The Holdovers (2023)

EIN WEIHNACHTSFILM FÜRS GANZE JAHR

9/10


holdovers© 2023 Focus Features LLC. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: ALEXANDER PAYNE

DREHBUCH: DAVID HEMINGSON

CAST: PAUL GIAMATTI, DOMINIC SESSA, DA’VINE JOY RANDOLPH, CARRIE PRESTON, BRADY HEPNER, IAN DOLLEY, JIM KAPLAN, ANDREW GARMAN, STEPHEN THORNE U. A.

LÄNGE: 2 STD 13 MIN


Er ist die Antithese zu Robin Williams im uns allen bekannten Club der toten Dichter. Er ist zwar nicht ganz so ein militanter Glamour-Misanthrop wie seinerzeit Jack Nicholson in Besser geht’s nicht, doch mit seinem despektierlichen Zynismus gegenüber seinen Schülern hält er nicht hinterm Pult. Kann sein, dass auch der Direktor der sogenannten Benton-High School aus seiner Sicht nicht gut wegkommt, denn der ist schließlich der größte Arsch. Das wusste er bereits, als dieser noch unter seinen Fittichen weilte. Dieser Jemand ist Paul Hunham, ein Underdog und leidenschaftlicher Geschichte-Nerd unter dem Herrn, mit Traumziel Karthago und schließlich die gesamte antike Welt. Hunham schielt, trägt vorgestrige Kleidung, rezitiert alte Lateiner und motzt herum, wo es nur geht. Verständnis hat er immerhin für Schulköchin Mary, die ihren Sohn in Vietnam verlor. The Holdovers spielt in den Siebzigerjahren, das Weihnachtsfest steht vor der Tür, in Neuengland ist alles tief verschneit, wie es sich eben gehört für einen Weihnachtsfilm, der bei genauerer Betrachtung eigentlich keiner ist. Der zwar die für manche schönste Zeit des Jahres als Katalysator für Emotionen nutzt, der aber weit mehr zu sagen hat als nur, sich unterm Christbaum die Hände zu reichen.

The Holdovers sind jene, die übrigbleiben. Der Rest der ganzen Schule macht Ferien irgendwo bei den Familien und Freunden, nur nicht am Campus. Dort hat Paul nun seine Daseins- und Aufsichtspflicht zu erfüllen, gemeinsam mit Mary, die eigentlich wegkönnte, es aber nicht will, da sie ihren Sohn zum letzten Mal hier gesehen hat. Auch einige Schüler haben den Kürzeren gezogen, darunter der 15jährige Angus, der ebenso wie Paul auf niemanden wirklich gut zu sprechen ist und feststellen muss, dass dessen Mama viel lieber mit der Familie ihres Neuen herumhängen will als mit dem Sohnemann. Letztendlich sitzen die drei am Abstellgleis, so, als würden sie nachsitzen. Ein Breakfast-Club der besonderen Art, zwei Wochen zusammen, zwei Wochen Konflikte und das Aneinanderreiben sturer Persönlichkeiten mit dem Potenzial für große Eskalationen. Alexander Payne, bekannt für sein ausgesprochen fein justiertes Radar, was zwischenmenschliche Bockigkeiten betrifft (u. a. About Schmidt, The Descendants oder Nebraska) bringt ein begnadetes Ensemble zusammen, das mindestens so gut ist wie Nicholson und Helen Hunt, oder eben Judd Nelson, Molly Ringwald und Emilio Estevez. Diese drei, die da notgedrungen auf einer einsamen Insel inmitten unwirtlicher Feiertagslaune gefangen sind, müssen nicht zwingend einen Seelenstriptease hinlegen, das wäre zu offensichtlich und auch zu gewollt. Sie bleiben schließlich, was sie sind, und ändern sich nicht. Entdecken aber Verschüttetes in ihnen selbst, das an die Oberfläche kommen will. Und da gelingt Paul Giamatti wohl die Charakterisierung eines Mannes, den man einerseits so kurios findet wie einen Paradekomiker, der schimpft wie ein Rohrspatz und die Wortpeitsche schwingt, den man aber trotz seinen strengen Fischgeruchs (wie manche sagen) unbedingt in die Arme nehmen will. Giamatti verkörpert die Tragikomik so nuanciert und mit Bravour, dass man diesen Menschen am Ende gar nicht mehr seiner Wege ziehen lassen will. Dieser Paul Hunham, den schließt man ins Herz. Und ebenso Mary. Ihre traurige Lethargie, ihr kaum unterdrückbarer mütterlicher Instinkt und permanentes Understatement bietet unabsichtliche Geborgenheit für Giamattis Ego – und nicht zuletzt der bockige Teenie (der viel älter aussieht, als er sein sollte, aber dass ist egal) wird zum liebgewonnenen Schützling wider Willen.

Hier passiert Menschlichkeit und Wärme wie die chemische Reaktion auf natürliche Umstände. The Holdovers ist ein Herzwärmer für alle Tage, vor allem einer für die kalten. Und die Kälte mag da nicht nur wetterbedingt sein. Soziale Interaktion, Zuhören und gegenseitige Verantwortung können leicht zum pathetischen Lehrstück werden – bei Alexander Payne jedoch ist das niemals der Fall. Wo Scham das Annähern vielleicht ausbremst, sind gerade der Trotz, das Selbstmitleid und die Kampfeslust gegenüber einem ignoranten sozialen Umfeld genau das Richtige, um über den eigenen Schatten zu springen. Das ist menschliche Höchstleistung, in einem Film, der als wohltuendes Meisterwerk zu bezeichnen ist. Seit Green Book gab’s sowas nicht mehr.

The Holdovers (2023)

Der Pfad (2022)

DIE ZUVERSICHT JUNGER UNBEUGSAMER

6/10


derpfad© 2022 Warner Bros. Deutschland


LAND / JAHR: DEUTSCHLAND, SPANIEN 2022

REGIE: TOBIAS WIEMANN

BUCH: RÜDIGER BERTRAM, JYETTE-MERLE BÖHRNSEN

CAST: JULIUS WECKAUF, NONNA CARDONER, VOLKER BRUCH, JYETTE-MERLE BÖHRNSEN, LUCAS PRISOR, BRUNA CUSÍ, ANNA MARIA MÜHE U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Älteren Kindern und Jugendlichen die verheerende Zeit des Nazi-Regimes näherzubringen, ist eine noble und auch äußerst wichtige Sache, welche das Kino der Gegenwart als seine Pflicht ansieht, hier ab und an auch den belehrenden und erkenntnisfördernden Part zu übernehmen. Vor vier Jahren flimmerte die Verfilmung des Buches Als Hitler das rosa Kaninchen stahl ebenfalls schon über die Leinwand – und ja, solide inszeniert und in gewissem Maße schonend für jugendliche Gemüter hat Caroline Link hier das Drama von Flucht, permanenter Angst und Heimatverlust auf ein vernünftiges Maß an Intensität heruntergebrochen. Verständlich, nachvollziehbar, für Kinder das Abenteuer eines Ausnahmezustandes, der Stress verursacht.

Der Pfad von Tobias Wiemann (u. a. Amelie rennt) ist ebenfalls so ein Film, gemacht für Jugendliche, gefällig in seinem Drama und auffallend gnadenlos hinsichtlich einer omnipräsenten Bedrohung, die den beiden Kindern gefühlt aus allen Richtungen auf die Pelle rückt. Sehr bald auf sich allein gestellt, müssen sie einen Zustand meistern, den man normalerweise nur aus Fantasyromanen kennt, und dort ist es das Abenteuer des Guten gegen das Böse, mit offensichtlichem Erfolg für ersteres, denn wir leben in einer Welt der Moral in Märchen und Fiktion. Die Realität, die Geschichte Europas, sieht natürlich anders aus. Und so mag das Abenteuer stellvertretend für Gräuel stehen, die nicht mal noch Halbwüchsigen nicht nur die Familie, sondern auch das Leben entreißen will. Dagegen stemmt sich Rolf (Julius Weckauf, großer Durchbruch mit Der Junge muss an die frische Luft – und zwar zu Recht) mit seinem Vater Ludwig (Volker Bruch, Kommissar Gideon Rath aus Babylon Berlin), der als kritischer Journalist Anfang der Vierzigerjahre auf die Abschussliste gerät. Bis nach Paris und dann nach Marseille haben sich beide durchgeschlagen, jetzt heißt es noch über die Pyrenäen und dann an die Küste, wo ein Flüchtlingsschiff wartet und beide in die USA bringen soll, wo bereits die Mutter wartet. Im Rucksack hat Rolf stets ein Buch Erich Kästners: Der 35. Mai. Eine Geschichte, in der alles möglich und auf den Kopf gestellt scheint – in Zeiten wie diesen ein trostspendender, mentaler Support. Mithilfe von Nuria, einer ortsansässigen Bergführerin und selbst noch nicht mal ein Teenager, gelangen sie ins Gebirge – wo das Schicksal sich wenden wird. Und Rolf von seinem Vater Abschied nehmen muss.

Ähnlich wie Wie zwischen Himmel und Erde, Maria Blumencrons selbst verfilmte Erlebnisse einer Flucht aus dem kommunistischen China über den Himalaya will Der Pfad sich ganz sicher nicht nur auf den Survival-Trip zweier Kinder konzentrieren, sondern auch den politischen Aspekt betrachten. Von Menschenschmugglern und Fluchtrouten ist die Rede, von Deals und Bestechung zur Befreiung von Rebellen, die für die gute Sache kämpfen. Und von der Akzeptanz des Unmöglichen, die einhergeht mit dem zwangsläufig viel zu früh geführten Schritt aus der Welt der Kindheit in eine ernüchternd-brutale Realität. Wie Julius Weckauf „erwachsen“ werden muss, weil ihm sonst nichts anderes übrigbleibt, weil auch die Obhut der Eltern fehlt, zeigt sich als stark gespieltes Jugendkino mit dem Herzen am rechten Fleck und einer wunderbaren Chemie zwischen den beiden Jungstars, die zwischen lakonischem Humor und Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit stets die Contenance der Unbeugsamen wahren.

Der Pfad (2022)

Under the Shadow (2016)

DER ERRUNGENE MUT ZUM AUFBRUCH

7,5/10


undertheshadow© 2016 Netflix Österreich 


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, JORDANIEN, KATAR 2016

BUCH / REGIE: BABAK ANVARI

CAST: NARGES RASHIDI, AVIN MANSHADI, BOBBY NADERI, ARASH MARANDI, RAY HARATIAN, ARAM GHASEMY, HAMID DJAVADAN, SOUSSAN FARROKHNIA, KARAM RASHAYDA U. A.

LÄNGE: 1 STD 24 MIN


Wir alle kennen diese Träume, oder besser gesagt: Albträume, in denen wir weit von zuhause weg sind, womöglich auf Reisen, und dann haben wir das Wichtigste vergessen, was immer das auch sein mag, aber es ist etwas Unverzichtbares. Es gibt auch Träume, in denen wir versuchen, von irgendwo wegzukommen, meist aus dunklen Räumen, und jeder Schritt fühlt sich so an, als hätte man kiloweise Blei um die Knöchel. So schleppt man sich zum Licht, kommt aber niemals wirklich voran. Etwas hält uns zurück, in der Finsternis. Ein Trauma, eine Gestalt, eine Geschichte. Etwas Erlebtes. Und dann ist da Babak Anvaris Film. Eine Allegorie auf die Angst, Wichtiges zurücklassen zu müssen. Die Heimat zurücklassen zu müssen, das Zuhause oder das, was mehr ideellen als materiellen Wert hat, denn wir leben nun mal in einer Welt voller Dinge, mit denen wir manchmal unsere Seele teilen.

Für die Flucht weg aus dem eigenen Ursprung braucht es Kraft, Mut und Zähigkeit. Die Flucht ist meist die Reaktion auf den Totalzerfall des Systems – sprich: Krieg. In Under The Shadow lebt Shideh (Narges Rashidi) mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann zur Zeit des Iran-Irak-Konflikts in Teheran. Die Lage spitzt sich täglich zu, im Nachbarland Irak werden die Raketen Richtung iranischer Hauptstadt in Stellung gebracht. Immer wieder jault die Sirene, um die Bewohner in die Luftschutzkeller zu befehlen. Shidehs Ehemann, ein Arzt, wird eines Tages einberufen – er muss an die Front. Zurück bleiben Mutter und Kind, und doch steht ihnen die Möglichkeit offen, du den Großeltern zu flüchten, außerhalb der Stadt, wo die beiden sicherer wären als hier in diesem kleinen Wohnhaus, wo all die anderen Parteien bereits darüber nachdenken, alles stehen und liegen zu lassen – oder zumindest das meiste. Shideh zögert, doch als eine Rakete das Haus trifft, scheint die Gefahr akuter denn je. So weit, so sehr Kriegsdrama aus der Sicht der Zivilbevölkerung. Wo ist nun der Horror?

Tochter Dorsa ist fest davon überzeugt, dass mit dem ersten Luftangriff und mit den Stürmen, die plötzlich toben, ein Djinn sich ihrer angenommen hat. Und zwar keiner, der, blauhäutig und dauergrinsend, drei Wünsche erfüllt. Sondern etwas Böses, Hinterlistiges. Etwas, das Mutter und Tochter daran hindert, fortzugehen. Das fängt damit an, dass der Djinn die heißgeliebte Puppe von Dorsa versteckt. Ohne dieses Spielzeug ist an Aufbruch nicht zu denken. Und sehr bald schon bleibt es nicht nur bei diesem Schabernack – der Dämon treibt sein Verwirrspiel bis zum Äußersten.

Auf Babak Anvari wurde ich erstmals aufmerksam, als sein perfider und daher auch unberechenbarer Psychothriller I Came By letztes Jahr auf Netflix erschien. George McCay wird da zum Opfer eines sinistren Hugh Bonneville. Einige Jahre zuvor gelingt ihm auch mit diesem subtilen und gewieften Escape Home-Thriller ein regelrechter Geheimtipp, der mit Leichtigkeit Elemente des Horrors mit jenen des Psychodramas aus dem Antikriegs-Genre verschachtelt. Die Metaebene offenbart sich wie der schwarzweiß gemusterte Dschilbab des paranormalen Eindringlings, das erzwungene Verharren am Ort der Gefahr wird zum Sinnbild für Verlust, Abschied und der Furcht davor, selbst zurückgelassen zu werden. So wie der Djinn die Möglichkeiten der Mutter aussetzt, ihren fürsorglichen Pflichten nachzukommen, so wird die Suche nach der Puppe zum innerfamiliären Nervenkrieg. Anfangs offenbart sich Under the Shadow in so pragmatischem Stil, wie ihn Asghar Farhadi gerne anwendet, um dann das Metaphysische im wahrsten Sinne des Wortes durchbrechen zu lassen und einige Jumpscares aufzufahren, die unerwartet passieren und nie zum Selbstzweck verkommen. Sie sind Teil dieses Halbwach-Zustandes, in welchem sich der ganze Film befindet – weil man eben nicht glauben und nur schwer annehmen kann, dass das Leben, wenn Krieg herrscht, in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher ist. All die Ängste, die dazugehören, mutieren dabei zum mythischen Quälgeist.

Under the Shadow (2016)

Resurrection (2022)

MIT DEM TRAUMA SCHWANGER GEHEN

6/10


resurrection© 2022 IFC Films


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: ANDREW SEMANS

CAST: REBECCA HALL, TIM ROTH, GRACE KAUFMAN, MICHAEL ESPER, ANGELA WONG CARBONE U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Wer mit Filmen wie Rosemaries Baby, Ekel oder Darren Aronofskys mother! nicht viel anfangen konnte, und wem diese obskuren und völlig kranken Sinnbilder rund um Geburt, Abhängigkeit und Paranoia einfach zu viel sind, um sich nach dem Arbeitsalltag auch noch interpretieren zu müssen, dem sei von Resurrection so ziemlich abgeraten. Dabei würde man anfangs gar nicht vermuten, es mit einem Film zu tun zu haben, der mit Vernunft überhaupt nichts am Hut hat, obwohl es zuerst den Anschein hat, dass zumindest Rebecca Hall als Protagonistin Margaret mit beiden Beinen im realen Leben steht, ist sie doch Chefin eines Pharmaunternehmens mit schickem Büro in einem Glas- und Stahlgebäude und einer adrett eingerichteten Wohnung samt fast volljähriger Tochter. Es scheint alles seine Ordnung zu haben, bis eines Tages ein Mann aufkreuzt, der Margaret in Schockstarre versetzt: Dieses Individuum namens Dave, dargestellt von Tim Roth auf gewohnt phlegmatische, aber niemals zu unterschätzende Art, hat vor mehr als zwanzig Jahren Margarets Leben zur Hölle gemacht. Irgendetwas muss da gewesen sein, und es hat mit einem Jungen namens Ben zu tun, der allgegenwärtig scheint. Dieses Baby ist es auch, welches Margaret plötzlich in ihren Albträumen erscheint. Und dieser Dave ist es, der eine ganz eigenartige Wirkung auf die sonst resolute Geschäftsfrau hat, die immer mehr und mehr den Boden unter ihren Füßen und somit die Kontrolle über ihr Leben verliert. Ist es Hörigkeit, die Margaret so abhängig macht von diesem Kerl, der eigentlich gar nichts proaktiv von ihr will? Ist es neurolinguistisches Triggern? Hypnose? Welche Macht hat Dave über Margaret, dass er sie zwingt, barfuß zur Arbeit zu laufen? Zumindest scheint es so, als wäre Tochter Abby in größter Gefahr. Die allerdings kennt sich vorne und hinten nicht aus. So wie wir als herumrätselndes Publikum, dass das, was Tim Roth so von sich gibt, einfach zu absurd findet, um ihm nur eine Sekunde lang ernst nehmen zu können.

Zu lachen gibt’s trotz der völlig bizarren Umstände allerdings nichts. Je mehr Worte man über dieses ungesunde Wechselwirken aus Diktat und Hörigkeit verliert, umso bedauernswerter wäre das. Auf Resurrection sollte man sich einlassen – und eine Prämisse hinnehmen wollen, die gänzlich aus Symbolismen besteht. Je länger der Film dauert, umso weniger hat das Ganze mit der Realität zu tun, doch nicht bildlich. Wieder fällt mir Roman Polanskis Ekel ein. Wahn wird zur Wirklichkeit, doch wovon nährt sich dieser? Von unbewältigten Traumata, von Schuldgefühlen und vom tiefsitzenden Schmerz einer Mutterfigur. Hinzu kommt die Angst, dass sich das ganze Unglück wiederholt. Autorenfilmer Andrew Semans bezieht in seinem subtilen Horror niemals wirklich Stellung. Er schafft auch keine Klarheiten oder enthüllt seine Metaphern, die sich dann zu einer Metaebene bekennen würden, die vielleicht für das Trauma eines plötzlichen Kindstodes oder gar einer Fehlgeburt stünden. Semans lässt alles offen und lädt ein zur Spekulation. Er erklärt nichts, sondern deutet nur an. Resurrection ist die Chronik einer ins Chaos mündenden, seelischen Belastung und spielt mit Themen, die sich mitunter sogar in Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf zutage treten und so sensibel sind, dass sie in ihrem seltsam-phantastischen Kontext auf fahrlässige Art verstörend wirken könnten. Allerdings braucht man, um dieses Interpretationsvakuum zu schaffen, ganz schön viel Mut. Eine Eigenschaft, die sich nur das Independentkino leisten kann, ohne Rücksicht auf Verluste.

Resurrection (2022)

Mona Lisa and the Blood Moon

GEDANKEN-TRICKS ZUM MONDSCHEINTARIF

7,5/10


monalisabloodmoon© 2022 Weltkino


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: ANA LILY AMIRPOUR

CAST: JEON JONG-SEO, KATE HUDSON, EVAN WHITTEN, CRAIG ROBINSON, ED SKREIN U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Die Freiheit eines einzelnen geht doch bekanntlich so weit, bis sie die Freiheit eines anderen einzuschränken beginnt. Das ist nur fair, würde ich sagen. Mona Lisa, Insassin einer psychiatrischen Anstalt, muss jedoch, um ihre Freiheit zu erlangen, die Freiheit anderer deutlich beschneiden. Das macht sie nicht mit physischer, sondern mit mentaler Gewalt. Wie das geht? Wissen wir nicht, und das weiß Mona Lisa genauso wenig. Sie kann es eben. Und wäre sie Teil des X-Men-Universums, würde sie Professor Xavier, der ähnliche Fähigkeiten besitzt, wohl bei sich aufnehmen. Damit aber hätte er sich womöglich ein massives Problem aufgehalst – denn Mona Lisa will schließlich nicht dorthin müssen, wo andere sie hinhaben wollen. Sie würde sich auflehnen. Und den unbequemen Pöbel dazu zwingen, Dinge zu tun, die sie niemals freiwillig tun würden. Also büxt sie aus der Anstalt und geistert im peripheren Sumpfgebiet von New Orleans herum, irrlichtert vor neonhellen Supermärkten oder Diners umher, die den Bildern von Edward Hopper ähneln und aus der schwül-nächtlichen Dunkelheit herausragen wie startbereite UFOS. Sie lernt den supercoolen DJ Fuzz (Ed Skrein) kennen und noch in derselben Nacht die Stripperin Bonnie, die sich gerade mit einer anderen „Bitch“ prügelt – eine Gelegenheit, die Mona Lisa dazu nutzt, ihre Kräfte einzusetzen, und zwar zugunsten der am Boden liegenden Kate Hudson, die das unbekannte Mädel daraufhin auf einen Burger und dann zu sich nachhause einlädt. Die Fähigkeit Mona Lisas, so kombiniert Bonnie, könnte nützlich sein, um den männlichen Barbesuchern noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen. Ihr kleiner Sohn Charlie allerdings, der betrachtet die neue Freundschaft zwischen den beiden mit Argwohn.

Bei Ana Lily Amirpour ist der durch den gesellschaftlichen Rost gefallene Frauentypus stets unterwegs zur Selbstbefreiung und unterzieht sich dabei einer manchmal körperlichen oder seelischen Wandlung. Jedenfalls erreicht dieser ein Ziel, das nur die Zwischenstation bleibt für etwas, was dann folgen könnte, dem wir aber als Zuseher nicht mehr beiwohnen werden. Amirpours Filme sind also der Anfang von etwas, sei es im Vampirfilm A Girl Walks Home Alone at Night, in der Endzeitfarce The Bad Batch oder eben aktuell im Kino mit Mona Lisa and the Blood Moon. Das Zeichen für den richtigen Moment, um mit der Katharsis zu beginnen, prangt in diesem Fall als Vollmond, der zusehends röter wird, am Nachthimmel. Dinge und Begebenheiten fügen sich zu einem großen Ganzen zusammen, das die Sehnsucht einer Ausgestoßenen erhört hat. Ein Märchen aus Hoffnung und hypnotischen Vibes also, welches Amirpour hier erneut zusammenmontiert. Sie bleibt ihrem Jargon treu, ihren distanzlosen Bildern und dem grellen Licht. Und dem lässigen Charakter einer zähen Gestalt, die nach ihrer eigenen Menschlichkeit und jener der anderen sucht.

Mona Lisa and the Blood Moon, fast schon Amirpours bester und herzlichster Film, lebt auch nicht unwesentlich von einem perfekt arrangierten Musikmix aus experimentellem Elektropop und schmissigen Grooves, die Mona Lisas Odyssee akustisch untermalen und intensivieren. Dabei nähert sich die Kamera auch in unvorteilhaften Situationen ganz nah seinen Protagonisten, will sie ergründen und verstehen. Die Wide Angle-Optik kommt dem Vorhaben zupass, all die Bilder ergeben zwischen rastloser Traumartigkeit, comichafter Panel-Verliebtheit und Grunge-Elementen wie dreckigen Füßen, fettigem Fast Food und Erbrochenem ein Panoptikum schräger Begebenheiten mit viel Liebe für seine Underdogs – allen voran auch für den einnehmenden und charismatischen Jungdarsteller Evan Whitten, der die Geschehnisse mehr beeinflusst als ihm selbst lieb gewesen wäre und wir es jemals geahnt hätten. Diesem Trio auf Ab- und richtigen Wegen – mit stilsicherer Hand hingescribbelt, bunt aufgerüscht und mit Dialogen, die aus dem Bauch heraus und voller Impulsivität auf den Moment reagieren – folgt man gerne durch einen gewalttätigen und gleichsam zuckersüßen Großstadtthriller, der fast schon mondsüchtig werden lässt.

Mona Lisa and the Blood Moon

Die geheime Tochter

DAS KIND MIT DEM BAD AUSSCHÜTTEN

7/10


diegeheimetochter© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: SPANIEN 2022

REGIE: MANUEL MARTÍN CUENCA

BUCH: MANUEL MARTÍN CUENCA, ALEJANDRO HERNÁNDEZ

CAST: IRENE VIRGÜEZ, JAVIER GUTIÉRREZ, PATRICIA LÓPEZ ARNAIZ, JUAN CARLOS VILLANUEVA, MARIA MORALES, SOFIAN EL BENAISSATI U. A. 

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Eltern haften für ihre Kinder. Und nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für Minderjährige, die diesen Erwachsenen ihr Vertrauen schenken. Das zumindest tut die 15jährige Irene (Irene Virgüez), eine jugendliche Straftäterin, die von ihrem Freund, ebenfalls straffällig, geschwängert wird. Irene hat niemanden, an den sie sich wenden kann. Und schon gar keine Lust, das Kind auch auszutragen. Womit denn? Und mit welchem Geld? Da hat Javier, einer der Jugendpsychologen aus der Anstalt, eine Idee: Was, wenn eine Hand die andere wäscht? Wenn Irene ihr Kind heimlich bei ihm daheim austrägt und dessen Frau dann so tut, als wäre es ihre eigene Geburt gewesen? Irene ist die Muttersorge los, und jene, die sowieso keinen Nachwuchs zeugen können, haben dann etwas, worauf sie sich freuen können. Das Mädel hat nichts zu verlieren, also willigt sie ein, nachdem sie Javier über alle Regeln, die während dieser Zeit der Schwangerschaft tunlichst befolgt werden müssen, aufklärt. Keine Besuche, keine Ausflüge ins Tal, keine Anrufe. Irene soll als flüchtig gelten und dann, nach neun Monaten, zufällig wieder gefunden werden.

Wir sehr kann man als psychologisch versierter Experte in Sachen Teenager auch nur annehmen, dass das, was eine Problemjugendliche wie Irene vertrauensvoll zusichert, auch neun Monate später noch Bestand hat? Natürlich gar nicht. Mädchen in diesem Alter können wankelmütig und launenhaft sein, lassen sich leicht beeinflussen oder ändern ihre Meinung so oft wie ihren Look. Wieso sollte das beim Kinderkriegen anders sein? Ist es schließlich nicht. Und das stößt Javiers Frau sauer auf, nachdem die Eltern nach mehreren Monaten Isolation einwilligen, dass Irene ihren Freund wiedersehen darf. Ein grundlegender, irreversibler Fehler, der das ganze freudig-hoffnungsvolle Konstrukt werdender Eltern und unbekümmerter Jugend in sich zusammenbrechen lässt.

Autorenfilmer Manuel Martín Cuenca spielt mit der Unreife junger Menschen und der Ratlosigkeit ob deren Zukunft. Volatile Entscheidungen kriechen wie Nebel auf eine spanischen Hochebene und errichten das Dilemma einer ausweglosen Lage, die nur unter Einsatz von Gewalt wieder hingebogen werden kann. Bis es soweit kommt, lässt sich Die geheime Tochter gerade so viel Zeit wie nötig, um die Charaktere in ihrer Risikofreude und Labilität ins Spiel zu bringen. Was eignet sich da besser als eine isolierte Ranch irgendwo in den Bergen – ein paar Meter weiter geht’s steil bergab ins Verderben. Ein Setting, geradezu perfekt für einen Thriller, der sich anfühlt wie aus der Feder Patricia Highsmiths. Die Zutaten: Psychologische Einengung, diktierte Isolation und der manipulative Sprech eigennütziger Erwachsener, die aus ihrer Arroganz weniger Erfahrenen gegenüber keine Kompromisse eingehen wollen. Doch die Rechnung, die sie Irene vorsetzen wollen, haben sie ohne den Instinkt einer Mutter gemacht. Cuenca setzt dabei auf volle Breitseite im Austragen eines Konfliktes, der clever konstruiert und grimmig genug erscheint, um ihn auf eine Länge von neun Monaten dehnen zu können. Vorglühen und Nachbrennen ist alles in diesem Hickhack rund um Selbstbestimmung, dem Missbrauch erzieherischer Verantwortung und jugendlichen Idealen.

Dabei geraten so manche Details zum Selbstläufer oder fast schon zur kleinen Nebenstory: Seit Stephen Kings Cujo oder dem Bluthund-Reißer Bullet Head gab es keine so furchteinflößenden Vierbeiner mehr. Wie sich Irene Virgüez als zäher Teenie mit diesen knurrenden Monstern auseinandersetzt, scheint fast schon ein Film für sich zu sein, ist aber das Sahnehäubchen auf einem europäischen Genrebeitrag, der die gefährliche Dynamik zwischen der Gönnerhaftigkeit des Wohlstands und der notgedrungenen Abhängigkeit sozial Benachteiligter bis in jede dunkle Ecke des abgesteckten Schauplatzes ausnutzt.

Die geheime Tochter

Nope

AM ENDE DER NAHRUNGSKETTE

8,5/10


nope© 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: JORDAN PEELE

CAST: DANIEL KALUUYA, KEKE PALMER, STEVEN YEUN, BRANDON PEREA, MICHAEL WINCOTT, WRENN SCHMIDT, KEITH DAVID U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Das relevante Kino der Gegenwart bekennt sich längst zur Aufgabe, um die Ecke zu denken, gewohnte Blickwinkel abzubauen und woanders neu zu errichten. Formelhaftigkeit zu unterwandern und allzu bequeme Komfortzonen zu verlassen, die uns als Publikum sonst nur ermüden würden. Das Kino der Gegenwart entfesselt sich gern selbst, wenn es schon andere nicht für ihn tun. Stößt spielerisch vor den Kopf und denkt auch nicht mehr in Genre-Schubladen. Um einige der Vertreterinnen und Vertreter zu nennen: Julia Ducournau zum Beispiel – ihr Film Titane nimmt gerne in Kauf, nicht zu gefallen. Eskil Vogts The Innocents ebenso. Der Rumäne Radu Jude oder der diesjährige abermalige Palme-Gewinner Ruben Östlund irritieren und verstören, haben aber das erkennbare Konzept einer konsequent zu Ende gedachten Theorie unter ihren Film geschoben. Da fällt nichts aus dem Rahmen, obwohl das ganze Werk aus dem Rahmen fällt. Zu dieser – wie ich sie gerne nenne – neuen Avantgarde zählt nun auch mit seinem dritten, selbst verfassten, erdachten und produzierten Autorenfilm, der auf niemanden sonst wirklich angewiesen zu sein scheint, Jordan Peele. Mit Get Out hat er Oscar-Geschichte geschrieben und den Grund für die versöhnliche Integrität von Schwarzen in einer Welt der Weißen herausgefunden. In Wir begegnet eine urlaubende Familie sich selbst – was keine entspannte Zerstreuung bringt.

In Nope, Peeles neuestem Streifen, rudert der kultivierte Mensch der Gegenwart mit den Armen im Wasser, um nicht im Entertainment zu versinken. Als Wesen am Ende der Nahrungskette wird diesem bei all seiner medialen Versumpfung, die gutes Geld verspricht, nur langsam bewusst, dass das arglose Saurauslassen ein Ende haben könnte, da die Beute nicht mehr nur alles andere ist, sondern auch der Mensch selbst. Am Ende der Nahrungskette steht – oder fliegt – etwas ganz neues. Vielleicht ein extraterrestrischer Aggressor wie in Independence Day oder Mars Attacks? Oder vielleicht ist das ganze nur eine initiierte Show in einer Welt voller Shows, die aus dem Präsentieren von sich selbst und anderen gar nicht mehr herauskommt.

In dieser Welt, die anmutet wie das Setting eines modernen Westerns, betreibt Daniel Kaluuya als phlegmatischer Kerl namens OJ eine Ranch für Filmpferde. Das muss er wohl, ob er will oder nicht, denn OJs Vater kam bei einem seltsamen Vorfall ums Leben. Da fielen Dinge vom Himmel, Gegenstände und Bruchstücke, Schlüssel und Münzen. Eines dieser größeren Dinger traf den Vater – OJ ist also auf sich allein gestellt und scheint den Laden ohne seine aufgeweckte Schwester (Keke Palmer) nicht schmeißen zu können. Unweit der Farm gibt es auch noch den ehemaligen Kinderstar Ricky, der das Trauma einer missglückten Schimpansen-Sitcom (Planet der Affen lässt grüßen) immer noch verarbeiten muss und mittlerweile seinen eigenen Vergnügungspark unterhält, mit Shows, die das Leben und die Sicht auf die Dinge verändern sollen. (Detail am Rande: den Affen verkörpert Choreograph Terry Notary, der „Urmensch“ aus Östlundts The Square.) Doch was der Mensch gerne verdrängt – Nope, das mag ich nicht und interessiert mich auch nicht ­– fällt bald aus allen statischen Wolken: eine fliegende Untertasse macht bedrohliche Anstalten, alles in sich aufzusaugen, was bei drei den Blick nicht senkt.

Weiß man schon vorher nicht, welche Richtung Nope gerne einschlagen will, hat man später lediglich die intuitive Wahl, auf einem der Züge aufzuspringen, die da losfahren. Peele zollt nicht nur der Filmgeschichte in Bezug auf schwarze Minderheiten ausführlich Respekt, mit einer kleinen Lehrstunde so ganz nebenbei. Er öffnet überdies seinen Geist und assoziiert vieles, was ihn womöglich Zeit seines Lebens nicht minder beeinflusst hat, um Filmemacher zu werden. Die kreative Ausbeute ähnelt einem Mysterientheater, dass sein Vorspiel in kleinen, suggestiven und irreführenden Szenen absolviert, bevor das Seltsame, Monströse eine Schlagkraft erreicht, die in kurioser visueller wie narrativer Ausgestaltung so manchen sattelfesten Reiter vom Pferd holt. Nope ist ein Film, der sich so entwickelt wie Ravels Bolero, adagio beginnend, um am Ende als crescendo auf Konfrontation zu gehen. In dieser Steigerung liegen aber, wenn man genau hinhört, mehrere autarke Schichten übereinander, die jeweils eigene Situationen schildern und in Summe die Diagnose eines gesellschaftlichen Zustands wiedergeben, der sich in einer gewissen Schicksalsergebenheit darüber äußert, dass der Mensch jene Welt, die ihn umgibt, immer weniger verstehen, geschweige denn interpretieren kann. Nope handelt von Kapitalismus, Ignoranz und Provokation und das überraschende Katapultieren in ein Beuteschema, das wir für uns selbst nicht vorgesehen haben.

Nope ist mitunter furchteinflößend und übermannend, andererseits kauzig und tragikomisch, dann wieder knallbunt und wunderschön. Peele findet Bilder, die man nicht so schnell vergisst. Einen Rhythmus, der in Trance versetzt, lässt man sich darauf ein. Und einen Ton, der als akustischer zweiter Film in den Ohren knackt, dröhnt und surrt. Das Hören ist in Nope genauso wichtig wie das Sehen, beides schafft die komplexe Atmosphäre eines Erlebnisses der Dritten Art, das einst Richard Dreyfus in Spielbergs Klassiker Unheimliche Begegnung der Dritten Art so nachhaltig prägen wird. Peele ist ein Meister der Reduktion – die Kunst des Weglassens und Andeutens hat schon Gareth Edwards in Monsters so gut gekonnt. Peele perfektioniert es und lässt in seiner beängstigenden X-Faktor-Bedrohung das Publikum aus allen Wolken fallen. Am Ende lässt sich der Avantgardist aber zu etwas hinreißen, was ich seinen Helden wohl vorenthalten hätte. Vielleicht nimmt er damit seiner Aussage den Wind aus den aufgeblähten Segeln, doch leicht kann es sein, und der Film will in Wahrheit etwas ganz anderes, als ich annehme. Macht aber nichts – Filme, über die man lange rätseln kann, bleiben auch lange im Gedächtnis. Und sind allein dadurch fast schon genial.

Nope

Nowhere Special

BEREIT MACHEN ZUM LOSLASSEN

7/10


nowherespecial© 2021 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ITALIEN, RUMÄNIEN, GROSSBRITANNIEN 2020

BUCH / REGIE: UBERTO PASOLINI

CAST: JAMES NORTON, DANIEL LAMONT, BERNADETTE BROWN, CHRIS CORRIGAN, VALENE KANE U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Mit der Einsamkeitselegie Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit hat mich der gebürtige Römer Uberto Pasolini nachhaltig beeindruckt. In diesem Meisterwerk – und das ist nicht übertrieben – lässt er Eddie Marsan nach Hinterbliebenen einsam Verstorbener suchen, während das Schicksal der Toten ihn selbst ereilt. Starker Tobak, kein erbauliches Thema, und trotz dieser Widmung für ein Tabu gelingt Pasolini eine wunderbar poetische, formvollendete Ode an die Nächstenliebe, die keineswegs für Trübsinn sorgt, sondern einfach nur enorm berührt, bewegt und erstaunt. Pasolini scheint einer jener Filmemacher zu sein, die sich dem gefälligen Trend an Themen auch nicht hingeben wollen. Er will vor allem einen Umstand betrachten, der es in Zeiten wie diesen mehr wert ist als viele andere, betrachtet zu werden: Das Füreinander.

Mit diesem Imperativ des Füreinander will Pasolini auch in seinem neuen Werk rund 8 Jahre später dem Dilemma des Allein- und Verlassenseins erneut die Stirn bieten. Diesmal aber aus einer ganz anderen Perspektive und einem ganz anderen Existenzbereich – nämlich jenem eines noch intakten familiären Gefüges aus Vater und Sohn. Zumindest sind hier zwei versammelt, die durch eine starke Bindung aus Liebe, Verantwortung und Vertrauen so schnell nichts aus der Bahn werfen kann. Dabei sei gesagt: Sohn Michael ist gerade mal 4 Jahre alt, ein süßer kleiner, recht introvertierter Bub, oftmals vor sich hin sinnierend und bei Papa all die Geborgenheit auskostend, die so ein kleiner Mensch tatsächlich braucht. Der Vater, John, gibt alles – doch wie lange noch? Wie es das Schicksal oft will, ist dieser an Krebs erkrankt und hat nicht mehr lange zu leben. Natürlich erfährt der kleine Michael davon nichts, doch diesem entgeht natürlich auch nicht, dass da irgendwas im Busch ist, wenn Papa immer mal wieder fremde Familien besucht. Warum tut er das, wird sich der Kleine wohl fragen. Ganz klar: Michael braucht neue Eltern, denn wenn John mal tot ist, hat der Kleine niemanden mehr.

Normalerweise schnürt es einem bei so etwas die Kehle zu und man bekommt kein Wort mehr heraus, weil der Frosch im Hals so groß ist. Noch dazu sieht Jungschauspieler Daniel Lamont dermaßen zum Steinerweichen aus, dass man am liebsten in den Film steigen und das Kind einfach an sich drücken will. Sich so vielen traurigen Aussichten auszusetzen – wer will das schon? Doch Pasolini ergeht sich nicht in Sentimentalitäten und hat auch überhaupt nicht vor, irgendwelche Tränendrüsen leerzudrücken. Er entwickelt einen Stil, wie ihn schon Ken Loach, der Meister des Sozialkinos, die längste Zeit souverän umsetzt – den nicht ganz nüchternen, aber objektiven Alltagsrealismus, die Draufsicht auf zwei Leben und deren Geschick, sich dem Unausweichlichen anzupassen. Die Chemie zwischen James Norton und dem kleinen Lamont stimmt, die letzten Tage und Wochen des Miteinanders verharren in einer unbekümmerten Gegenwart, anstatt sich in einer furchtvollen und verlustreichen Zukunft zu suhlen. Das macht Nowhere Special erträglich, wenngleich das gefühlvolle Drama dennoch seinen Weg findet, auf bescheidenem Wege das Herz zu berühren. Verblüffend aber, dass die Traurigkeit bei Pasolini tatsächlich von jener Art ist, die als schön empfunden werden kann. Der Schmerz eines Abschieds, verbunden mit dem Hallo eines Neuanfangs.

Nowhere Special

Galveston

VOM INSTINKT DES BESCHÜTZERS

6,5/10


galveston© RLJE Films


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: MÉLANIE LAURENT

CAST: BEN FOSTER, ELLE FANNING, LILI REINHART, ADEPERO ODUYE, ROBERT ARAMAYO, MARÍA VALVERDE, BEAU BRIDGES U. A. 

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Wir kennen Mélanie Laurent doch spätestens nach ihrem Auftritt in Quentin Tarantinos virtuosem Fake-History-Thriller Inglourious Basterds, in welchem Hitler und seine Schergen den Flammentod im Kino sterben. Zuletzt gab sie sich recht beengt im Science-Fiction-Kammerspiel Oxygen von Alejandro Aja, welches auf Netflix zu sehen ist. Dass die charismatische Französin allerdings auch Regie führt – und das nicht nur aus einer Laune heraus, weil Schauspieler einfach mal alles gemacht haben müssen, sondern weil ihr das vermutlich genauso liegt wie Clint Eastwood – war mir allerdings nicht bewusst. Bis letztes Jahr, als ihr neuestes Werk Die Tanzenden erschienen war – ihre sechste Regie. Die vorletzte Arbeit gibt’s nun hier bei mir in meiner Review: Galveston – Die Hölle ist ein Paradies. Wobei der deutsche Untertitel so gut wie gar nichts über das existenzialistische Roadmovie aussagt. Hölle und Paradies – das kann alles sein. Zu generisch, um wirklich Sinn zu machen. Und Galveston? Das ist eine Stadt in Texas.

Dorthin muss Ben Foster alias Roy, ein Handlanger und Killer für einen abgeschleckten Mafiaboss im Zwirn (ölig: Beau Bridges), der in eine Falle tappt, da man ihn loswerden will. Irgendwie bekommt der abgehalfterte Säufer gerade noch die Kurve und rettet dann auch noch so ganz nebenbei eine Prostituierte namens Rocky, die gar nicht weiß, wie ihr geschieht. Die beiden sind also on the road, vermutlich sind längst böse Buben hinter ihnen her. Roy will nach Galveston, um dort Zuflucht zu suchen. Auf dem Weg durchs amerikanische Hinterland, gesäumt von Motels und früheren Erinnerungen, werden beide mit ihrem ganz persönlichen Trauma konfrontiert. Und da ist noch Rockys junge Schwester, die plötzlich mit von der Partie ist – und alles verändern wird.

Galveston sieht anfangs so aus, als wäre er von der Sorte wie zum Beispiel Thelma & Louise, Wisdom – Kühles Blut und Dynamit oder Nicht mein Tag: Zwei, die sich zusammenraufen, fliehen im Auto vor einer Übermacht. Ob Polizei oder das organisierte Verbrechen, ist ganz egal. Nur: Die Verfilmung des Romans von Jim Hammett (lieferte den Content für True Detective) schlägt immer mal wieder die subtileren Töne eines Psychodramas an, in welchem es um sehr viel mehr geht als nur darum, mit brummenden Motoren auf die Ideale der eigenen Existenz zuzusteuern. Ben Foster und Elle Fanning halten viel öfter inne als zu vermuten wäre, ihre Figuren entwickeln sich in überraschender Deutlichkeit. Beide folgen ihrem Beschützerinstinkt und steuern auf das Ideal eines familiären Konstrukts hin, das als einziges dafür taugt, wechselwirkend Halt zu geben in einer trostlosen Gesamtsituation. Laurent gelingt es, diese Dynamik, die hinter einem augenscheinlich routinierten Thrillerdrama liegt, freizulegen. Somit ist Galveston vor allem in seiner peripheren Ausstattung keine tadellose Kreativleistung, im Kern der Geschichte erklingen aber einige Takte eines zutiefst melancholischen Blues-Songs.

Galveston

CODA

ZEICHEN SETZEN FÜR DIE ZUKUNFT

8/10


coda© 2021 Apple Studios


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: SIÂN HEDER

CAST: EMILIA JONES, MARLEE MATLIN, TROY KOTSUR, DANIEL DURANT, FERDIA WALSH-PEELO, EUGENIO DERBEZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Verstehen sie die Béliers? Nein, natürlich nicht. Gebärdensprache habe ich nie gelernt – bislang gabs auch noch keine Notwendigkeit dafür. Die Béliers verstehen mich aber  auch nur, wenn sie Lippen lesen können und ich meine gewählten Wörter deutlich ausformuliere. Die Béliers sind allesamt gehörlos – Vater, Mutter, Sohn. Nur die Tochter nicht. Solche Kinder nennt man CODA – was so viel heißt wie Children Of Deaf Adults. Der Prozentsatz tauber Eltern, die hörende Kinder in die Welt setzen, ist erstaunlich hoch. Dem Kinderschutz München zufolge sind dies bis zu 90%, die anderen 10& sind dann Deaf CODAS. So viel also zum Titel des Remakes einer französischen Tragikomödie aus dem Jahr 2014 mit Francois Damiens in der Rolle des gehörlosen Vaters. In diesem Film hier ist die Ausgangslage etwas anders – der folgende Plot allerdings der gleiche. Prinzipiell habe ich mit Remakes so meine Probleme, da ich jene, die auf einem bereits vorzüglich gelungenen Original basieren, nicht mehr für notwendig erachte. CODA hätte ich mir in nächster Zeit womöglich nicht angesehen, wäre der auf Apple+ erschienene Film von Siân Heder (Tallulah – zu sehen auf Netflix) nicht für den Oscar als bester Film nominiert worden. Ich will natürlich nicht, dass Preise oder die Aussicht auf selbige meine Watchlist beeinflussen, aber das tun sie. Sehr sogar. Muss ich mich dagegen wehren? Sollte ich nicht. Denn jene, die nominieren und auszeichnen, wissen auch ganz genau, warum. Das erkennt man dann an den Filmen. An diesen ist meist was dran. Etwas ganz Besonderes, Ungewöhnliches. Manchmal auch nicht, aber da Filme oft subjektiv zu werten sind – was soll‘s. Bei CODA allerdings hat die Jury schon absolut richtig gelegen. Trotz meiner Voreingenommenheit hat mich die US-Version der europäischen Komödie tatsächlich noch mehr überzeugt als das Original. CODA ist ein Film, der alles andere als Trübsal bläst. Der mitreißt und positiv bewegt. Womöglich das beste Feel Good Movie der letzten Zeit, was auch an der Musik liegt.

Statt eines Bauernhofs in Frankreich hat Siân Heder ihre Version des Stoffes autobiografisch gefärbt und die Szenerie ins ostamerikanische Gloucester verlegt. Die durch und durch natürlich agierende Schauspielerin Emilia Jones (u. a. Locke & Key) spielt Ruby Rossi, jüngster und hörender Spross einer Fischerfamilie, die jeden Morgen auf den Atlantik rausfährt, und das nur tun kann, weil Ruby mit von der Partie ist, denn irgendwer muss schließlich den Funk überwachen und auf akustische Signale der Küstenwache reagieren. Doch Ruby schwebt für ihr Leben was ganz anderes vor. Sie will singen. Zum Glück gibt’s an der Schule das Freifach Chor. Gesanglehrer Mr. V ist von Rubys Stimme angetan, schlägt ihr gar die Bewerbung an der Musikschule Berkelee in Boston vor. Die Eltern, vorrangig Mama Marlee Matlin (erster Oscar an eine gehörlose Schauspielerin für Gottes vergessene Kinder), halten nicht viel davon. Einfach, weil sie davon auch nicht viel mitnehmen können. Gesang, Musik – was ist das? Ruby ist jedoch nicht auf der Welt, um das Leben ihrer Eltern zu leben, sondern ihr eigenes. Mit Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft. Selbstbestimmung ist das Wort. Das muss auch ihre Familie hinbekommen, ohne dabei andere, die vielleicht etwas anderes wollen, zu vereinnahmen.

Ganz ehrlich – ob Béliers oder CODA – die entworfene Coming of Age-Story über Freiheit, Erwachsenwerden und jugendlicher Verantwortung ist ein großartiges Stück Familiensache. Womöglich lässt sich der Stoff gar ein drittes Mal verfilmen, so viel Potenzial hat der Konflikt zwischen familiärer Abhängigkeit und Flüggewerden. Die Frage nach der Schuldigkeit des Nachwuchses den Eltern gegenüber wird durch das Handicap der Gehörlosigkeit fast schon auf ein metaphorisches Gleichnis gehoben, während die Behinderung selbst gar nicht mal so den inhaltlichen Kern der Geschichte ausmacht. Ungewohnt für Außenstehende ist es aber allemal, einem Alltag wie diesen über die Schulter zu sehen. Wenn Ruby dann versucht, den Song für ihre Bewerbung auch in Zeichensprache zu untertiteln, dann ist das Beweis genug für eine nachhaltige Zuneigung für jene, die schweren Herzens, aber doch, ihren Sonnenschein von Tochter freigeben müssen. Wenn Papa Troy Kotzur (nominiert für den Oscar als bester Nebendarsteller) wiederum versucht, den Gesang seiner Tochter wahrzunehmen, indem er die Vibrationen an ihrem Hals erspürt, ist das die Liebe, die Eltern ihren Kindern – ungeachtet ihrer Wünsche – entgegenbringen sollten.

CODA