Plastic Guns (2024)

DIE FALSCHE FÄHRTE DES KILLERS

4,5/10


Plastic Guns© 2024 A-One


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: JEAN-CHRISTOPHE MEURISSE

CAST: ANTHONY PALIOTTI, LAURENT STOCKER, GAÉTAN PEAU, CHARLOTTE LAEMMEL, DELPHINE BARIL, VINCENT DEDIENNE, ANNE-LISE HEIMBURGER, JUANA ACOSTA U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Nicht nur Quentin Tarantino hat versucht, einen der wohl berüchtigsten True Crime-Fälle aller Zeiten so zu lösen, damit der Schaden die Schuldigen trifft. Der Sektenmord an Sharon Tate durch die Manson-Familie hat in Once Upon a Time … in Hollywood weniger fatale Folgen für Roman Polanskis Ehefrau als in der tatsächlichen Kriminalgeschichte. Schön wäre es gewesen, wäre es tatsächlich so ausgegangen. Doch im Kino ist es immerhin möglich, die Realität neu zu erfinden.

Genau das versucht auch der Filmemacher Jean-Christophe Meurisse (u. a. Blutige Orangen) mit seiner grotesk-humorigen Psychopathen-Hommage Plastic Guns, die nicht nur auf dem diesjährigen Fantasy Filmfest, sondern auch beim Slash Filmfestival in Wien auf der großen Leinwand zu sehen war. Meurisse lässt sich darin von einer sogenannten Unsolved Mystery inspirieren – vom Fall des Familienmörder Xavier Pierre Marie Dupont de Ligonnès, dessen Verbrechen man auf Netflix im Rahmen eines True Crime-Formats nachsehen kann. Nur soviel: Im April 2011 fand man im Garten eines Hauses im französischen Nantes die vergrabenen Leichen einer Frau, vier Kindern und zwei Hunden. Auf dem Gewissen hat Dupont de Ligonnès sie allesamt. Das Ernüchternde und daher auch Unbefriedigende im Rahmen der Ermittlungen: der Mörder, einige Tage später untergetaucht, wurde bis heute nicht gefunden.

Ein ähnlicher Fall trägt sich in Plastic Guns zu. Detektiv Zavatta allerdings scheint dem Verbrecher Paul Bernardin (Laurent Stocker) auf den Fersen zu sein und weiß genau, dass dieser einen Flug nach Kopenhagen nehmen wird, um seine Spuren zu verwischen. Die dänische Exekutive wird in Alarmbereitschaft versetzt – und prompt wird besagter Passagier beim Verlassen des Flugzeuges aufgegriffen, während sich der siegessichere Kommissar gleich mal einen Urlaub in Argentinien gönnt. Der Mann allerdings, der verhaftet wird und überhaupt nicht Paul Bernardin heisst, muss sich qualvollen Verhören unterziehen. Dass dieser nur nach Kopenhagen kam, um seinem Showbiz nachzugehen, glaubt niemand. Psychopathen aus der Reserve zu locken – dafür braucht es Psychopathen. Und so hat selbst die französische und dänische Polizei Individuen am Start, mit denen man sich tunlichst nicht anlegen will. Dasselbe gilt für zwei Investigativjournalistinnen, die aus Spaß an der Freude an den Tatort zurückkehren, um etwaige Hinweise dafür zu finden, wo der Mörder abgeblieben sein kann. Dass es sich um den in Kopenhagen Verhafteten nicht um Bernardin handeln könnte – das wollen die beiden, die sich zusehends in ihren Recherchen verpeilen, genauso wenig wahrhaben wie alle anderen.

Als phantastischer oder Horrorfilm geht Plastic Guns – der Titel sinnbildlich für die Uneinschätzbarkeit des Gefährlichen – nur bedingt bis gar nicht durch. Anfangs gelingt Meurisse das Kunststück, einen Film um eine schreckliche Bluttat und der darauffolgenden Killerhatz so komödiantisch wie möglich zu gestalten, ohne dabei in Geschmacklosigkeiten abzugleiten. Dass dieser Hybrid aus Thriller, Situationskomik und galliger Satire so gut funktioniert, liegt an den kernigen Dialogen und dem wilden Spiel so manchen Charakters – insbesondere an Schauspieler Gaétan Peau, der das zum Handkuss kommende Unschuldslamm in einer Mischung aus peinlicher Verzweiflung, Wut und Rechtschaffenheit stilsicher verkörpert. Auch so manch andere Nebenrolle steigert sich in ein Crescendo, das sich an bühnentauglicher Kleinkunst orientiert. Skurrile Momente sichern sich die Stärken der französischen Burleske, was beinahe schon in Richtung der Filme von Claude Zidi oder Jean Girault geht, in denen Louis de Funès den cholerischen Bohemien oder moralinsauren Polizisten gibt. Und dann ist da aber noch etwas anderes – eine Komponente, die nicht ins System passt. Mit denen Meurisse zu viel wagt und dabei nicht gewinnt.

Die Frage ist: Darf man sich auf Kosten eines derartigen Mordfalls amüsieren? Vielleicht eine Zeit lang, doch nicht bis zum Ende. Denn dann will Plastic Guns den Zuseher aus seiner Komfortzone holen. Er tut dies scheinbar mutwillig und ohne Notwendigkeit. Dass in jeder der Figuren etwas Psychopathisches steckt, lässt Meurisse sein Publikum auf derart derbe Art wissen, dass er dabei die Chancen für einen smarten Schlussakt verspielt. Das groteske Spektakel einer mit politischen Seitenhieben ausgestatteten Verwechslungskomödie nicht mit einem dramaturgischen Shootout zu beenden, scheint beinahe fahrlässig. Stattdessen verpufft das Werk nach einigen Gewaltspitzen in ungerechtfertigtem Nichtssagen. Das mag zwar niemand erwartet haben, doch der Faktor des Unerwarteten hat in Plastic Guns ordentlich Ladehemmung.  Schade drum.

Plastic Guns (2024)

Mothers‘ Instinct (2024)

DAS KIND DER ANDEREN

6/10


mothers-instinct© 2024 Ascot Elite


LAND / JAHR: USA 2024

REGIE: BENOÎT DELHOMME

DREHBUCH: SARAH CONRADT, NACH DEM ROMAN VON BARBARA ABEL

CAST: JESSICA CHASTAIN, ANNE HATHAWAY, ANDERS DANIELSEN LIE, JOSH CHARLES, EAMON O’CONNELL, CAROLINE LAGERFELT, BAYLEN D. BIELITZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Werden wir kurz mal biblisch. Denn gäbe es nach den zehn Geboten, die Moses von Gott höchstselbst ausgehändigt bekommen hat, noch ein elftes Gebot, würde dies vermutlich lauten: Du sollst nicht begehren der anderen Kind. Manche würden meinen: Mit diesem Gesetzt würde man offene Türen einrennen, denn als Mutter oder Vater ist man mit dem eigenen Nachwuchs wohl schon genug gesegnet, und gäbe es mal keinen, so ist das der Wille der Erwachsenen oder aber, sofern der Nachwuchs nicht auf natürlichem Wege auf die Welt kommen kann, kann Adoption immer noch ein Ausweg sein. Gott würde wohl mit seinem elften Gebot jene traurigen Gestalten ansprechen, die, längst glücklich mit Tochter oder Sohn, plötzlich kinderlos dastehen. Wenn das Schicksal erbarmungslos zuschlägt, dann ist das das Schlimmste, was einem widerfahren kann: Der Tod des eigenen Kindes. Kultstar Romy Schneider hat das erleben müssen. Sie wird sich davon niemals mehr erholt haben.

Im hochdramatischen Psychothriller Mothers‘ Instinct schickt Kameramann Benoît Delhomme in seinem Regiedebüt zwei schillernde Stars in den Nachbarschaftskrieg und lässt sie zu desperaten Hausfrauen mutieren, die sich beide nichts schenken – schon gar nicht das eigene Kind. Bereits die längste Zeit sind Jessica Chastain als Alice und Anne Hathaway als Celine dicke Freundinnen, die, jeweils gesegnet mit einem Sohn, bereits sowas wie Familie sind. Auf allen möglichen Festivitäten kann die eine nicht ohne die andere. Was wie ein idyllisches, harmonisches Miteinander aus der Epoche der biederen 60er Jahre aussieht, wird wohl bald einer Naturkatstrophe ausgesetzt sein, die das Fundament nicht nur einer Existenz, sondern auch einer innigen Freundschaft zerbrechen lässt. Celines Sohn schließlich, draufgängerisch und unachtsam, fällt von der Balustrade der hauseigenen Loggia mehrere Meter tief. Ein Unglück, das der Kleine nicht überleben und eine ganze Familie in den Abgrund reissen wird. Auf der anderen Seite bleibt Alice – schockiert, tröstender Worte nur schwer mächtig, aber immer noch einen lebendigen Spross an ihrer Seite. Eine Konstellation, die ungute, intuitive Gefühle hochkommen lässt – vorallem jene von Celine, die mitten in ihrer zermürbenden Trauer neidvoll zusehen muss, wie andernorts das Leben weitergeht. Was aus diesem Neid erwächst, der sich kontinuierlich in eigennützigen Aktivitäten Bahn bricht, die den Sohn der anderen stärker an die Trauernde binden soll, nimmt hochdramatische Züge an.

Rein theoretisch hätte man es in Mothers‘ Instinct beim Drama belassen können. Andererseits ist Belhommes verhaltenspsychologischer Thriller das Remake eines bereits 2018 erschienenen belgischen Films selben Titels. Die Thriller-Komponente war wohl auch im Original vorhanden, und vielleicht hat sich diese unter Olivier Masset-Depasses Regie besser integriert. Beurteilen kann ich das nicht, das Remake habe ich dem Original dann doch vorgezogen. Und ja – eine Zeit lang entwickelt Delhommes Interpretation einen ungeheuerlichen, geradezu reißerischen Sog, wenn es darum geht, das tragische Schicksal einer Mutter darzustellen. Anne Hathaway mag in ihrem Schauspiel zwar immer wieder dick auftragen – solange sie die Qual einer Trauer hinter gesellschaftsfähiger Fassade verbirgt, kann sie überzeugen. Chastain steht Hathaway um nichts nach, ihre Paranoia wirkt greifbar – beide liefern sich ein Kopf an Kopf-Rennen, es ist wie das Ringen zweier Profis, zuletzt ähnlich gesehen in May December – zwischen Julianne Moore und Natalie Portman.

Und dann das Abrutschen ins generische, weil routinierte Thrillerkino: Wie so oft in diesem Genre sind psychologische Aspekte sowie die Entwicklung eines pathologischen Verhaltens nichts, womit sich Drehbuchautoren auch wirklich ausführlich beschäftigen wollen. Meist verändern im Laufe der Handlung tragende Charaktere ihre Persönlichkeit um hundertachtzig Grad, was wenig plausibel erscheint. Mothers‘ Instinct spitzt sich zu und ist effektiv, mag aber zu sehr auf Worst Case Szenario gebürstet sein, um die feinen Nuancen der ersten Filmhälfte beizubehalten. Was als Familien- und Freundschaftsdrama beginnt, endet als zynische Schicksalsgroteske. Wer beide Ansätze gut miteinander vereinbaren kann, mag an Mother‘ Instinct Gefallen finden. Ich für meinen Teil finde das Abgleiten ins Triviale nicht nur vorhersehbar. Als sich die Befürchtung, es könnte vielleicht so kommen, bewahrheitet, verliert der Streifen doch etwas an Niveau.

Mothers‘ Instinct (2024)