Sirāt (2025)

TANZEN BIS ÜBER DEN ABGRUND

7/10


© 2025 Polyfilm / The Match Factory


LAND / JAHR: FRANKREICH, SPANIEN 2025

REGIE: ÓLIVER LAXE

DREHBUCH: SANTIAGO FILLOL, ÓLIVER LAXE

KAMERA: MAURO HERCE

CAST: SERGI LÓPEZ, BRUNO NÚÑEZ, JADE OUKID, STEFANIA GADDA, JOSHUA L. HENDERSON, TONIN JANVIER, U. A.

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Der Rhythmus ist ein anderer. Die Wüste weiß schließlich, wie sie tickt. Der Mensch weiß es nicht. Denn er muss tanzen. Irgendwo im Nirgendwo, während andernorts das Ende der Welt naht. So ungefähr könnte man Sirāt in seiner fundamentalsten Aussage zusammenfassen. Nichts anderes als ein erschütterndes Gleichnis will der Franzose Ólivier Laxe seinem Publikum zumuten, und er hat gut daran getan, es so geradlinig wie möglich zu halten.

Beats wie Schicksalsschläge

Alles, alles ist miteinander verbunden, jeder Krieg, jede Qual, jedes nationale Dilemma wird irgendwann Einfluss auf das ganz kleine, einzelne Individuum haben. Wie man es auch dreht und wendet, so sehr man sich auch bemüht, eine befriedigende Freiheit zu erlangen, weil man es satt hat, mit dem Zynismus der Mächtigen konfrontiert zu werden: In Sirāt wird es kaum gelingen, dem Schicksal zu entkommen. Erbaulich ist das nicht. Dafür jedoch faszinierend, hypnotisch, unkonventionell. Und immersiv. Denn Sirāt ist neben all den felssturzschweren Schicksalsschlägen vorallem auch eins: Ein Werk, das durch den Gehörgang kriecht und auf akustischem Wege mit resoluter Willensstärke mitmischt. Als wäre das wieder eine andere Geschichte.

Schon ganz am Anfang beeindruckt das scheinbar surreale Setting der marokkanischen Wüste als Schauplatz für ein tage- und nächtelanges Rave-Happening. Gigantische Soundboxen werden übereinandergestapelt, in strenger Symmetrie arrangiert. Schon bald erklingen stampfende Techno-Hämmer und lassen die Sandkörner vibrieren. Verschwitzte Leiber kommen in den Rhythmus, verfallen in Trance. Fast wäre man bei Gaspar Noé gelandet, wäre da nicht Sergi López, der sich als Störfaktor in seinem ganz eigenen Rhythmus, der den Beats zuwiderläuft, durch die schlingernde Menschenmenge drängt, an seiner Seite sein junger Sohn. Beide suchen Schwester und Tochter, die auf ihrer Reise in der Wüste bald schon nichts mehr von sich hören ließ. Um sie zu finden und zurückzubringen, deswegen sind sie hier – nichtsahnend, wie das funktionieren soll, zumindest aber mit dem Know-How der Verzweiflung gerüstet. Und dann passiert das: Ein dritter Weltkrieg bricht aus, auch Marokko ist beteiligt, Soldaten brechen die Feier ab, Touristen und Abenteurer von außerhalb müssen das Land verlassen. Nicht aber Luis und Esteban, die nicht so weiteres wieder abrauschen können. Sie folgen einem Konvoi aus zwei Bussen, besetzt mit einer Handvoll wagemutiger Aussteiger, die an die mauretanische Grenze wollen, denn dort sollen nochmal die Boxen dröhnen, ein letztes Mal gefeiert werden, so kurz vor dem Weltuntergang. Der Weg durchs Nirgendwo wird fast schon zur Reise eines Captain Willard, der im Dschungel Vietnams den verrückt gewordenen General Kurtz finden muss. Hier sind es ein Vater und sein Sohn, bereit oder auch nicht bereit für ein Abenteuer, das eigentlich nur zum Schlussstrich für so manche wird, die keine Grenzen mehr akzeptieren wollen.

Um die Hölle herum

Wie soll das gehen, in einer Welt voller Grenzen, in der das Machbare zur tödlichen Falle wird? Óliver Laxe setzt sein Publikum erschütternden Wendungen aus, die sich mitunter schwer begreifen lassen. Diese als Ironie des Schicksals zu bezeichnen, klänge fast schon zu banal, zu harmlos, zu wenig reflektiert. Nicht umsonst wählt Laxe Sirāt als Titel, der aus dem Arabischen stammende Begriff beschreibt eine messerscharfe, schmale Brücke über die Hölle, den die Toten überqueren müssen, um ins Paradies zu gelangen. So mancher Pfad durch die Wildnis spiegelt als Sinnbild die klitzekleinen Chancen wider, die ein Mensch haben kann, um sich ins Elysium durchzuboxen.

Was so aussieht wie handfeste Gelände-Safari, wie ein wüstenheisses, immersives, wummerndes Roadmovie, ist gleichsam ein leidensfähiger Abgesang auf Erfüllung und Freiheit. Das klingt ernüchternd, andererseits wird der völlig angstbefreite Stoizismus, kurz gesagt: die Resignation, zum Schlüssel. Nicht für das Angestrebte, sondern für eine völlig andere Neuordnung der Dinge.

Sirāt (2025)

On the Border – Europas Grenzen in der Sahara (2024)

EUROPA ALS FATA MORGANA

7/10


© 2024 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH, SCHWEIZ, DEUTSCHLAND 2024

REGIE / DREHBUCH: GERALD IGOR HAUZENBERGER, GABRIELA SCHILD

KAMERA: THOMAS EIRICH-SCHNEIDER, GERALD IGOR HAUZENBERGER, HAJO SCHOMERUS, JOERG BURGER

MITWIRKENDE: RHISSA FELTOU, TILLA AMADOU, ACHMET DIZI U. A.

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


Die Wüste ist kein Ort, an welchem man dauerhaft verweilt. Sie ist da, um sie zu durchqueren, um von A nach B zu gelangen. Sie ist ein offenes Feld, ein Vakuum, ein wilder Raum, Sehnsuchtsort, Abenteuerspielplatz und Glutofen. Und das schon seit jeher. Die Tuaregs, die wissen das. Denn sie wandern, wenn geht mit Passagieren und Gütern im Schlepptau, die sie an ihr Ziel bringen, meist für gutes Geld, um dann selbst zu überleben. Die Wüste und ihre Gesetze sind auch nichts, worin Europa reingrätschen sollte. Zumindest nicht so wie auf diese Art. Auf eigennützige, und nicht gemeinnützige Art. Mit leeren Versprechungen, schönen Worten und aufgeräumten Spezialistinnen und Spezialisten, die in der Stadt Agadez die geopolitischen Interessen Europas umsetzen und dabei die Bevölkerung instrumentalisieren, um ein Verbot durchzubringen, das die Migration von Ausländern untersagt. Das sind nicht die Gesetze der Wüste, das sind die Gesetze eines fernen Wohlstandskontinents, das keine Flüchtlinge mehr will. Was geht das Ganze Agadez an? Oder den Niger?

Das Regieduo Gerald Igor Hauzenberger und Gabriela Schild begeben sich in den von den Tuareg-Stämmen kontrollierten Norden, um die ganze Sache mal aus der Nähe zu betrachten. Sie tun dabei das, wovon ich selbst schon immer wieder mal geträumt habe, und zwar besuchen sie Agadez, den Handelsknotenpunkt weit nordöstlich der eigentlichen Hauptstadt Niamey – ein Name, der so verlockend, magisch und nach Fernweh klingt wie Timbuktu. Aus der Luft betrachtet ein homogenes Mosaik aus Lehmwürfeln, dazwischen ein labyrinthartiges Straßennetz, irgendwo in der Mitte eine aus Lehm erbaute Moschee mit einem Minarett, das aussieht wie das Kunstwerk eines Visionärs aus archaischen Urzeiten. Überall Wüstensand, der stete Wind bringt auch in die letzten Ritzen das kleinste Körnchen erdgeschichtlichen Klimawandel – und mit dem Wind kommt der Plastikmüll, der sich in den dornigen Ästen der Akazien und wüstenharten Bäume verfängt, als würden im Geäst ganze Schwärme schwarzer Vögel sitzen, die keinen laut von sich geben. Zu hören ist nur das Schlackern der Kunststofffetzen, dazwischen die melodische Stimme des Muezzins, und dann wieder Radio Nomad mit den aktuellen Nachrichten. Am Rande der Stadt Kamelherden, Pick-ups und Busse, völlig überladen mit Menschen, die zu ihrer Arbeit pendeln – oder an die Grenzen Libyens oder Algeriens wollen, warum auch immer. Dass hier noch Leute aus Schwarzafrika dabei sind, die an die Küste des Mittelmeers wollen? Dass das nicht mehr passiert, dafür hat Europa gesorgt. Wie die Leute darauf reagieren, und was sie zu sagen haben, fangen Hauzenberger und Schild über einen Zeitraum von fünf Jahren (2018 bis 2023) in geduldigen Interviews ein, sie lassen den Bürgermeister der Stadt, Rhissa Feltou, der später eine eigene Partei gründen wird, mit klugen, besonnenen Worten genauso zu Wort kommen wie die Radiomoderatorin und Journalistin Tilla Amadou und den Kleinunternehmer und Fremdenführer Achmet Dizi, der unzählige Sprachen spricht, darunter sogar Deutsch, und der ein Potenzial mit sich bringt, das jenes mancher gutsituierter Europäer bei weitem übersteigt. So einen Guide, den hätte man gern.

Europas leere Versprechungen

Durchwoben mit unvergesslichen Bildern einer völlig fremden, anderen Welt stoßen die Filmemacher, denen wirklich viel daran liegt, nicht nur so zu tun als ob, sondern tief in die Grundproblematik einer Gesellschaft einzudringen, auf die Weisheit der Wüste, die sich in wertebewussten und erfrischend vorausschauenden Worten so mancher Nigrer offenbart. Während Europa glaubt, ein ganzes Volk mit falschen Versprechungen zu ködern, denn darauf läuft es hinaus, haben jene, die es betrifft, längst überrissen, welches Spiel hier gespielt wird. Doch Hauzenberger und Schmid bleiben Beobachter, sie sind keine Aktivisten und sie rennen auch nicht verschlossene Türen ein. Ihr Konzept eines Dokumentarfilms alleine ergibt ganz wie von selbst eine bittere Conclusio.

Was dabei aber trotz der genauen Beobachtungsgabe außen vor bleibt, ist die Annäherung an die wirklich Armen, Besitzlosen, die jeden Tag ums Dasein ringen. Vielleicht wollten sie auch nicht vorgeführt werden, vielleicht ist es auch der selbstverständliche Respekt des Regie-Duos, der sie dazu zwingt, selbst niemanden zu instrumentalisieren. Wir sehen Agadez zwar aus einem ganz bestimmten Blickwinkel, nämlich aus jenem der beleseneren, weltoffenen Elite des Landes, allerdings räumt On the Border – Europas Grenzen in der Sahara mit so manchen Vorurteilen auf, die bis heute dazu beitragen, die Wüste als einen gesetzlosen, leeren Raum voller Banditen und Abenteurer wahrzunehmen, wie damals im romantischen Zeitalter der Entdeckungen rund um Heinrich Barth. Diese Epoche ist längst vorbei, die Wüste lebt, sie schläft nicht. Und weiß genau, wie die Welt sie in die Mangel nimmt.

On the Border – Europas Grenzen in der Sahara (2024)

Ich Capitano (2023)

MOSES DER MIGRANTEN

6,5/10


ichcapitano© 2023 Greta De Lazzaris / X Verleih AG


ORIGINALTITEL: IO CAPITANO

LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN 2023

REGIE: MATTEO GARRONE

DREHBUCH: MATTEO GARRONE, MASSIMO GAUDIOSO, MASSIMO CECCHERINI, ANDREA TAGILAFERRI

CAST: SEYDOU SARR, MOUSTAPHA FALL, ISSAKA SAWAGODO, HICHEM YACOUBI, DOODOU SAGNA, KHADY SY, VENUS GUEYE, CHEICK OUMAR DIAW, BAMAR KANE U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Willkommen im Flüchtlingszeitalter. Dabei gab es dieses Phänomen der Migration schon, seit es Menschen gibt, betrachte man nur die Umwälzungen während der Völkerwanderung. Heutzutage sind es wieder mal Kriege im Nahen und europäischen Osten, die dazu geführt haben, dass von Syrien bis in den Iran Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen. Die Rede ist von Flüchtlingen, die gar nicht anders können, als ihre eigene Haut retten zu müssen. Und dann gibt es jene, die weder verfolgt noch diskriminiert noch anderweitig bedroht werden, aber dennoch nicht hinnehmen wollen, in einem Land zu leben, das keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten bietet. In Anbetracht dieser ernüchternden Umstände erscheint das nicht allzu ferne Europa als ein Land, in dem Milch und Honig fließen, als gelobter Boden, auf dem alles machbar scheint. Ganz egal, wer oder was Entwicklungsländern dieses Bild vermittelt – das Ideal eines paradiesischen Europas kann so nicht stimmen. Aufklärungsarbeit hinsichtlich dessen zu leisten, was Europa im Idealfall versprechen könnte und wieviel gleichzeitig auch nicht, könnte manchen Young Adult wie in Matteo Garrones Film vielleicht nochmal darüber reflektieren lassen, was im eigenen Land nicht vielleicht doch alles möglich wäre – und ob es die Reise ins Ungewisse wirklich lohnt, um dann, irgendwo weit weg von Heimat, Familie und allem Vertrauten, in einem Asylheim auszuharren, während der Traum von Reichtum und Ruhm zusehends verblasst.

Diese naive Vorstellung vom Leben in Saus und Braus als Star der Musikbranche treibt den 16jährigen Seydou dazu an, gemeinsam mit seinem Cousin Moussa die Hauptstadt des Senegal und somit auch die Familie zu verlassen, um ein besseres Leben zu beginnen. Dabei ist jenes in Afrika nun mal nicht das Schlechteste. Zugegeben, das Zuhause könnte ein Upgrade vertragen, beim Lebensstandard gäbe es Luft nach oben. Doch mit Ehrgeiz, Willenskraft und all dem Ersparten, dass Seydou und Moussa ohnehin zur Seite gelegt haben, könnte man es auch im Senegal zu etwas bringen, Beziehungen gäbe es genug. Den beiden ist das zu wenig. Europa ist das Ziel, und dafür würden alle Gefahren dieser Welt sie nicht aufhalten. So beginnt eine abenteuerliche Reise quer über die Nordhälfte des afrikanischen Kontinents – über Mali, den Niger bis nach Libyen und von dort sollte es per Flüchtlingsboot nach Italien gehen. Eine Entbehrung folgt der nächsten, der Marsch durch die Wüste wird zu einem Gewaltakt und eine Probe auf Leben und Tod. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, werden Seydou und Moussa von libyschen Banditen überfallen, der eine kommt ins Gefängnis, der andere wird in die Sklaverei verkauft. Eine Prüfung folgt der nächsten, am Ende mag Seydou die Verantwortung tragen für ein Schiff voller Menschen. Ich Capitano wird der Teenager über die Köpfe seiner Schützlinge brüllen – er wird sich fühlen wie Moses, der eine Gefolgschaft ins gelobte Land führt.

Matteo Garrones entbehrungsreiches, üppig bebildertes Roadmovie war dieses Jahr für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Eine Auszeichnung, die gerechtfertigt ist? Es kommt darauf an, zu welchen Gedankengängen das Werk inspiriert.

Garrone ist einer, der in seinen Werken stets in sattem Naturalismus schwelgt, der nicht selten in rauer Gewalttätigkeit mündet. Seine Macht-Parabel Dogman ist schwere Kost, alternativ dazu gelingt ihn mit seinen düster-vernebelten Interpretationen barocker italienischer Märchen (Das Märchen der Märchen) und Collodis Volksklassiker Pinocchio eine Abkehr von schmeichelnder Lieblichkeit hin zu einem blutig-bizarren Maskenball. Ich Capitano zögert an manchen Stellen auch nicht, deftig auszuteilen, was insbesondere die Darstellung der libyschen Gefangenschaft betrifft. Darüber hinaus aber könnte man Garrones Direktheit fast schon vermissen. Die Reise seines alttestamentarischen Auserwählten überwindet zwar allerhand Hürden, doch die helfende Hand von etwas übergeordnet Schamanistischem scheint den jungen Seydou voranzuschubsen. Knallharter Kinorealismus sucht man vergeblich, auch wenn sich alles und zumindest visuell so anfühlt, als wäre es das. Ich Capitano ist immer noch entrückt magisch, wie eine leicht verschobene, beinharte Realität, und es ist nie klar zu sagen, ob die metaphysischen Elemente des Films Garrones Universum tatsächlich durchdringen oder nur Träumereien sind.

Letztlich ist es kaum zu glauben, dass diese Odyssee wirklich gelingt. Als zu simpel stellt der Film manches dar, der Hang zur Romantisierung ist unverkennbar. Was aber nicht heisst, dass Ich Capitano nicht weiß, wie er sein Publikum packt. Die Fahrt übers Meer gestaltet sich als kakophonisches Chaos aus darbenden Menschen, denen Seydou den Segen bringt. So etwas in Szene zu setzen bedarf Können, und Garrone sind dahinsichtlich meisterhafte Momente wohlwollenden Pathos gelungen, der sich dadurch in Zaum hält, das Schicksal einer Eroberung Europas nicht auszuerzählen.

Ich Capitano (2023)