Mignonnes

DIE NEUEN VERFÜHRTEN

8/10


mignonnes© 2020 Netflix


LAND: FRANKREICH 2019

REGIE: MAÏMOUNA DOUCOURÉ

CAST: FATHIA YOUSSOUF, MEDINA EL AIDI, ESTHER GOHOUROU, ILANAH, MYRIAM HAMMA, MAÏMOUNA GUEYE U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


So jung und schon bauchfrei und in Hot Pants? Dabei sind diese Mädchen lange noch nicht volljährig. Wer die soziale Entwicklung der Kindheit in den letzten Jahrzehnten nicht vollständig und bewusst ignoriert hat, der wird sich dabei nicht groß wundern. Spätestens in der Grundschulzeit trifft der Nachwuchs auf die magischen Features von Social Media. Zwecks Erreichbarkeit und auch zwecks Sicherheit haben nun alle Kids entsprechend ausgerüstete Handys. Sorgsame Eltern versehen dieses mit elterlichem Schutz, alle anderen, die aus Zeit- und Nervengründen froh sind, dass sich Mädel und Bub still beschäftigen, lassen die Next Generation schalten und walten.

Was es da alles gibt – und von wem zum Beispiel junge Mädchen da abgeholt werden! Influencer für die ganz Kleinen, Casting-Shows, Talente-Gigs noch und nöcher. So manches Display-Idol opfert täglich seine Zeit, um der Coming of Age-Zielgruppe zu zeigen, was junge Frauen tragen und wie sie sich schminken sollen. Klar, dass sich sowas durch den Freundeskreis zieht, und die eine will schöner und koketter sein als die andere. Begleitend dabei: die viel früher einsetzende Pubertät der Mädchen. Das war vor Jahrzehnten noch anders. Ernährung, äußere Einflüsse, alles spielt hier eine Rolle. Diese Mädchen hier, sie wollen die Starlets von morgen sein, und das am besten gestern. Außerdem: Sex sells! Diese leicht umsetzbare Taktik wird natürlich genutzt, denn diese Kids, die sind ja nicht dumm. Nabokovs Lolita war das auch nicht. Wobei: dieser Tendenz folgen bei weitem nicht alle, aber immerhin ein nicht übersehbarer Prozentsatz. So wie diese vier Cuties oder Mignonnes, wie sich das auf Netflix veröffentlichte, zu Recht auf dem Sundance Filmfestival ausgezeichnete Filmdrama nennt.

Die Süßen also, das sind Schülerinnen teils mit Migrationshintergrund, die bereits voll ins Social Media-Geschehen von Instagram, Tiktok und Co eingebunden sind, mangels gezielter elterlicher Tutorials natürlich alles posten, was ihnen in den Sinn kommt und so sein wollen wie all die Schönen, die tagtäglich vorgeben, was sich lohnt, schon als Kind im Leben zu erreichen. Eines dieser Ziele ist ein Choreographie-Tanzwettbewerb, den die vier Elfjährigen unbedingt gewinnen wollen und praktisch alles dafür tun würden, um gemocht und gewählt zu werden. Sehr zum Leidwesen traditioneller Elternhäuser wie jenes von Muslimin Amy, die sich eigentlich auf die Hochzeit ihres Vaters mit seiner Zweitfrau vorbereiten sollte.

Was sich Netflix mit Mignonnes eingetreten hat, das ist wieder mal ein werbewirksamer Skandal mit der notwendigen Publicity für eine Produktion, die ohne Empörung womöglich zu Unrecht in den Archiven des Streamingriesen verschwunden wäre. Zu Unrecht auch dieses Pharisäertum, dass zum Boykott von Netflix und was weiß ich noch aufgerufen hat. Warum? Mignonnes hypersexualisiere minderjährige Mädchen und fröne unter anderem dem Voyeurismus. Nichts davon, so finde ich, hat Regisseurin Maïmouna Doucouré im Sinn, und keiner dieser Vorwürfe ist gerechtfertigt.

Bizarres Detail am Rande: Mignonnes ist einer dieser Filme, die – so wie The Hunt oder The Promise – geächtet worden sind, bevor sie überhaupt gesichtet wurden. Denn würde man dies tun, würde man klar sehen, worum es in Mignonnes überhaupt geht. Da reicht schon ein provokantes Filmplakat, um Moralapostel auf die Barrikaden zu holen. Doch vielleicht hatte Doucouré aber genau das im Sinn: all die Bigotterie vorzuführen, während das Wesentliche absichtlich übersehen wird: das Zeitalter eines medialen neuen Mittelalters zwischen militanten Religionen, heilig wie eilig erhobenem Zeigefinger und grenzenlosem Konzern-Lobbyismus, der die Quellen aller Smartphone-Apps nutzt, um eine konsumorientierte Showgesellschaft zu formen. Das, genau das steht im Zentrum dieses Films, der die Zerrissenheit seiner jungen Menschen auf Augenhöhe und mit aufklärerischer, aber zeitgleich objektiver Konzentration auf den Punkt bringt.

Mignonnes, das ist ein erhellendes, berührendes kleines Meisterwerk.

Mignonnes

The Hunt

BEAT THE RICH

7/10

 

THE HUNT© 2020 UNIVERSAL STUDIOS All Rights Reserved.

 

LAND: USA 2020

REGIE: CRAIG ZOBEL

CAST: BETTY GILPIN, HILARY SWANK, EMMA ROBERTS, ETHAN SUPLEE, JUSTIN HARTLEY, AMY MADIGAN U. A.

 

Sowas aber auch! Da hat sich Präsident Trump ja dermaßen auf den Schlips getreten gefühlt – und mit ihm die ganzen MAGAs, die so große Stücke auf den ersten Mann im Staate halten, der sich oft wiederholt, vieles vage formuliert und sich kaum auf Expertisen verlässt. Braucht er nicht, er ist ein politisches Wunder und vielem erhaben. Allerdings – kränken lässt er sich trotzdem. Und ein Skandal ist schnell gemacht. Von Obamagate fehlt nicht mehr viel zum Hunt-Gate – oder: Willkommen zur fröhlichen Schubladisierung der eigenen Klientel! Blumhouse hat sich mit seiner Thrillersatire The Hunt keinen Gefallen getan – oder aber auch jeden nur erdenklichen. Denn nichts macht einen Film interessanter als ein Skandal, als die Empörung über ihn. Und das noch dazu im Vorfeld, ähnlich wie bei Terry Georges Armenier-Epos The Promise. Kaum einer dieser Ankläger hat den Film je gesehen, doch wettern lässt sich über Kolportiertes natürlich sehr leicht. Es ist wie stille Post: wenn´s von einem Ohr zum anderen wandert, werden die infamen Frechheiten in solchen Filmen immer dreister. Wobei ich mir ernsthaft die Frage stelle: weswegen?

Weil das Häufchen Menschen, die sich, entführt und geknebelt, in einem Wäldchen wiederfinden, um von Unbekannten wie in die Luft geworfene Tauben abgeknallt zu werden, aus Stereotypen besteht, die dem Spektrum Trump-Wähler zuzuordnen sind? Hut ab vor denen, die das rauslesen konnten. Ich hab´s jedenfalls nicht erkannt, dafür segnen gut zwei Drittel aller Kandidaten viel zu rasch das Zeitliche, um überhaupt sagen zu können, welche politische Gesinnung die hätten. Alles was zählt ist anscheinend die Statistik. Aber gut – immerhin dürften es Leute sein, die dem Establishment auf ihre Art den Rücken kehren und kaum so leben wie die Reichen, Schönen und Vielbeschäftigten. Im Gegenteil – diese Reichen, Schönen und Vielbeschäftigten, diese CEOS und Stakeholders und sonstigen Kapazunder, die standen bei manch einem zum Freiwild erklärten armen Teufel auf dem Kieker. Aus genervtem Augenrollen wird bitterer Ernst. und die Damen und Herren im Anzug, die nicht wissen wohin mit dem ganzen Geld, blasen zum Halali. Die Trefferquote ist hoch – und unschön für die Auserwählten. Das Blut spritzt, eine Prise Gore darf auch noch sein. Nichts für Zartbesaitete, doch längst keine Challenge für Hartgesottene.

Was sich anfühlt wie ein zynischer Mix aus Surviving the Game und Natural Born Killers, bekommt erst seinen unberechenbaren Topspin mit dem Auftreten einer der wohl coolsten Bräute seit Uma Thurman in Kill Bill: Betty Gilpin. Spätestens dann wird The Hunt zu ihrer ganz eigenen Showbühne. Die Dame weiß, wie Mimik sonst noch geht, wie gegen die Norm gebürstet man in Anbetracht solch verqueren Ereignissen ein gewisses Quantum an Radikalvernunft bewahrt. Und wie ein verkaterter Montag-Morgen, an welchem einem am Besten niemand in die Quere kommen sollte, zur schlafwandlerischen Trotzphase wird. Gilpin checkt sehr bald, was Sache ist – und verbiegt die Regeln des Spiels. Wobei, wie schon die Macher des Films betonten, hier gern gedroschene Phrasen sowohl von der Elite als auch vom nörgelnden Durchschnittsbürger wie Blindgänger durch die Botanik brechen. Ernsthafte Kritik an wen auch immer ist das keine, vielleicht auch, weil Medien kaum eine Rolle spielen, die aber als allseits bekannte vierte Macht noch mehr zu sagen hätten als nur auf Social Media die Kampfarena hochzufahren. Dafür will The Hunt viel zu gerne einfach nur ein Actionthriller sein, der die Verachtung des jeweils anderen schürt.

Ob George Orwells Schweinchen namens Schneeball oder das Gleichnis vom Hasen und der Schildkröte – Regisseur Craig Zobel will einen scheinbar determinierten Algorithmus im Klassenkampf unterwandern: sozialphilosophisch wird The Hunt jedoch nie werden, dafür aber ist er so gut wie das wutschnaubende Kopfschütteln über populistische Aufmacher einer Boulevardzeitung. Betty Gilpin als zynische Aktivistin wieder Willen ist dann jene, die vom Pöbel bis zum arroganten Charakterschwein all die Schmierblätter zerknüllt und in die Tonne kickt. Das wiederum hat Klasse.

The Hunt

Die Erfindung der Wahrheit

LOBBYISMUS AUF SPEED

7,5/10

 

erfindungderwahrheit© 2016 Universum Film

 

ORIGINALTITEL: MISS SLOANE

LAND: USA 2016

REGIE: JOHN MADDEN

CAST: JESSICA CHASTAIN, MARK STRONG, GUGU MBATHA-RAW, SAM WATERSTON, ALISON PILL, JOHN LITHGOW, MICHAEL STUHLBARG U. A.

 

Wie bitte? Könnten Sie das nochmal wiederholen, einfach zum Mitschreiben? Wenn der Film beginnt, und Miss Sloane – so der Originaltitel desselbigen – im Stechschritt die Büroräume stürmt, fährt das noch frühstücksmüde Tagesgeschäft von Null auf Hundert, brechen Worte sintflutartig über modernes Büromöbel-Interieur und all die Glasfassaden sämtlicher Meetingrooms rutschen aus dem Fensterkitt. Mittendrin Jessica Chastain, tough wie Wonder Woman, hartgesotten wie jemand der nichts mehr zu verlieren hat, wenn man so will der Chuck Norris unter den Lobbyisten. Was hier in den ersten Minuten an Dialog fällt, fällt in manchen Filmen die ganze Laufzeit nicht – das erinnert an die Filme David Mamets. Da wie dort reicht es nicht, nur zuzuhören, da muss das Hirn auch gleich mit, und es kann leicht sein, dass man hinterherhinkt, Gesagtes erst sickern muss, während Miss Sloane schon ganz woanders ist und über Taktiken philosophiert, die unsereins erst in den Kontext bringen muss.

Fasziniert von diesem Charisma und dieser überheblichen Klugheit, stellt sich nach dem Downflow der Emotionen die Frage: Wer ist diese rothaarige Lady, die im perfekt sitzenden Damenanzug niemandem auf Augenhöhe begegnet? Die über allen Dingen steht, alles im Griff hat und ihr Fußvolk herumdirigiert wie ein Wahlkampfmanager, dessen Partei viel zu verlieren hat. Ist sie so jemand wie Miranda Priestly aus Der Teufel trägt Prada, die Meryl Streep so menschenverachtend gut interpretiert hat? Nein, dafür ist sie viel zu hemdsärmelig. Miss Sloane packt an wo andere loslassen. Delegiert eigentlich nicht, sondern, wenn man so will, reitet an vorderster Front dem Feind entgegen. Und gewinnt Kriege, die unmöglich scheinen.

Eine Art Krieg ist der Lobbyismus allerdings schon, ein Krieg um Stimmen und Meinungen, bei denen, die etwas zu sagen haben im Land. Ein Anbiedern, Überreden und Manipulieren, und das in großem Stil. Und dabei kann es im Eifer des Gefechts vorkommen, dass manche mit unlauteren Mitteln arbeiten. Denn worum geht es also? Um die Etablierung von Macht, um das Exekutieren von Interessen. Unterm Strich: Illusionskunst auf politischer Bühne. Miss Sloane eignet sich für so etwas am Besten, und am Besten für Miss Sloane eignet sich Jessica Chastain. Die Schauspielerin hatte schon Osama bin Laden im Sucher (Zero Dark Thirty), und als Glücksspiel-Queen sämtliche Millionen im Sack (Molly´s Game). Chastain ist niemand zum Kuscheln, sie ist die eiserne Lady Hollywoods. Apart in jeder Hinsicht, auf keinen Fall sympathisch, aber in ihrem resoluten Auftreten auf sinnliche Weise faszinierend. Anlegen würde ich mich nicht mit ihr, ihr Intellekt zwingt jeden Widersacher in die Knie. Und ich wäre hier nicht mal ansatzweise ein solcher.

John Madden, seinerzeit hoch gelobt für die barocke Romanze Shakespeare in Love (meines Erachtens völlig überbewertet), lässt seine forsche heilige Johanna in zermürbender Eloquenz das Banner hissen. Das so ein Alltag auf Speed dauerhaft der Gesundheit schadet, weiß die Rhetorik-Queen zumindest rein theoretisch, doch für Theorie ist kein Platz in diesem Leben, das so einsam ist wie eine Marsmission, das statt einer Biographie nur beruflichen Lebenslauf kennt und schon gar kein soziales Umfeld. Die großen Momente dieses faszinierenden Politdramas finden sich daher weniger in den taktischen Methoden, mit denen sich Lobbyisten an den Kragen gehen, sondern im Porträt einer Besessenen, die die Sucht nach Erfolg und Effizienz an moralische Grenzen bringt. Das ist eine famose One-Woman-Show, ein Schachspiel, bei dem eine Menge Bauern das Feld räumen müssen, und die Königin in einem Zug ans andere Ende prescht. Miss Sloane ist so akkurat und berechnend wie die stärkste Figur in so einem Spiel, und läuft stets Gefahr, besiegt zu werden, solange sie nicht die Züge des Gegners voraussieht. Das fordert, und wenn zwischen all der ZackZackZack-Methodik Chastains Blick vor Erschöpfung ins Leere geht, in sich gekehrt und verharrend, und das nur für einen verschwindenden Moment, den sonst niemand merkt, dann hat dieser Charakter etwas bemitleidenswert Menschliches, aber auch Bewundernswertes angesichts dieser durchgetakteten, zielorientierten Lebenskunst.

Die Erfindung der Wahrheit