The Echo (2023)

DAS KINDERDORF IM NIRGENDWO

5/10


eleco© 2023 The Match Factory


LAND / JAHR: MEXIKO, DEUTSCHLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: TATIANA HUEZO

CAST: MONTSERRAT HERNÁNDEZ, MARÍA DE LOS ÁNGELES PACHECO TAPIA, LUZ MARÍA VÁZQUEZ GONZÁLEZ, SARAHÍ ROJAS HERNÁNDEZ, WILLIAM ANTONIO VÁZQUEZ GONZÁLEZ U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Das Dorf in Puebla, dem zentralen Hochland Mexikos, ist nicht mal ein Dorf, so wie wir diesen Begriff verstehen würden – mit Kirche, Supermarkt und Gemeindeamt. Dieses Dorf, genannt El Eco – The Echo, ist mehr eine Ansammlung achtlos hingeworfener Häuser, erbaut aus den Mitteln, welche die Natur so hergegeben hat. Zwischen diesen Kabuffs ist da wenig, außer Grasbüscheln, Sumpf und irgendwo dahinter der Wald, aus dem die Kinder – derer gibt es viele – Holz holen und illegale Kahlschläger dabei beobachten, wie diese sich an den Ressourcen anderer vergreifen. Zwischen diesen Grasbüscheln, auf den Wiesen, weiden schwarzgesichtige Schafherden, wovon so manches unerfahrene Jungtier, neugierig wie tollkühne Menschenkinder auch, den Weg ins Wasser wählt. So ein Tier ist wertvoll und muss natürlich gerettet werden. Auch die Familie hat ein hohes Ansehen, auch sie ist nichts, dem man den Rücken kehrt, hat man vielleicht vor, die von Wind und Wetter dirigierte Monotonie eines immer gleichen Alltags hinter sich zu lassen, um vielleicht gar Tierärztin zu werden. Auf Dauer ist das Leben für den nicht mehr ganz so jungen Nachwuchs eine, die nichts zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit bereithält. Als Tochter oder Sohn, als Enkel oder Urenkel ­– El Eco unterwirft sein Volk starren Stereotypen und patriarchalen Strukturen. Die Pflicht, sich um die Großmutter zu kümmern, ist eine davon. Sie muss gewaschen, geschniegelt, gefüttert und niedergelegt werden. Die Oma ist die älteste im Dorf, sie hat alles schon erlebt. Zahnlos, mit mattem Blick, aber immer noch recht hell im Oberstübchen, weiß sie wohl, dass sie bald abtreten wird. Hier, in El Eco, hat man einfach im Gefühl, was kommen wird.

Ob die vom Leben und seinen Entbehrungen gezeichnete Alte wohl wirklich, während der Dreharbeiten, das Zeitliche gesegnet hat? Ob der Begräbnisgang echt und nicht nur gestellt war? Tatiana Huezo, bekannt für ihren Mädchenraub-Thriller Noche de Fuego, der 2021 ebenfalls auf der Viennale lief, hat die wohl tatsächlich existierende Dorfgemeinschaft als Grundlage für eine Szenensammlung auserwählt, die irgendwo, recht ungenau, zwischen Dokumentation und bewusster Inszenierung liegt. Den Alltag zu beobachten ist eine Sache, die Bewohner des Dorfes genau das machen zu lassen, was sie immer tun, und zwar extra für die Kamera, eine andere. Für eine reine Dokumentation sind die satten Bilder, die Ernesto Pardo kreiert, trotzdem sie unter dem Zauber des natürlichen Lichts stehen, ausgesucht arrangiert, zu sehr auf den Punkt genau eingefangen. Eben wie ein Spielfilm – der allerdings keine Handlung hat.

Viele Gesichter wechseln sich ab, am einprägsamsten bleibt wohl Montserrat Hernández, genannt Montse, die Großmutters Wohlbefinden zu garantieren hat, bevor sie ihre Sachen packt und grußlos verschwindet, nachdem ihr Mama verboten hat, bei einem Pferderennen – natürlich nichts für Mädchen – mitzumachen. Die jüngeren Kids sind leicht zu verwechseln, in Wahrheit sind es drei – oder gar vier Familien, die in manchmal viel zu kurzen Szenen beobachtet (oder eben inszeniert) werden. Da lässt man sich mal ein auf das faszinierende Gespräch unter Kindern, wie denn der Mensch auf den Mond kommt, schon drängt Tatiana Huezo ihr Publikum zur nächsten Szene, zur nächsten Hütte oder in den Wald. Und dann hören wir das Echo, wofür wohl der Ort hier seinen Namen trägt. Das Rufen als Teil eines experimentellen Schabernacks hallt zurück und trägt durch seine akustische Besonderheit wesentlich dazu bei, dass all die vielen Kinder hier wohl kaum die Chance bekommen könnten, die Spirale aus Tradition, Verpflichtung und zeitlosem Ist-Zustand zu durchbrechen. Natürlich lässt sich diese Idee aus einem subjektiv zusammengestückelten Bilderreigen extrahieren, doch seltsamerweise ist das nicht nur den langsam erwachsen werdenden Frauen hier zu wenig, sondern auch dem Filmgenuss. Immerhin ist die Bildwelt ein Traum, bestehend aus Detailaufnahmen und weiten Schwenks, die sich abwechseln. Wenn Schafe übers Gelände hetzen, hetzt die Kamera mit. Das ist pittoresk, von einer ehrlichen Wildheit. Erdige Reportage für das Weltmagazin unserer Wahl.

Das dabei die großen Fragen nach einem Umdenken verknöcherter und niemals hinterfragter Strukturen nur kleinlaut gestellt werden, ist der volatilen Blickweise geschuldet, die keinerlei Konfrontation sucht. Wenn der Mittagsteller des Jungen gefälligst nicht von ihm selbst abgeräumt werden darf, weil das Frauensache ist, mag man schon alarmiert die Stirn runzeln. Wenn der Ehemann, sowieso die ganze Zeit in der fernen Stadt die Früchte ihrer Landwirtschaft feilbietend, nur dämlich lächelt, wenn seine Frau mal vorschlägt, die Rollen zu tauschen, würde sich Huezo wohl wünschen, einen Stein ins Rollen zu bringen, um die Kruste des Gestern hier aufzubrechen. Doch dafür fehlt die Vehemenz, die Beständigkeit, der Wille zur Reibung. The Echo mag zwar staunend anzusehen sein, all die Momente sind in ihrer Summe aber wie das Zappen durchs Kabelfernsehen. Und wir wissen, sowas ermüdet.

The Echo (2023)

Lamb

SCHAFE IM NEBEL

6/10


lamb© 2021 Koch Films


LAND / JAHR: ISLAND, SCHWEDEN, POLEN 2021

BUCH / REGIE: VALDIMAR JÓHANNSSON

CAST: NOOMI RAPACE, HILMIR SNÆR GUÐNASON, BJÖRN HLYNUR HARALDSSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Kleiner Tipp: Wenn man mal genug hat vom Einheitsbrei bei vorwiegend US-amerikanischen Filmen, lässt sich mit so einigen europäischen Produktionen auch des letzten Jahres frischen Wind durchs Oberstübchen blasen. Da sind innovative Arbeiten dabei, und falls aber keine Lust dazu besteht, das Filmschaffen akribisch zu durchforsten, braucht man nur übers Meer nach Norden schielen, auf eine bei Touristen sehr beliebten, unwirtlichen und von vulkanischen Aktivitäten überbeanspruchten Insel – nämlich Island. Von dort kommen garantiert und in regelmäßigen Abständen Filme, deren Inhalt und Machart zum Glück und bewusst nicht in Auftrag gegebenen Zuschaueranalysen unterliegen, sondern gegen den Strich und quergebürstet sind. Sie wollen weder gefällig sein noch ihre Geschichten auf Biegen und Brechen auserzählen. Es sind Filme, die über unerschlossenes Terrain querfeldein gehen, um auf andere Dinge zu stoßen. Dafür muss man neugierig genug sein. Und neugierig genug wird man auch bei Lamb, einem rustikalen Mysterydrama, das Mensch und Natur gegeneinander ausspielt.

Viel passiert nicht, hier irgendwo im Nirgendwo der Insel, an den Hängen schroffer Gebirgszüge – dort, wo sich stets der Nebel sammelt und man keine Handbreit weit sehen kann. Dort leben die Schafzüchter Maria und Ingvar in trauter und trostloser Zweisamkeit, gemeinsam mit einer Herde an blökendem Nutztier, denen am Weihnachtsabend Seltsames widerfährt. Eines Tages im Frühling, als das große Werfen beginnt, kommt ein Jungtier zur Welt, dass anders aussieht als alle anderen. Es ist halb Mensch, halb Schaf – ein kniehoher Mini-Minotaurus ohne Hörner und mit viel Schlafbedürfnis. Das Ehepaar sieht in diesem Wunder einen Segen und betrachtet das Wesen fortan als Teil der Familie. Pétur, der Bruder des Ziehvaters, der eines Tages antanzt, traut seinen Augen nicht und interveniert zugunsten der Vernunft.

Letztes Jahr lief Lamb im Rahmen des Slash Filmfestivals in Wien – nun, endlich, ist dieser von mir heiß ersehnte Streifen auch an den regulären Kinos gestartet. Was man erwarten darf, ist höchst lakonisches Kino aus dem Norden. Viel gesprochen wird nicht, dafür umso mehr haben die Schafe und Lämmer das Sagen, während das irritierende Wunderwesen meist nur einzelne Laute von sich gibt. Ein bisschen Eraserhead, ein bisschen Jan Svankmajer schwingt mit – mit Midsommar gibt’s bis auf den Blumenkranz auf Adas Haupt (so der Name des Lamms) keine Gemeinsamkeiten. Noomi Rapace gibt eine zurückhaltende Performance, und irgendwie ist jeder aufgrund der landschaftlichen Einschicht nicht ganz auf der Höhe. Um diese Atmosphäre des Weltfremden, aber Naturverbundenen zu erzeugen, lässt sich Valdimar Jóhannsson jede Menge Zeit. Zumindest Anfangs. Der Plot seiner Geschichte ist im Grunde faszinierend, ambivalent und bizarr. Klar lässt sich da jede Menge rausholen und auf die Metaebene wuchten, die das Verhältnis des Menschen zur Natur grimmig beleuchtet. Das Mischwesen als zerrissener Weltenvermittler wäre eine wunderbare Allegorie auf unser Verständnis für den blauen Planeten – jedoch fällt dem Filmemacher das Potenzial nicht gerade in den Schoß. Er weiß zwar, wohin der rote Faden seiner Fabel führt, folgt ihm aber zeitweise nur ungern, sondern holt sich dramaturgisch erprobte Lückenfüller, welche die Story aber nicht voranbringen, sondern vielmehr aufweichen. Es ist wie das Warten auf den großen Knall, der vielleicht dieses auf folkloristischen Mythen basierende Mysterium lüften kann. Meiner Erfahrung nach braucht man im Kino Islands auf so etwas nicht hinfiebern. Wie in der stilistisch verwandten Netflix-Serie Katla ist das Metaphysische in dieser Welt einfach da und stets plausibel. Mehr muss man nicht wissen. Was man bei Lamb jedenfalls erfährt, ist eine kuriose Situation des Unnatürlichen, die den Besuch im Kino erstmal lohnt, sich aber viel zu lange ziert, auf Konfrontation zu gehen.

Lamb

Sture Böcke

BRÜDER IN DER NOT

7/10

 

stureboecke

LAND: ISLAND 2015
REGIE: GRIMUR HAKORNASON
MIT SIGURDUR SIGURJONNSON, THEODOR JULIUSSON 

 

Ein Leben ohne Schafe ist doof. Ein Leben in der Einsamkeit, irgendwo zwischen den unwirtlichen Hügel Islands ebenso. Dabei wäre diese Tristesse gar nicht notwendig. Wäre da nicht dieser Bruderzwist. Aber den kann Mann jahrzehntelang hinnehmen, solange Mann seine Schafe hat. Die Schafe, die sind das um und auf hier draußen im Norden. Mit den Schafen steht man morgens auf und legt sich abends ins Bett. Da kräht kein Hahn mehr. Da blöken Schafe. Und die übertönen die zum Himmel schreiende Ignoranz zwischen den benachbarten Brüdern. Bis es soweit kommen muss – bis eines der Schafe an Scrapie erkrankt, einer dem BSE ähnlichen Gehirnkrankheit, die sich womöglich auch auf den Menschen übertragen kann. Aus ist’s mit dem Schäfchenzählen. Die beiden rauschebärtigen Brummbären sind von nun an auf sich allein gestellt – und, wie es der Zufall oder sogar das Schicksal will – plötzlich aufeinander angewiesen.

So unwirtlich, rau und spröde der Menschenschlag, die Gegend und das Austauschen von Höflichkeiten, so unwirtlich, rau und spröde ist Grimur Hakornason´s Film geworden. Ein typisch isländischer, gnadenlos lakonischer Heimatfilm. Skurril zwar, aber keinstenfalls gewollt humorvoll, sondern vielmehr tragisch und bitter. Es ist ein Film, der Liebhabern von Shaun, dem Schaf oder verloren dreinblickendem Wollvieh aller Art die Tränen in die Augen treiben wird. Dabei gibt es, wenn ich mir die Neugründung eines kinematographischen Subgenres erlauben darf, unter den Schaf-Filmen gar nicht mal so wenige Kandidaten. Ich brauche zwar keine zwei Hände dafür, aber eine alleine wird schon knapp. Von Sheridan´s Das Feld über Ein Schweinchen namens Babe bis zu dem Horrortrash Black Sheep erfreuen sich die streichelfreudigen Wiederkäuer einer gewissen schrägen Beliebtheit. Und man muss diese Tiere einfach gerne haben, mit oder ohne Hörner. Als Lamm oder Bock. Als Weste oder Feta. Genauso geht es den beiden älteren Herren, die in der Not wieder zueinander finden, obwohl man im Laufe des Films nie so genau weiß, auf welcher enttäuschenden Erfahrung das frostige Verhältnis der beiden überhaupt beruht. Doch wie das bei innerfamiliären Zwistigkeiten meist so ist, will keiner der beteiligten Parteien der Klügere sein und nachgeben. So eine Sturheit bleibt nur noch zum Selbstzweck aufrecht, die Gründe dafür sind dann meist vergessen.

So fällt auch in Sture Böcke kaum ein Wort darüber, was gewesen ist. Und es fallen auch sonst keine vielen Worte zwischen den beiden Männern. Ihr Sprachschatz ist von gebärdender Natur, ihr Tun spricht Bände. Wenn es um die gemeinsame Existenz geht, gehen die Brüder aufs Ganze. Und am Ende, da zeigt das isländische Kino wieder einmal, wie unkonventionell anders es sein kann – und darf. Nicht umsonst beweisen Werke wie Virgin Mountain oder Noi Albinoi eine gewisse gesunde Ignoranz gegen gefällige Sehgewohnheiten. Diese Filme bleiben sich selbst treu und sind meist bereichernd. Und Sture Böcke, der gehört fortan auch dazu.

Sture Böcke