Raymond & Ray (2022)

BUDDELN BIS ZUM INNEREN FRIEDEN

7/10


raymond-and-ray© 2022 Apple TV+


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: RODRIGO GARCIA

CAST: ETHAN HAWKE, EWAN MCGREGOR, SOPHIE OKONEDO, MARIBEL VERDÚ, VONDIE CURTIS-HALL, TOM BOWER, TODD LOUISO U. A. 

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Oft hört man bei Begräbnissen die in den Abschiedsfloskeln eingearbeiteten, ironischen Zeilen: Bis zur nächsten Leich‘, da sehen wir uns wieder. So makaber sich das anhören mag – irgendwie stimmt es auch. Jeder hat sein eigenes Süppchen am Kochen, und nur selten ist auch die blutsverwandte Familie auch wirklich darüber hinaus miteinander verbunden. Ein paar halbgare, in die Stille fehlender Worte hineingesprochene Einladungen, die man kurzerhand gleich wieder bereut, sind das einzige Zugeständnis an die Sippe. Man kann auch im selben Elternhaus aufgewachsen sein, man mag vielleicht in jungen Jahren miteinander durch Dick und Dünn gegangen sein – das Erwachsenenleben kappt die Schnur zur Vergangenheit durchaus gerne. Vor allem dann, wenn die gemeinsamen Erziehungsberechtigten Methoden an den Tag gelegt haben, die jedes spätere Selbstbewusstsein im Keim erstickten. Zum Glück für Ewan McGregor und Ethan Hawke ist das nächste Begräbnis keines, dass sie zwangsläufig mit ihrem alten Herrn wieder auf Tuchfühlung gebracht hätte. Sondern es ist die Einsegnung des Tyrannen selbst.

Trotz all des Widerwillens ist das Blut immerhin noch dick genug, um die Brüder Raymond & Ray dazu zu bewegen, den letzten Willen ihres schrecklichen Vaters anzunehmen. So schlägt der eine – ein biederer Familienvater mit klarer Tendenz, aufgrund seiner in den Tag hineingelebten Langweile die eigene Ehefrau zu vergraulen – beim brüderlichen Windhund auf. Ein bindungsloser, Drogen und Alkohol nicht abgeneigter Tagedieb mit Lust auf schnellen Sex. Lange nicht mehr haben die beiden miteinander kommuniziert, doch jetzt ist die Erlösung von dem Bösen endlich da, und schließlich ist es immer noch der eigene Vater, dem man zumindest einen Stinkfinger hinterherschicken kann, wenn dieser in die erdige Tiefe hinabgelassen wird. Das Sonderbare daran: die paar Kubikmeter Erdloch müssen erst gebuddelt werden – so steht’s im Testament. Und zu allem Überdruss sind die beiden nicht die einzigen, die den Begräbnis-Workshop am Friedhof absolvieren müssen – plötzlich sind da ganz andere, wildfremde Leute, die den Alten ganz anders in Erinnerung hatten als die beiden Brüder. Apropos Brüder: Auch in dieser Sache wird’s noch die eine oder andere Überraschung geben.

Hawke und McGregor – zwei schauspielerische Kapazunder – nehmen für die exklusiv auf AppleTV+ veröffentlichte Tragikomödie den Spaten in die Hand. Wer einem Begräbnis wie diesem schon irgendwo irgendwann mal beigewohnt hat, kann sich zur Randgruppe zählen. Die meisten werden sich bei einer Do it yourself-Beerdigung doch reichlich wundern – und unsere Stars in diesem Film tun das gleich mit. Wobei anfangs alles nach einem konventionellen Independentdrama aussieht, dass sich mit der Aufarbeitung familiärer Vergangenheit beschäftigt, indem sich später alle zum verbalen Showdown treffen. Natürlich peilt Drehbuchautor und Regisseur Rodrigo Garcia (u. a. Four Good Days) an besagter Thematik nicht vorbei. Klar gehts um Entbehrungen aus der Kindheit und darum, herauszufinden, worauf es ankam, um nun der Mensch zu sein, der man geworden ist. Überraschenderweise ist der Schauplatz dafür nicht das geerbte Eigenheim von damals, sondern das offene Gelände einer Ruhestätte, auf welchem alle aufeinandertreffen, die nur irgendwie mit dem Verstorbenen zu tun hatten. Während gebuddelt wird, kommt nicht nur die Erde hoch, sondern die ganze Wut, der ganze Frust, die ganze Traurigkeit von damals. Sie trifft auf andere Sichtweisen und seltsame Widersprüche, auf weise Stehsätze des Predigers und neugierige Blicke einer völlig unbekannten Restfamilie. Raymond & Ray ist zwar längst nicht so schwarzhumorig und bittersüß wie zum Beispiel die britische Groteske Sterben für Anfänger oder überhaupt Vier Hochzeiten und ein Todesfall. Das schweißtreibende Begräbnis von Rodrigo Garcia ist im Gegensatz zu diesen Beispielen von einer ganz besonderen Sorte, fühlt sich an wie ein seelisches Workout und kippt gerne ins Bizarre – wie Beerdigungen es manchmal tun, wenn sie nicht nach Plan laufen. Dieser Anarchie des Bestattens erreicht nicht nur Tiefe als Loch im Boden, sondern auch als zutage geförderte, heilsame, vielleicht unschöne Wahrheit. In diesem menschelnden Chaos, in diesem Ausnahmezustand zwischen befremdender Aufbahrung und Patronenhülsen aus dem Revolver, die wie Rosen auf den Sargdeckel kullern, hat eine kleine, geschlossene Gesellschaft gerade den richtigen Riecher, um Bilanz zu ziehen.

Raymond & Ray (2022)

Fences

ANSICHTEN EINES PATRIARCHS

7/10

 

null© 2016 Paramount Pictures

 

Ich stelle mir jetzt mal folgendes vor: Ich sitze irgendwo in Los Angeles in einem Café. Hinter mir geht die Tür auf und eine Person kommt herein, welche die Gäste des Lokals ob seiner Ausstrahlung – und wenn auch nur für ein paar Sekunden – verstummen lässt.  Dann wäre das in seinen früheren Jahren sicherlich Jack Nicholson gewesen. Heutzutage bliebe es, wenn sich Denzel Washington in aktuell fortgeschrittenem Alter einen Kaffee genehmigen will, nicht unbemerkt. Washington hat Charisma. Wo er hingeht, ist er nicht zu übersehen. Nicht wegen seiner Größe, sondern wegen seiner einnehmenden Persönlichkeit. Washington ist einer der ganz Großen, nicht unbegründet einer meiner am Liebsten gesehenen Schauspieler auf der Leinwand. Schade nur, dass ich den talentierten Afroamerikaner nicht auch im Theater bewundern kann, denn zumindest der Broadway darf Denzel Washington zu seinem Ensemble zählen. Zum Beispiel in einem modernen Klassiker des amerikanischen Dramas. Dieses mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Bühnenwunder trägt den Titel Fences, verantwortlich dafür zeichnet der Dramatiker August Wilson, der auch seine eigene Drehbuchfassung schrieb. 

Fences lässt die Wucht der Stücke eines Tennessee Williams oder Eugene O´Neill wiederaufleben. Was aussieht wie ein Familiendrama mit ganz viel Zeitkolorit, ist vor allem eines: ein One-Man-Gewaltakt. Das Psychogramm einer Machtfigur, eines Patriarchen, der sich innerhalb seiner mikroskopischen Welt aus Familie und Vertrauten gebärdet wie ein Diktator und Bestimmer, selbst aber die Geschichte eines verpassten Lebens mit sich schleppt. Dieser Umstand einer widrigen Vergangenheit voller Misstrauen, Diskriminierung und menschenunwürdig harter Arbeit lässt den Übervater verbittern. Die Zukunft seiner beiden Söhne solle eine andere sein, als er selbst sie hatte. Eine bessere womöglich? Zumindest eine ohne all die Erniedrigungen, die das Oberhaupt der Familie erleiden musste. Dass sich die Zeiten aber geändert haben, und Hindernisse des Gestern heute keine mehr sind – das wird dem alten Herrn nicht bewusst. So werden die Wünsche und Träume seines Nachwuchses zu einem umkämpften Objekt der Zukunft. Der Krieg im Eigenheim, der findet im Hinterhof statt. Einem Stück Grund und Boden, um welchen Patriarch Troy einen Zaun errichten wird. Ein blickdichtes Stück Wand, welches das Draußen, den Fortschritt, die Zuversicht auf eine bessere Welt ausgrenzt. Vielleicht gerät das mächtige Ego von Müllsammler Troy auch in eine Zwickmühle zwischen Neid, Missgunst und verletztem Stolz – alles seiner eigenen Familie gegenüber. Hinter ihm steht niemand mehr, nicht mal mehr sein bester Freund. 

Fences ist der letzte von mir gesehene Film all jener nominierten Kandidaten, die für den Oscar 2017 als bester Film ins Rennen gegangen sind. Das Theater auch auf der Leinwand funktioniert, zeigt die von Denzel Washington produzierte und inszenierte Verfilmung des Bühnenhits auf zwar routinierte, aber eindringliche Art und Weise. Das Kammerspiel, welches den tiefen Fall des resignierenden Egomanen fast ausschließlich im Hause der Familie und im Hinterhof irgendwo in Pittsburgh beobachten lässt, passt Denzel Washington wie angegossen. Die Rolle ist tatsächlich sein ganz persönliches Projekt, eine Herzensangelegenheit, die er sozusagen im Alleingang zu stemmen versucht. Viola Davis als seine gestrenge bessere Hälfte, die den Tyrannen ertragen und lieben muss, steht Washington mit Leidenschaft zur Seite. Beide meistern das Drama mit Kraft und Würde. Das liegt natürlich daran, dass beide ihre Rollen bereits schon am Theater erproben konnten. 

Und genau das ist Fences. Pures Theater, mit dem Vorteil, den Ausdruck all der Gesichter im Close up betrachten zu können, ohne zum Operngucker greifen zu müssen. Das Kino nutzt durch seine Nähe des Publikums zum Schauspieler die ganze Bandbreite improvisierter Emotionen. Das weiß Washington´s dritte Regiearbeit zu nutzen. Wer sich ein Kinoerlebnis mit dem Medium eigenen Stilinnovationen erwartet, wird womöglich enttäuscht sein. Washingtons ist ein präziser, handwerklich souveräner Hybrid aus Bühne und Leinwand gelungen. Wortgewaltig und maßgeschneidert für einen Schauspieler, der nicht übersehen werden kann.

Fences