Pearl (2022)

EINE PERLE VERLIERT DIE FASSUNG

7/10


pearl© 2022 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: TI WEST

DREHBUCH: TI WEST, MIA GOTH

CAST: MIA GOTH, DAVID CORENSWET, TANDI WRIGHT, MATTHEW SUNDERLAND, EMMA JENKINS-PURRO, ALISTAIR SEWELL U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Niemand ist bei den Kälbern? Natürlich nicht. Die hübsche junge Pearl will eigentlich etwas ganz anderes aus ihrem Leben anstellen als nur das Vieh bei guter Gesundheit zu halten und den als Pflegefall dahinsiechenden Vater pflegen. Doch wir befinden uns am Anfang des 20. Jahrhunderts, die spanische Grippe geißelt den Erdball wie vor kurzem Covid, nur noch um einen Tick tödlicher. Der Erste Weltkrieg geht langsam seinem Ende zu. Und da ist es am klügsten, sich nach der Decke zu strecken und das Beste aus dem zu machen, was man hat. So zumindest meint es die strenge Institution namens Mutter, die Pearl keinerlei Freiheiten schenkt, sondern stets an ihre Pflicht erinnert, für Haus und Hof geradezustehen.

Was aber, wenn die große weite Welt lockt? Wenn Frau sich selbst dazu ausersehen fühlt, ein Star zu werden? Margot Robbie hat das in Babylon – Rausch der Ekstase schließlich auch hinbekommen, also zumindest anfangs. Wieso sollte Pearl nicht auch das Zeug dazu haben? Eine strahlende Erscheinung ist sie ja. Wenn sie aber dauerstrahlt, kann einem schon anders werden. Und wenn sie dann auch noch zu blaffen beginnt und nicht versteht, warum ihr die Welt nicht zu Füßen liegt, ließe sich der Pfaffe schon zur letzten Ölung bitten.

Mit dieser fast schon ikonischen Figur einer taufrischen Psychopathin gelingt es Ti West, eine neue Institution für das Subgenre des Slasher-Horrors zu schaffen. Eine, die zu Halloween neben Michael Myers, Freddy Kruger und Jason Voorhees die Gegend unsicher macht – in rotem Festtagskleid, mit zwei Zöpfen und bewaffnet mit Axt oder Heugabel. Dabei scheint sie nur tanzen zu wollen – und mehr Beweggründe für ihre Meuchelei zu haben als all die anderen genannten gesichtslosen Killermaschinen. Da hat Pearl ihnen einiges voraus. Nämlich den unverschämten Wunsch auf Selbstbestimmung. Dumm nur, dass eine grundlabile Persönlichkeit wie Pearl nicht anders kann als lustvolles Töten als einfachste Methode zu wählen, ihrem Käfig zu entkommen. Doch da wartet weder Regenbogen noch eine Yellow Brick Road. Wenn’s hochkommt, ist da nur die Vogelscheuche.

Wer Ti Wests 70er-Slasher X gesehen hat – ebenfalls mit Mia Goth, nur in einer anderen Rolle – wird sich beim Gedanken daran, wie die beiden Alten in der heruntergekommenen Ranch vor lauter Neid auf die Jugend eine Filmcrew systematisch dezimiert, die Nackenhaare aufstellen. Die Herrin des Hauses, immer noch getrieben von der Sehnsucht, ein Star zu sein, ist Pearl in hohem Alter. Mit diesem, in enormem Ausmaß den Stil der Technicolor-Filme imitierenden Prequel hält ein leidenschaftlicher Coming of Killer-Film Einzug, der als Reminiszenz aufs frühe Mörderkino genauso funktioniert wie auf Hitchcocks Psychohorror, in welchem ein Motel zum Schauplatz garstiger Alltagsroutine wird. Die Eltern-Kind-Diskrepanzen sind da wie dort ein Thema, und wenn Mia Goth, die hier heult und grinst und kreischt wie eine Furie, zu ihrem Geständnis ansetzt, verzichtet Pearl darauf, nur platter Effekt-Manierismus bleiben zu wollen. Wests Film strebt ebenso nach Größerem wie Mia Goths Figur selbst. Wenn man auch nur irgendwie „Sympathy for the Devil“ entwickeln kann; wenn Filme Zugänge schaffen in eine Welt aus Tod, Verderben und geistiger Verwirrung, dann funktioniert das nur im Rahmen eines entrückten Horrormärchens, das seinen strohaufwirbelnden Judy Garland-Albtraum satirisch konnotiert, ihn aber ernster nimmt als es den Anschein hat. Und das ist das Perfide daran.

Pearl (2022)

Drive My Car

TRAUERN MIT TSCHECHOW

6,5/10


drive-my-car© 2021 The Match Factory


LAND / JAHR: JAPAN 2021

BUCH / REGIE: RYŪSUKE HAMAGUCHI, NACH DEN KURZGESCHICHTEN VON HARUKI MURAKAMI

CAST: HIDETOSHI NISHIJIMA, TŌKO MIURA, MASAKI OKADA, REIKA KIRISHIMA U. A.

LÄNGE: 2 STD 59 MIN


Seit Bekanntgabe der Nominierungen sowohl für den besten Film als auch für den besten fremdsprachigen Beitrag bei den diesjährigen Oscars war es kein leichtes Unterfangen, den Favorit erfolgreich auf die Liste der gesehenen Pflichtfilme zu setzen. Warum wohl? Erstens aufgrund der beachtlichen Länge. Sage und schreibe drei Stunden nimmt sich Drive My Car Zeit, seine Geschichte zu erzählen. Gut – bei drei Stunden schreckt man zumindest im Blockbusterkino auch nicht mehr zurück. Der letzte Avengers war ja ebenfalls so lang, nur war man sich dort zumindest sicher: What you see is what you get. Bei Drive My Car wusste man nur so viel: Ein Witwer wird im eigenen Auto von A nach B gefahren, und das eigentlich täglich. Chauffeurin und Fahrgast finden im Laufe dieser Zweckgemeinschaft einige Gemeinsamkeiten, darüber hinaus ähnliche Gefühlswelten. Gut, das klingt nach ein bisschen wenig. Und auch beim Reinlesen in andere Reviews war nicht viel mehr herauszufinden als das. Eine Story die ins Kino lockt? Mitnichten. In Deutschland weckte Drive My Car laut filmstarts bei gerade mal 35.316 Kinobesuchern die Neugier. Darüber hinaus sind drei Stunden potenzielle Langeweile kein unwesentlicher Faktor zur Entschlussfindung.

Es wundert mich nicht. Drive My Car ist Liebling bei den Kritikern, Liebling in Cannes und Liebling der Oscar-Academy. Ryūsuke Hamaguchi ist zwar nicht ganz so extravagant wie der Thailänder Apichatpong Weerasethakul, der allein schon mit seiner Affinität fürs paranormale die Neugier weckt, aber immer noch in seiner Filmkunst auffällig genug, um ähnlich einer ausgesuchten Flasche Wein älteren Jahrgangs (Der Filmkürbis wird den Vergleich zu schätzen wissen) von Kennern und Liebhabern cineastischer Filmkunst entsprechend genossen zu werden. Das soll aber nicht heißen, dass man für Drive My Car ähnlich wie bei Umberto Ecos Foucault’schem Pendel einen erklärenden Appendix benötigt. Hamaguchis Interpretation einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami erzählt zwar kein vertracktes Drama, allerdings befindet sich das Narrative auf mehreren (Meta)ebenen, zu welcher auch jene der darstellenden Kunst zählt, insbesondere des Theaters. Und dort wäre es nicht schlecht, zumindest einmal im Leben Anton Tschechows Onkel Wanja gesehen oder gar gelesen zu haben. Denn der russische Literat und sein Werk sind das eigentliche Bindeglied zwischen Chauffeuse Misaki und Regisseur Yūsuke, allerdings auch die künstlich erschaffene Plattform für eine posthume Begegnung des trauernden Theatermachers mit seiner verstorbenen Frau.

Diese und Yūsuke verbindet der Verlust ihrer vierjährigen Tochter, beide versuchen, mit diesem niederschmetternden Schicksal umzugehen. Yūsukes Frau Oto erzählt nach dem Sex Geschichten von einsamen Menschen, die lernen müssen, zu ihren Gefühlen zu stehen. Des weiteren geht sie gerne fremd, was Yūsuke scheinbar akzeptiert. Oder vielmehr: Er wahrt die Harmonie – ein wichtiges gesellschaftliches Gut in Japan, wo Gefühle zu zeigen verpönt ist, wo Gleichmut alles ist, ein Lächeln noch mehr. Trauer, Eifersucht und Gram sind nur Last für andere. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau – es sind zwei Jahre später – nimmt Yūsuke die Einladung eines Festivals in Hiroshima an, Onkel Wanja zu inszenieren, und zwar multilingual. Will heißen: Es trifft taiwanesisch auf japanisch, japanisch auf koreanisch, koreanisch auf Gebärdensprache. Ein zugegeben spannendes Experiment. Noch spannender ist die Tatsache, einen Vertrauten seiner Frau im Ensemble zu wissen. Und noch irritierender der Umstand, einen Chauffeur zu bekommen, der Yūsuke im Auto herumkutschieren soll.

Die 23jährige Misaki zeigt sich dabei so ausdruckslos und phlegmatisch wie Yūsuke selbst. Beide verharren unter einem Schleier gesellschaftlicher Schicklichkeiten. Das Tabu von Schwäche wirkt wie ein Sedativ auf den inneren Schmerz der beiden Hauptfiguren. Langsam bricht und bröckelt die Fassade. Langsam, sehr langsam. Dazwischen das Making Of einer Theaterproduktion eines der wohl bekanntesten und wichtigsten Stücke der russischen Literatur. Dabei lässt sich die Figur des um sein Leben betrogenen Onkel Wanja, der am Ende des Stückes gar zur Waffe greift, ganz klar auf Yūsukes Gesamtsituation übertragen. Auf der Bühne sind Gefühle expressive Kraft des Dramatischen, im echten Leben fristen sie ein unterdrücktes Dasein, das keinen in seiner seelischen Entwicklung voranbringt.

Von daher ist Drive My Car ein ausgewogenes, in sich ruhendes Psycho- und Künstlerdrama um Verständigung, Aufrichtigkeit und Selbsterkenntnis. Doch in diese Ruhe liegt nicht nur Kraft, wenngleich Drive My Car tatsächlich und auch trotz des abstrakten, sozialphilosophischen Stoffes keine wirklichen Längen hat. In dieser Ruhe liegt auch Distanz und Berührungsangst. Hamaguchi inszeniert seinen Film kühl, nüchtern und unaufgeregt. Das Werk wirkt präzise konstruiert, geradezu mathematisch. Der japanischen Mentalität kommt dies sicher nahe. Vom Westen aus betrachtet ist diese Reduktion aber eine gewöhnungsbedürftige Art des Inszenierens eigentlich großer Gefühle, die am Ende nur verhalten, fast schon schamhaft, ans Tageslicht treten. Drive My Car trifft einen ganz eigenen, minimalistischen Ton, gibt seinen Onkel Wanja aber eine Spur zu spät frei, und lässt ihn dabei gar nicht mal ein bisschen durchdrehen.

Drive My Car