CODA

ZEICHEN SETZEN FÜR DIE ZUKUNFT

8/10


coda© 2021 Apple Studios


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: SIÂN HEDER

CAST: EMILIA JONES, MARLEE MATLIN, TROY KOTSUR, DANIEL DURANT, FERDIA WALSH-PEELO, EUGENIO DERBEZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Verstehen sie die Béliers? Nein, natürlich nicht. Gebärdensprache habe ich nie gelernt – bislang gabs auch noch keine Notwendigkeit dafür. Die Béliers verstehen mich aber  auch nur, wenn sie Lippen lesen können und ich meine gewählten Wörter deutlich ausformuliere. Die Béliers sind allesamt gehörlos – Vater, Mutter, Sohn. Nur die Tochter nicht. Solche Kinder nennt man CODA – was so viel heißt wie Children Of Deaf Adults. Der Prozentsatz tauber Eltern, die hörende Kinder in die Welt setzen, ist erstaunlich hoch. Dem Kinderschutz München zufolge sind dies bis zu 90%, die anderen 10& sind dann Deaf CODAS. So viel also zum Titel des Remakes einer französischen Tragikomödie aus dem Jahr 2014 mit Francois Damiens in der Rolle des gehörlosen Vaters. In diesem Film hier ist die Ausgangslage etwas anders – der folgende Plot allerdings der gleiche. Prinzipiell habe ich mit Remakes so meine Probleme, da ich jene, die auf einem bereits vorzüglich gelungenen Original basieren, nicht mehr für notwendig erachte. CODA hätte ich mir in nächster Zeit womöglich nicht angesehen, wäre der auf Apple+ erschienene Film von Siân Heder (Tallulah – zu sehen auf Netflix) nicht für den Oscar als bester Film nominiert worden. Ich will natürlich nicht, dass Preise oder die Aussicht auf selbige meine Watchlist beeinflussen, aber das tun sie. Sehr sogar. Muss ich mich dagegen wehren? Sollte ich nicht. Denn jene, die nominieren und auszeichnen, wissen auch ganz genau, warum. Das erkennt man dann an den Filmen. An diesen ist meist was dran. Etwas ganz Besonderes, Ungewöhnliches. Manchmal auch nicht, aber da Filme oft subjektiv zu werten sind – was soll‘s. Bei CODA allerdings hat die Jury schon absolut richtig gelegen. Trotz meiner Voreingenommenheit hat mich die US-Version der europäischen Komödie tatsächlich noch mehr überzeugt als das Original. CODA ist ein Film, der alles andere als Trübsal bläst. Der mitreißt und positiv bewegt. Womöglich das beste Feel Good Movie der letzten Zeit, was auch an der Musik liegt.

Statt eines Bauernhofs in Frankreich hat Siân Heder ihre Version des Stoffes autobiografisch gefärbt und die Szenerie ins ostamerikanische Gloucester verlegt. Die durch und durch natürlich agierende Schauspielerin Emilia Jones (u. a. Locke & Key) spielt Ruby Rossi, jüngster und hörender Spross einer Fischerfamilie, die jeden Morgen auf den Atlantik rausfährt, und das nur tun kann, weil Ruby mit von der Partie ist, denn irgendwer muss schließlich den Funk überwachen und auf akustische Signale der Küstenwache reagieren. Doch Ruby schwebt für ihr Leben was ganz anderes vor. Sie will singen. Zum Glück gibt’s an der Schule das Freifach Chor. Gesanglehrer Mr. V ist von Rubys Stimme angetan, schlägt ihr gar die Bewerbung an der Musikschule Berkelee in Boston vor. Die Eltern, vorrangig Mama Marlee Matlin (erster Oscar an eine gehörlose Schauspielerin für Gottes vergessene Kinder), halten nicht viel davon. Einfach, weil sie davon auch nicht viel mitnehmen können. Gesang, Musik – was ist das? Ruby ist jedoch nicht auf der Welt, um das Leben ihrer Eltern zu leben, sondern ihr eigenes. Mit Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft. Selbstbestimmung ist das Wort. Das muss auch ihre Familie hinbekommen, ohne dabei andere, die vielleicht etwas anderes wollen, zu vereinnahmen.

Ganz ehrlich – ob Béliers oder CODA – die entworfene Coming of Age-Story über Freiheit, Erwachsenwerden und jugendlicher Verantwortung ist ein großartiges Stück Familiensache. Womöglich lässt sich der Stoff gar ein drittes Mal verfilmen, so viel Potenzial hat der Konflikt zwischen familiärer Abhängigkeit und Flüggewerden. Die Frage nach der Schuldigkeit des Nachwuchses den Eltern gegenüber wird durch das Handicap der Gehörlosigkeit fast schon auf ein metaphorisches Gleichnis gehoben, während die Behinderung selbst gar nicht mal so den inhaltlichen Kern der Geschichte ausmacht. Ungewohnt für Außenstehende ist es aber allemal, einem Alltag wie diesen über die Schulter zu sehen. Wenn Ruby dann versucht, den Song für ihre Bewerbung auch in Zeichensprache zu untertiteln, dann ist das Beweis genug für eine nachhaltige Zuneigung für jene, die schweren Herzens, aber doch, ihren Sonnenschein von Tochter freigeben müssen. Wenn Papa Troy Kotzur (nominiert für den Oscar als bester Nebendarsteller) wiederum versucht, den Gesang seiner Tochter wahrzunehmen, indem er die Vibrationen an ihrem Hals erspürt, ist das die Liebe, die Eltern ihren Kindern – ungeachtet ihrer Wünsche – entgegenbringen sollten.

CODA

Sound of Metal

WIE ES KLINGT WENN NICHTS MEHR KLINGT

6,5/10


sound-of-metal© 2020 Amazon Studios

LAND: USA 2019

REGIE: DARIUS MARDER

CAST: RIZ AHMED, OLIVIA COOKE, PAUL RACI, MATHIEU AMALRIC, LAUREN RIDLOFF U. A. 

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Eben noch voll ins Schlagzeug gedroschen, dann plötzlich ein Summen, ein Sausen – und dann nichts mehr. Oder fast nichts mehr. Brummelnde Töne, wie die Stereoanlage oder Stimmen aus der Nachbarwohnung, wenn sich die Partei nicht mehr einkriegt. Musiker Riz Ahmed (bekannt aus Four Lions, Star Wars – Rogue One oder Venom) hat als Ex-Junkie Ruben sein Leben in den Griff bekommen, auch dank Musikerin Lou, die mit ihm gemeinsam in einem Wohnmobil durch die Provinz tingelt und als Duo Blackgammon umjubelte Gigs hinlegt. Zugegeben, die Musik ist gewöhnungsbedürftig, aber die Fangemeinde hartnäckig. Das ändert sich eben, als Ruben plötzlich nichts mehr hören kann. Er probiert, den richtigen Einsatz für seine Arbeit durch Vibrationen zu erkennen. Das kann auf die Dauer aber nicht gutgehen, da aus ärztlicher Sicht jeder noch so laute Ton vermieden werden soll. Lou begleitet Ruben in ein Selbsthilfecamp, um mit der neuen Behinderung, die laut Gruppenleiter Joe eben keine Behinderung sein muss, klarzukommen. Da ihm hier, auf dieser Range und in dieser Einschicht, auch der Kontakt zu seiner Geliebten genommen wird, entschließt sich der Künstler, alles aufs Spiel zu setzen und sein Gehör wiederzuerlangen. Koste es was es wolle.

Regisseur und Drehbuchautor Darius Marder (u. a. mitgeschrieben am Skript zu The Place Beyond the Pines) entwirft die sehr persönliche, sehr subjektive Chronik einer irreversiblen Erkrankung, vermengt dies nur peripher mit einer Liebesgeschichte und setzt eigentlich alles auf Hauptdarsteller Riz Ahmed, der für diese Art von Rolle wohl sehr viel Vorbereitungszeit investiert haben muss. Es einfach so draufzuhaben, darzustellen, wie es ist, nichts mehr zu hören, das musste die gehörlose Schauspielerin Marlee Matlin seinerzeit für Gottes vergessene Kinder nicht groß üben. Ahmed hingegen dürfte der Zustand ziemlich erschreckt haben – ähnlich von der Rolle legt er auch seine Figur an, die am Ende eines erst in Ansätzen gelebten Traums steht. Allein mit dem Sound steht und fällt aber dieser Plan. Ich als Grafiker – oder überhaupt als Filmfan – könnte mir zum Beispiel genauso wenig vorstellen, das Augenlicht zu verlieren. Egal also, welcher menschliche Sinn es auch sein mag. Einer davon weniger, und das Weltbild gerät ins Wanken. Ahmed schafft es, diesen chaotischen Zustand des inneren Umbruchs erkennbar werden zu lassen. Olivia Cooke als Sängerin und Geliebte ebenso – ihre Unsicherheit in Bezug auf ihre eigenen Prioritäten im Leben zeigt sie mit unruhigen, mitleidigen Blicken – mitsamt aus der Mimik lesbare Gedanken, die ihre eigene Karriere genauso wichtig nehmen wie das Schicksal des Partners.

Besonders innovativ ist auch die Klangwelt von Sound of Metal, vom dumpfen Dröhnen, von undeutlichem Gemurmel bis zu Krächzen und Scharren bekommt der Zuseher zu hören, was Ruben hört – oder eben nicht hört. Dadurch erhält das Drama auch eine starke, akustische Metaebene der Geschichte. Durchsetzt wird das Ganze von einem ausgewogenen Score und eingängigen Musiknummern. Unterm Strich: ein konventioneller, aber tontechnisch innovativer Streifen, ein sehnsüchtiges Farewell an das Wunder des Hörens und gleichsam auch eine spannende Neuentdeckung der Stille.

Sound of Metal