

Ich liebe den Film The Sword in the Stone, im deutschen Verleih bekannt als Die Hexe und der Zauberer. Disney hat hier einen unglaublich liebevollen und charmant-witzigen Klassiker entworfen, der die Legende rund um König Artus in aufwändigen Handzeichnungen und in familientauglicher, steter Zuversicht als kauzigen Evergreen-Event nacherzählt hat. Wenn Hexe Mim die Sonne verflucht oder Eule Archimedes sich scheckig lacht, das sind das immer wieder gern gesehene Sternstunden der Zeichentrickkunst. Weg von den Strichen und hinüber in eine uns bekannte photographische Gegenwart wechselt der jüngst im Kino gestartete Abenteuerfilm Wenn du König wärst. König Artus ist auch hier das Thema, und wieder gibt es jemanden, der es schafft, das besagte Schwert Excalibur aus dem Stein zu ziehen. Dieser Stein, der steht auf einem Abrissgrund, wir schreiben das 21. Jahrhundert, und wäre der Junge Alex nicht von seinen Erzrivalen aus der Schule gejagt worden, hätte er das Artefakt, versteckt hinter Baustellplanen, nie entdeckt. Oder doch? Vielleicht auf anderem Wege, denn das Schwert hätte vermutlich schon seinen Meister gefunden, auf welche Art auch immer. Doch was damit anstellen? Ritter spielen, angeben? Oder eins und eins zusammenzählen? Das Ergebnis wäre mehr als beunruhigend, denn der leicht schartige Stahl der Wunderklinge hat ganz andere Mächte auf den Plan gerufen, und die haben familiäre Gründe – ist doch die gute Morgana Halbschwester des legendären Tafelrundlers und gleichzeitig finstere Hexe, die tief unter der Erde, verflochten in den Wurzeln der Bäume Südenglands, eine ganze Armee untoter Ritter befehligt. Oder befehligen möchte, denn die sollen ihr gefälligst Excalibur beschaffen, denn laut Notar fällt das Erbe immer an die nächsten Verwandten, was wohl sie wäre. Statt den Weg in die Kanzlei wählt sie den Weg des geringsten Widerstands – und rüstet sich für eine Sonnenfinsternis, die den jüngsten Tag einläuten soll.

Wenn das kein Stoff für zehnjährige Jungs und Mädchen ist, dann weiß ich auch nicht: Wenn du König wärst ist handfeste Fantasy für den Nachwuchs, für den Der Herr der Ringe oder Game of Thrones noch einen Tick zu schwer verdaulich ist. Joe Cornish hat sich an den bewährten Jugendkino-Stil eines Chris Columbus orientiert und in dessen wertebewusstem Geiste einen spannenden und kurzweiligen Genremix zwischen Stephen Sommers leinenumwickelten Mumieneskapaden, den Goonies und Disneys Zauberlehrling inszeniert, bei dem sich nicht nur die Kids im Kinosaal wünschen würden, hier selbst den Harnisch anzulegen und das Schwert zu schwingen. Da entsteht Gruppendynamik wie aus dem psychosozialen Lehrbuch, und das beste dabei – Feinde werden zu Freunden, und auch der größte Kotzbrocken könnte in Wahrheit ganz anders sein. Vor allem jemand, der sich wertschätzen lässt, denn niemand ist wirklich gern der schwarze Peter, da steckt meist was anderes dahinter. Cornish macht die Verbrüderung zum Thema, lässt die Next Generation im wahrsten Sinne des Wortes an einem Strang ziehen und lässt die klassenübergreifenden Projekttage durchaus als Abenteuer Unterricht durchgehen. Denn so macht Schule Spaß, auch wenn die Gefahr besteht, von der Klinge eines Knochenritters durchbohrt zu werden. So brutal aber wird es nicht, da bleibt Wenn du König wärst genau dort, wo er hingehört – zwischen kribbeliger Suspense, selbstbewusster Ironie und blutloser Action. Selbst das monströse Konterfei von Hexenwesen Morgana hat nur so lange Bildschirmpräsenz, dass sie sich nicht in die juvenile Netzhaut brennt. Das ist gut getimt, und so wie die Versatzstücke einer Jahrtausende alten Legende in den Waffenrock eines Unterstufen-Gymnasiasten passen, ist auf originelle Weise aufgedröselt. Der Shooting Star schlechthin: Angus Imre als junger Merlin, der fleischgewordene Charakter aus dem Skizzenfundus alter Disney-Cartoons, schlaksig, ungelenk, herrlich altmodisch und gewandet in ein Led Zeppelin-T-Shirt, das sich übrigens durch den ganzen Film zieht – als hätte Cornish die Chance genutzt, sich insgeheim als Fan zu outen.

Louis Ashborne Serkis, der Filius von Motion capture-Mastermind Andy, nimmt seine Aufgabe als Schauspieler und Nachfahre König Artus‘ aufrichtig ernst. Ganz wie im Rollenspiel, dem Jung und Alt heutzutage gleichermaßen frönen dürfen, und so sieht das ganze dann aus, wenn sich die Bilder, die man dabei im Kopf hat, auf der Leinwand manifestieren. Eine spannende Challenge, wo alles seinen richtigen Platz hat, um das Gute siegen zu lassen. Denn verlieren will niemand, am wenigsten unser Nachwuchs, der in Zeiten wie diesen nicht nur in der Schule gehörig viel leisten muss.

Wenn du König wärst

Der Junge, der den Wind einfing

MACGYVER IM MAISFELD

7/10

 

The Boy Who Harnessed the Wind© 2019 Netflix

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 2019

REGIE: CHIWETEL EJIOFOR

CAST: MAXWELL SIMBA, CHIWETEL EJIOFOR, AÏSSA MAÏGA, JOSEPH MARCELL U. A.

 

„Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!“ Und wen das nicht als Kind zum restlosen Vertilgen unliebsamer Speisen bewogen hat, musste mit dem Apell ans eigene Gewissen klarkommen: „Denk doch an die Kinder in Afrika“. Abgesehen davon, dass der Nachwuchs dort nichts davon gehabt hätte, hätten wir unser Essen wirklich aufgegessen (was das eine oder andere Mal sicher passiert ist), sensibilisiert die Relation zum eigenen Wohlstand erst dann, wenn die Konfrontation mit der Armut aus erster Hand passiert. Meist ist das weit weg von daheim. Während eines Individualurlaubs in Dritte-Welt-Länder, wenn der eigene Horizont erweitert werden will, wenn sich das Leben der anderen zur exotischen Erlebniswelt entfaltet. Wie verkennend, denn so erlebenswert ist sie nicht. Vielmehr ein Grenzgang, dessen skandalöser Umstand es ist, ihm überhaupt begegnen zu müssen. Die Welt ist, wie einem dann klar wird, eine ungerechte, in der Ressourcen ungleich verteilt worden sind. Plötzlich wird die Sicht auf das eigene kleine Leben zumindest für kurze Zeit nachhaltig globaler, Zusammenhänge verständlicher, der Unmut gegen das Establishment größer. Denen, die am Ende unserer Reisen zurückbleiben, könnte mit dieser Erkenntnis ja zumindest aus einem gewissenhaften Good Will heraus geholfen werden. Allen anderen müssen, so wie es aussieht, selber klarkommen. Und improvisieren. Oder mal anfangen, die Welt, in der sie leben, besser zu verstehen. Um sie besser zu nutzen. Ganz so wie seit Anbeginn der Menschheit.

Malawi, 2001: Der 13jährige William hat genau das vor. Denn das Wetter, das ist den Bewohnern des kleinen Dorfes Masitala und Umgebung nicht wirklich gewogen. Langanhaltender Regen überschwemmt das Land, und in der Trockenzeit wird wieder kaum ein Tropfen Feuchtigkeit für die Maisfelder verfügbar sein, die aber bares Geld wert sind. Und wer Geld hat, kann sich Essen kaufen und den Sohnemann in die Schule schicken, wissbegierig genug ist er ja. Und zum Glück für alle an der Nahrungsknappheit mitleidenden ist William jemand, der Zusammenhänge versteht, der sich inspirieren lässt und seines und das Schicksal der anderen selbst in die Hand nehmen wird. Anfänglich noch zum Missfallen des Vaters, welcher denkt, das Wunder einer guten Ernte noch mit Muskelarbeit herbeizuschwitzen. William gehört da schon einer anderen Generation an. Und ein schlaues Ingenieursköpfchen wie das eines MacGyver, das gibt es längst nicht nur im Fernsehen. Auf diese Ressourcen könnte ein jeder zurückgreifen, zumindest jeder, der eine gewisse Neugier besitzt und den Glauben, dass eigentlich alles möglich sein kann, dass der erste Schritt zu einem besseren Leben überall sein kann, auch unter der Erde. Das klingt jetzt makaber, stimmt allerdings. Denn William baut eine Pumpe für den Brunnen, angetrieben vom Wind, der unablässig weht, hier in den weiten Ebenen Südostafrikas.

Der Junge, der den Wind einfing ist die erste Regiearbeit des oscarnominierten Schauspielers Chwijetel Eijofor (12 Years a Slave) und gleichzeitig einer der geradlinigsten und erhellendsten Antworten auf die Frage, wie der Hunger in die Welt kommt – und wie man ihn schmälern kann. Nach dem Buch des echten William Kumbawake ist ein Film gelungen, der von Anfang an die Mechanismen und Umstände, die Hunger und Armut nach sich ziehen, konzentriert beobachtet, ohne aber in reißerische Betroffenheitsromantik abzugleiten. Ejofors Film ist sowohl emotional als auch nüchtern, edukativ, aber niemals belehrend. Firlefanz in Sachen Regie gibt es keinen, die Innovation steckt in der Geschichte. Der Regisseur hat hier kein statussymbolisches Ego-Werk gewollt, sondern ein herausposaunendes Anliegen verwirklicht, dass in seiner dramaturgischen Klarheit wirklich wert ist, gesehen zu werden. Vor allem auch, weil es letzten Endes keine Bad News sind, die uns erreichen, sondern Zuversicht, die ohnehin selten ins Kino findet. Vieles, was verfilmt wird, äußert seine Kritik an aktuellen Umständen mit der Vision eines Worst Case. Manifestiert sich das Gute aber als Tatsache, als die gute Nachricht, als einen Triumph menschlicher Anpassung, Improvisation und nachhaltiger Energie, erreicht es beim Publikum deutlich mehr und sollte nicht verschwiegen werden. Noch dazu könnte Der Junge, der den Wind einfing eine gewisse Begeisterung für Physik im Alltag wecken – wie seinerzeit MacGyver, allerdings mit dem bisschen mehr an globaler Relevanz.

Der Junge, der den Wind einfing

Der Himmel wird warten

REKRUTEN FÜR DEN GOTTESSTAAT

7/10

 

himmelwirdwarten© 2017 Neue Visionen

 

LAND: FRANKREICH 2016

REGIE: MARIE-CASTILLE MENTION-SCHAAR

MIT NOÉMIE MERLANT, NAOMI AMARGER, SANDRINE BONNAIRE, CLOTILDE COREAU, ZINEDINE SOUALEM U. A.

 

Der IS, die Sekte des Terrors, fehlgeboren aus der Religion des Islam, arbeitet mit den gleichen Mitteln wie alle anderen radikalen Vereine, die so tun, als würden sie eine Religion vermitteln: mit Gehirnwäsche, werbewirksamer Verführungskunst und Lügen, die einzig darauf abzielen, Ängste zu schüren. Im Grunde wirbt der IS wie seinerzeit der Katholizismus mit der Absolution durch den Ablasshandel. Was hätten diese geld- und machtgierigen Bonzen damals nur alles Erdenkliche noch tun können, wären sie durch soziale Medien wie Facebook oder YouTube vertreten gewesen? Die damals relativ leichtgläubige, furchtsame und vor der Obrigkeit devote Welt wäre dem Papst noch mehr zu Füssen gelegen als es tatsächlich der Fall war. Erzählen lässt sich schließlich viel, auch das Blaue vom Himmel mit all seinen Jungfrauen. Und die Hölle, die gibt es immer noch. Aus dem Konzept gerissen erscheinen diese Methoden ziemlich lächerlich – gelingt es aber, den noch formbaren Geist eines jungen Menschen an den Angelhaken perfider Manipulation zu bekommen, wird es erst richtig gefährlich. Genau davon berichtet Mention-Schaar´s Film über die Krümmung des guten Willens und das Brechen junger Seelen.

Dabei erzählt Der Himmel wird warten zwei Geschichten, die erst am Ende das Missing Link zueinander sichtbar machen. Die ineinander verwobenen Episoden schildern detailliert die Radikalisierung eines französischen Teenagers in eine Islamistin, die sich nur zu gerne für einen Einsatz in Syrien rekrutieren lässt. Auf der anderen Seite sehen wir eine Metamorphose in die andere Richtung, von der Resozialisierung in ein normales Leben. Die Mechanismen, die für beide Richtungen jeweils angewandt werden, sind erstaunlich gut extrahiert. Blickt man in die Abgründe sowohl während der Befreiung aus einer verzerrten Realität als auch während der Vergiftung des Geistes durch den Fanatismus islamistischer Rattenfänger, lassen sich für einen Außenstehenden Warnsignale gut erkennen und abgrenzen. Für einen Gefangenen inmitten diffuser Wahrheiten, die nichts als Propaganda sind und als Fake News auf den ersten Blick logisch erscheinen mögen, ist die Abgrenzung vor dem „Bösen“ leichter gesagt als getan.

Der Himmel wird warten basiert lose auf dem Buch der Sozialpsychologin Dounia Bouzar (die auch im Film sich selbst spielt) und ist ein Pflichtprogramm für Schulen rund um den Erdball. Klar auch, dass dieses Lehrstück über Manipulation aus Frankreich kommt, hat dieses Land nicht genug Scherereien mit den scheinbar wahllos wie Metastasen aufpoppenden Terrorismus, der Stadt und Land in Angst und Schrecken versetzt hat. Doch nicht nur Frankreich, auch Österreich hat das eine oder andere Opfer vom Kreuzzug in den Nahen Osten abhalten können – manche wiederum nicht. Der vorliegende Film ist brisanter denn je, und so geradlinig und edukativ in seiner Szenenwahl, dass sich Schülerinnen und Schülern richtigen Alters die faschistoiden Mechanismen nicht nur im Moment, sondern auch merkbar für die Zukunft sonnenklar erschließen. Der Himmel wird Warten ist eine Präventivmaßnahme fürs Kino und für den Fernseher aus dem Lehrerzimmer. Ein Film, der gezeigt werden muss, gefährliches Denken im Ansatz ersticken kann oder gar nicht gleich aufkommen lässt. Anfang der Achtziger war es der semidokumentarische Sekten-Film Ticket to Heaven mit Kim Catrall und Saul Rubinek, der das Leben nach der Gehirnwäsche präzise schildert. Nicht zu vergessen Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Die schonungslose Drogenstory nach Tatsachen war zu meiner Schulzeit das Aufklärungskino schlechthin. Zwar manchmal notwendig reißerisch, dafür aber Mittel zum Zweck. So und nicht anders funktioniert das Medium Film, wenn es einen Bildungsauftrag erfüllen muss. Und dieser Auftrag besteht. Auch dafür muss Kino eine Plattform sein.

Der Himmel wird warten

Love, Simon

IMMER NOCH DER SELBE BLEIBEN

7/10

 

lovesimon© 2018 Twentieth Century Fox GmbH

 

LAND: USA 2018

REGIE: GREG BERLANTI

MIT NICK ROBINSON, KATHERINE LANGFORD, ALEXANDRA SHIP, JENNIFER GARNER, JOSH DUHAMEL U. A.

 

Erstaunlich, und eigentlich unerwartet, dass in Zeiten von Life Ball und Regenbogenparade das Thema eines Coming Out einen ganzen Film zu tragen vermag. Wie es aussieht, ist es längst noch nicht selbstverständlich, homosexuell zu sein. Dabei dacht ich, die gleichgeschlechtliche Liebe ist zum Glück nicht mehr etwas, das geheim gehalten werden muss. Angesichts der gegenwärtigen Situation können Defizite aber noch locker aufgeholt werden, und zwar insbesondere an den Schulen. Dort, wo alles, was nicht einer gewissen Norm entspricht, Gefahr läuft, entweder in geschäftiger Übertriebenheit verstanden oder abgelehnt zu werden. Schlimmstenfalls wird gemobbt, das ist dann die schädliche wie schändliche Lösung all jener, die mit dem Anderssein gar nicht umgehen können. Vielleicht, weil sie es auch selbst sind – nämlich anders. Und diesen Umstand niemals zugeben würden.

Simon ist also anders. Aber nur sexuell. Das wird ihm irgendwann bewusst, und irgendwann nimmt er seine Veranlagung auch als gegeben hin. Dass Homosexualität unbedingt abnorm sein muss, sei dahingestellt. Es gibt sie jedenfalls, und das nicht zu gering. Es muss in der Natur einen Grund dafür geben, den wir bislang aber noch nicht kennen. Damit steht das Phänomen nicht alleine da – die Evolution an sich ist ein ganzes Buch voller sauschwerer Sudoku-Rätsel, die keiner lösen kann. Lösen lässt sich nur der soziale Aspekt dieser Andersartigkeit – am Besten mit einem Outing. Erst noch anonym, aber auch nur, weil ein gewisser Blue sich getraut hat, seine Veranlagung publik zu machen. Simon tut das Gleiche, outet sich als Unbekannt – und findet in Boy X, soweit es online möglich ist, einen Vertrauten. Das wäre ja mal nur der halbe Film, gäbe es an amerikanischen Schulen wie dieser hier im Film nicht Kollegen, die Mr. Anonymus entlarven und Stillschweigen gegen Hilfeleistung in Sachen Liebe fordern. Das kann nicht gut gehen, das ist von vornherein schon klar. Irgendwann kommt es ans Licht – warum also nicht dem Erpresser den Wind aus den Segeln nehmen. Und warum nicht den innigsten Freundeskreis einweihen? Gut, da sollte Simon mal mit der eigenen Familie beginnen.

Homosexuell zu sein hat für einen Erwachsenen weniger weit reichende Konsequenzen als für einen Schuljungen. Dawsons Creek-Autor Greg Berlanti hat sich dieser Problematik mit sehr viel Fingerspitzengefühl angenommen und erreicht mit Love, Simon ein Level, dass in den Achtzigern John Hughes mit seinem Breakfast Club geschafft hat. Solche sozialpädagogisch enorm wertvollen Filme stehen und fallen mit der Auswahl seiner Schauspieler, welche die Rollen, die sie verkörpern müssen, auch ausreichend ernst nehmen. Das gelingt nicht, wenn das Star-Ego allem voran steht. Das gelingt, wenn die Figur nur für die Momente der Dreharbeiten wichtiger wird als die reale Person dahinter. Es geht darum, die Ängste, Sorgen und Bedürfnisse nachvollziehen zu können – nicht einfach nur darzustellen. Dazu braucht es einen Regisseur, der teamfähig ist, für eine gute Stimmung am Set sorgt und innerhalb dieser inszenatorischen Geborgenheit viel, wenn nicht alles, aus seinem Ensemble herausholt. Das ist Berlanti gelungen. Nick Robinson als Simon ist ein hin- und hergerissener, tougher und bildhübscher Zweifler, den nicht nur seine Freunde, sondern auch das Publikum schätzt und mag – genauso läuft es mit den anderen Jungdarstellern, die so spielen, als wären sie in ihrem echten Leben. Love, Simon ist aus einem Guss, eine fehlerlos runde Geschichte, jede Rolle respektiert die andere, jedes Outing und jeder Konflikt zu seiner Zeit, die noch dazu, wie es scheint, souverän gemanaged ist. Die einfühlsame Highschool-Tragikomödie überlässt nichts platten Attitüden, wirkt niemals lächerlich oder beschämend, ist aufrichtig, witzig und klug. In Zeiten wie diesen wäre der Breakkfast Club um einen Nachsitzenden reicher, eben vielleicht um Simon, der sich an diesem Samstagvormittag geoutet hätte.

Vielleicht ist Love, Simon in seiner stringenten Lösungsfindung zu glatt geraten. Dass sich im echten Leben all die gesellschaftlichen Knackpunkte längst nicht so vorhersehbar entwickeln, muss natürlich klar sein. Love, Simon ist da schon ein idealisierter Zustand, manchmal zu naiv im berechenbaren Verhalten der Schüler. Doch der Mensch ist im Geiste kein Naturgesetz. Etwas, was Love, Simon nicht weiß oder gar nicht wissen will – umso schöner daher, wenn das Erwachen sexueller Identität so schnörkellos lehrplanmäßig mit einem Selbstbewusstsein einhergeht, an welchem sich alle ein Beispiel nehmen können. Genau dafür ist Love, Simon schließlich da – Als Mutmach-Kino für die Generation Z.

Love, Simon

Lady Bird

FLÜGGE WERDEN IST NICHT SCHWER…

7,5/10

 

ladybird© 2017 Universal Pictures International Germany GmbH

 

LAND: USA 2017

DREHBUCH & REGIE: GRETA GERWIG

MIT SAOIRSE RONAN, LAURIE METCALF, TRACY LETTS, TIMOTHÉE CHALAMET, LUCAS HEDGES U. A.

 

Wie hätte doch Greta Gerwig diese Rolle gerne selbst gespielt. Doch die Zeit macht auch vor ihr nicht halt, der smarten Indie-Blondine, die mit dem Coming of Age-Drama Lady Bird auch erstmals ihren selbst verfassten Film inszeniert. Als Mittdreißigerin lässt sich eine 17jährige nur auf Kosten der Plausibilität darstellen. Doch talentierte Jungdarstellerinnen gibt’s in Übersee wie Sand am Meer, da braucht es nicht lange, um das Alter Ego Gerwig´s im Casting-Pool ausfindig zu machen. Die Wahl fiel auf die uns bereits aus vielen Filmen sehr bekannte Saoirse Ronan. Was war dieses Engagement doch für ein Glückstreffer. Die 24 Jahre junge Dame ist zwar auch längst kein Teenager mehr, doch ihr juveniles, zartes Äußeres lässt keine Sekunde lang daran zweifeln, dass wir es hier wirklich mit der moderat rebellischen Lady Bird zu tun haben, die sich um die Burg nicht mit ihrem Taufnamen ansprechen lassen will und ihr schulterlanges Haar in dunkelm Bordeaux-Rot vor sich her trägt. Statements unter der Gürtellinie unterstreichen nur ihren Drang, aus dem Rahmen zu fallen – und das an einer erzkatholischen Schule in Sacramento, wo man zwar als Nonnen- oder Priesterpersonal augenzwinkernd über so manche Kleinigkeit hinwegsieht – zu kurz getragene Röcke aber widerholt tadelt. Lady Bird will aber unbedingt aus dem Zwinger ihrer Geburtsstadt ausbrechen und an der Ostküste studieren. Koste es was es wolle wird es wohl nicht spielen – Papa ist arbeitslos und Mama schuftet in Doppelschichten als Krankenschwester ihre Bandscheiben wund. Der Adoptivbruder mitsamt Freundin macht einen auf Asozial und ist auf sein Schwesterherz erstmal auch nicht gut zu sprechen. Wo starke Charaktere aufeinandertreffen, können gut und gerne die Funken fliegen. So geraten auch Tochter Saoirse Ronan und Mutter Laurie Metcalf aneinander, während der brummige Papa Tracy Letts für Ausgleich sorgt und dabei den Vorwurf auf sich nimmt, als Weichei zu gelten. Und die erste Liebe – natürlich, die kommt klarerweise auch nicht zu kurz. Wie es sich für eine fiktionale Bio übers Erwachsenwerden so gehört.

Für die junge Irin ist die Nominierung als beste Darstellerin für den Oscar 2018 eine Ehre, die sie zu Recht verdient hat. Als quirlige, leicht ausgeflippte und tragikomische Gestalt der Lady Bird, die sowohl in ihrem provozierenden Trotz, ihrer naiven Selbstüberschätzung und ihren melancholisch-nüchternen Phasen der Erkenntnis zu sich und zu ihrem bevorstehenden selbstständigen Leben findet, gibt die erstaunlich expressive Ronan so gut wie alles, wenn nicht mehr. Mag sein, dass sie mit ihren eigenen Erfahrungen improvisiert. Genauso wie Greta Gerwig, die tatsächlich auch aus Sacramento stammt. Womöglich handelt es sich bei ihrem Regiedebüt um eine autobiographische Reise in die eigenen Jugendjahre? Der Verdacht drängt sich förmlich auf, bestätigt sich aber einigen Recherchen im Internet zufolge nicht. Gerwig betont in einem Interview mit der André Wesche von der Freien Presse, Lady Bird sei alles andere als ihr früheres Selbst, eigentlich genau das Gegenteil. Die junge Christine McPherson denkt, tut und entscheidet, wie Greta Gerwig wohl gerne gedacht, getan oder entschieden hätte. Die einzige Gemeinsamkeit sei Sacramento, alles andere fiktional. Aber immerhin ist ihre Protagonistin sehr wohl mit der Autorin verbunden, das erkennt man alleine schon an ihrem Auftreten. Kameramann Sam Levy setzt dabei das leise Erwachen zur jungen Frau in grobkörnige, unprätentiöse, sehr private Bilder. Die begnadete Laurie Metcalf als hin und hergerissene, überarbeitete, aber bedingungslos liebende Mutter verleiht dem Marienkäfer im Funkenflug des Flüggewerdens jene ernüchternde Bodenständigkeit, den eigentlich jeder junge ehrgeizige Mensch benötigt, um nicht orientierungslos durch die Untiefen eines leistungsorientierten Alltags zu mäandern. wenn die beiden, Ronan und Matcalf, ihre gemeinsamen Auftritte haben, genießt Lady Bird seine darstellerischen Höhepunkte. Überhaupt gehen die Szenen Greta Gerwig ungemein natürlich und ungekünstelt von der Hand. Da reiht sich die illustre Runde empathischer Nebendarsteller wie Lucas Hedges und Renaissance-Gesicht Timothée Chalamet (Call be my your Name) im harmonischen Zusammenspiel nahtlos ins Ensemble ein.

Lady Bird ist schon ein bisschen etwas anderes als reines Mumblecore-Kino, in dem es vorwiegend um Befindlichkeiten, Ansichten und Beziehungen gebildeter Lebenskünstler geht. Nicht zu vergessen ist hier der raumfüllende Aspekt der Familie, der im Mumblecore-Genre eher vernachlässigt wird. In Lady Bird sind die familiären Wurzeln enorm wichtig, ungefähr genauso tragend wie der Prozess des Entwurzelns unseres lebenshungrigen und neugierigen Freigeistes. Lady Bird ist erfrischend ungeschminkt, lebensnah und mitreißend, erinnert stellenweise an Richard Linklater´s Kindheits-Epos Boyhood und schenkt dem Kinogeher nicht weniger Einblicke in die Gefühls- und Erlebenswelt einer Episode der Reifung, die wie kaum eine andere Zelte abbricht und woanders neu aufbaut.

Lady Bird