Alcarràs – Die letzte Ernte

DER BISS IN DEN SAUREN PFIRSICH

6,5/10


alcarras© 2022 Piffl Medien


LAND / JAHR: SPANIEN, ITALIEN 2022

BUCH / REGIE: CARLA SIMÓN

CAST: JORDI PUJOL DOLCET, ANNA OTIN, XÈNIA ROSET, ALBERT BOSCH, AINET JOUNOU, JOSEP ABAD, MONTSE ORÓ, CARLES CABÓS, BERTA PIPÓ U. A.

LÄNGE: 2 STD


Wir haben bereits September, das Ende des Sommers kündigt sich mit morgendlicher Frische und früher Dunkelheit an. Auch sehen die Kastanienbäume nicht mehr so aus, als hätten sie gerade die Zeit ihres Lebens. Der Herbst steht vor der Tür, ich freu mich drauf. Andere freuen sich weniger. So zum Beispiel jene Bauernfamilie aus Katalonien, die ihren letzten heißen Sommer inmitten früchtetragender Pfirsichbäume verleben muss, denn was nach der letzten Ernte mit all den Hektar Land hier passieren wird, gleicht einem Albtraum für jene, die schon seit Generationen, ähnlich wie die freudestrahlenden Bauern in der San Lucar-Werbung, handverlesene Landwirtschaft betreiben und die Nachhaltigkeit auf eine Weise leben wie sonst nur in den Ja natürlich!-Heftchen für die Kleinen. Man möchte es kaum glauben, aber dort, im glutheißen Alcarràs, wo jedes Tröpfchen Wasser wohldosiert sein muss und das rotgoldene Obst so behandelt wird, als wären es lebendige Wesen, scheint die Idylle eines Bauernlebens gerade im Sommer, wenn die kleinen Kinder ihre Abenteuer erleben und der Patriarch seinen Sohn einspannt, vollkommen.

Der Albtraum macht sich bereits auf der anderen Seite der Landstraße bemerkbar – es sind Solarpaneele, die, zu Plattformen zusammengesteckt, natürlich nachhaltigen und umweltfreundlichen Strom erzeugen sollen. Die Sonne scheint für alle und immer, teuer ist hier nur das Equipment. Bald soll es auch den Pfirsichbauern von Alcarràs so ergehen, denn das Land, auf welchem sie ihre Erträge sichern, gehört eigentlich einem reichen und in die Zukunft investierenden Grundbesitzer. Dessen Großvater aber habe zum Dank dafür, ihn während der Franco-Diktatur versteckt zu haben, besagter Familie den Boden unbefristet zur Verfügung gestellt. Blöd nur, dass es dafür keine Belege gibt, sondern nur einen feuchten Händedruck, der den Deal besiegelt haben soll. Opa ist verzweifelt, denn damals war das alles anders. Der Vater ackert sich zum Krüppel, und die Mutter versucht, die Idylle gerade noch zusammenzuhalten, während die Tochter ihrem Teenagerdasein frönt, mit allen Allüren. Für die ganz Kleinen ist alles ein Spiel, die verbringen den Sommer wie einen von damals – barfuß, schmutzig, im Geröll der Landschaft umhergeisternd und tote Kaninchen bergend, die eine Plage für den Bauern sind.

All diese Beobachtungen eines Sommers hat Carla Simón mit ihrem Langfilmdebüt auf ein atmosphärisch dichtes Familienportrait komprimiert, das in seiner Intensität russischen Gutshofdramen von Tschechow oder Tolstoi in nichts nachsteht. Mit der Sonne im Rücken oder aufs verschwitze Gesicht, feiern eine Vielzahl an Familienmitgliedern – vom sinnierenden Großvater bis zum kleinen Mädel, das ihren Cousins zeigt, wo s langgeht – die Anstrengung getaner Arbeit, den süßen Saft reifer Pfirsiche, der beim Reinbeißen über die Finger rinnt oder das entspannte Miteinander im kühlen Inneren des Hauses während der Siesta. In Alcarràs – Die letzte Ernte ist die Stimmung das Juwel des Films, und Simon hält sich wider Erwarten mit den Gedanken ans Ende einer Idylle nicht zu lange auf. Wie ein Damoklesschwert hängt die bittere Zukunft über dem Gut, doch das trübt den Sommer nur bedingt. Die Familie existiert in einem unverwundbaren Jetzt. Nur manchmal dringt die Wahrheit an den Tag, wenn Papa Quimet seine Tränen nicht mehr halten kann.

Wie Tschechow oder Tolstoi ist Alcarràs – Die letzte Ernte dann doch nicht geworden. Was fehlt, ist die Dysfunktionalität der Familie, der vergrabene Kummer, das Unverziehene. Simón lässt keine zwischenmenschliche Tragödie vom Stapel, sondern lobt letztendlich den Schulterschluss vor einer unausweichlichen Veränderung. Durch ihr weitgehendes Weglassen eines irreversiblen Dramas, das zum Drama des Wertverlustes noch hinzukommt, bleibt Alcarràs nur der Sommer in all seiner Expressivität, eingefangen in distanzlosen Bildern, die man fast schon riecht und schmeckt. Zwei Stunden Kino geraten dabei aber fast schon zu lang, das Ansehen alltäglicher Ereignisse und spanischer Dorffolklore erschöpft auf Dauer dann schon etwas, und man fragt sich, ob die Kritik an der Weltwirtschaft nicht etwas zu resignativ ausfällt. Im Gegensatz dazu hat der ebenfalls spanische Film El Olivo – Der Olivenbaum aus dem Jahr 2016 deutlich mehr zu sagen.

Alcarràs – Die letzte Ernte

Gunda

DIE SAU RAUSLASSEN

5/10


gunda© 2021 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: NORWEGEN, USA 2020

REGIE: VICTOR KOSSAKOVSKI

BUCH: VICTOR KOSSAKOVSKI, AINARA VERA

KAMERA: EGIL HÅSKJOLD LARSEN, VICTOR KOSSAKOVSKI 

LÄNGE: 1 STD 33 MIN


Ich fröne ja nur ungern fremdsprachigen Filmen im Original, dessen Sprache und Dialekt ich nicht mal ansatzweise verstehe, die aber auch nicht untertitelt sind. Gut, man könnte sich mehr schlecht als recht den Plot zusammenreimen, jedoch zum Filmgenuss gedeiht diese Sichtung nicht wirklich. Ist es allerdings ein fremdsprachiger Film im Original, für den es ganz einfach keine Untertitel gibt, da die Sprache niemand versteht, wäre das ein bisschen etwas anderes. In Gunda zum Beispiel lässt sich die Sprache – meist grunzend, guttural oder grölend – zwar nicht im Mindesten verstehen, dafür aber lässt sich schon aufgrund das tierischen Verhaltens so manche Bedeutung ableiten. Und zugegeben: so komplex ist die Handlung des vorliegenden Dokumentarfilms auch nicht, um durcheinanderzugeraten.

Das Beste an Gunda ist, neben all der künstlerischen Optik, dass die Bühne dieses Films voll und ganz den Tieren gehört, und diese grunzen, gurren und grölen, wie der Tag lang ist, ohne von einem Erklärbär aus dem Off auf die Protagonisten eines weiterbildenden Schulfernsehens getrimmt zu werden. Der Mensch hat hier nur im weitesten Sinn Bedeutung, alle anderen Einflüsse bleiben außen vor. So sehen wir, wie die Sau Gunda zu Beginn des Films ihre Jungtiere zur Welt bringt – und wie diese dann im Laufe der Zeit älter, größer, vorlauter werden, immer noch quirlig und treu der Mama folgend, an Zitzen saugend, quengelnd. Als Intermezzi dienen Hühner (darunter eine einbeinige Virtuosin) und Rinder. Wie das allerdings so läuft auf einer Farm, ist dem Vieh, das dort lebt, etwas ganz anders bestimmt als ein ruhiger Lebensabend. Auch das widerfährt der Familie Sus scrofa domesticus, und plötzlich wirken die für uns von kleinauf vertrauten Fleischlieferanten in ihrer Trauer und Ratlosigkeit gar nicht mal mehr so unmenschlich. Am Ende gibt Gunda zu denken – doch das in die Länge gezogene Davor tarnt den Content für einen beeindruckenden Kurzfilm mit dem Selbstbewusstsein eines abendfüllenden Leinwanderlebnisses.

So niedlich und gleichermaßen faszinierend die jungen Trüffeldinger auch sind, so prachtvoll Victor Kossakovski diesen Alltag zwischen Hof und Wald auch eingefangen hat, mit schönen Unschärfezooms und Weitwinkel-Tableaus, so kurzatmig gibt sich die Collage an Szenen, die wiederholt stets das gleiche tierische Verhalten beobachten. Auf die Dauer ist das zwar immer noch schön fotografiert und süß – Mehrwert bringt es keinen mehr. Einen Urlaub am Bauernhof dagegengesetzt, wäre der zwar nicht schwarzweiß, aber immerhin aufschlussreicher, weil dort womöglich das Interagieren verschiedenster Tierarten gegeben wäre, die ich in Gunda allerdings vermisse. Darüber hinaus wurde die von allem artifiziellen Beiwerk befreite Doku an drei verschiedenen Orten gefilmt. Das ergibt weniger Sinn als würde sich Kossakovski auf einen Ort des Zusammenlebens konzentrieren.

Würde man Kuh und Huhn weglassen – die ebenfalls nicht viel Aufschluss bieten – und würde man viel zu lange Takes etwas kürzen; würde man die glücklichen Stunden der Ferkel vielmehr auf wesentliche Momente reduzieren, stünde einem Bravo für einen tierrechtlich relevanten, intensiven Kurzfilm in einer Sprache, die wir nicht kennen, nichts mehr im Wege.

Gunda

Sture Böcke

BRÜDER IN DER NOT

7/10

 

stureboecke

LAND: ISLAND 2015
REGIE: GRIMUR HAKORNASON
MIT SIGURDUR SIGURJONNSON, THEODOR JULIUSSON 

 

Ein Leben ohne Schafe ist doof. Ein Leben in der Einsamkeit, irgendwo zwischen den unwirtlichen Hügel Islands ebenso. Dabei wäre diese Tristesse gar nicht notwendig. Wäre da nicht dieser Bruderzwist. Aber den kann Mann jahrzehntelang hinnehmen, solange Mann seine Schafe hat. Die Schafe, die sind das um und auf hier draußen im Norden. Mit den Schafen steht man morgens auf und legt sich abends ins Bett. Da kräht kein Hahn mehr. Da blöken Schafe. Und die übertönen die zum Himmel schreiende Ignoranz zwischen den benachbarten Brüdern. Bis es soweit kommen muss – bis eines der Schafe an Scrapie erkrankt, einer dem BSE ähnlichen Gehirnkrankheit, die sich womöglich auch auf den Menschen übertragen kann. Aus ist’s mit dem Schäfchenzählen. Die beiden rauschebärtigen Brummbären sind von nun an auf sich allein gestellt – und, wie es der Zufall oder sogar das Schicksal will – plötzlich aufeinander angewiesen.

So unwirtlich, rau und spröde der Menschenschlag, die Gegend und das Austauschen von Höflichkeiten, so unwirtlich, rau und spröde ist Grimur Hakornason´s Film geworden. Ein typisch isländischer, gnadenlos lakonischer Heimatfilm. Skurril zwar, aber keinstenfalls gewollt humorvoll, sondern vielmehr tragisch und bitter. Es ist ein Film, der Liebhabern von Shaun, dem Schaf oder verloren dreinblickendem Wollvieh aller Art die Tränen in die Augen treiben wird. Dabei gibt es, wenn ich mir die Neugründung eines kinematographischen Subgenres erlauben darf, unter den Schaf-Filmen gar nicht mal so wenige Kandidaten. Ich brauche zwar keine zwei Hände dafür, aber eine alleine wird schon knapp. Von Sheridan´s Das Feld über Ein Schweinchen namens Babe bis zu dem Horrortrash Black Sheep erfreuen sich die streichelfreudigen Wiederkäuer einer gewissen schrägen Beliebtheit. Und man muss diese Tiere einfach gerne haben, mit oder ohne Hörner. Als Lamm oder Bock. Als Weste oder Feta. Genauso geht es den beiden älteren Herren, die in der Not wieder zueinander finden, obwohl man im Laufe des Films nie so genau weiß, auf welcher enttäuschenden Erfahrung das frostige Verhältnis der beiden überhaupt beruht. Doch wie das bei innerfamiliären Zwistigkeiten meist so ist, will keiner der beteiligten Parteien der Klügere sein und nachgeben. So eine Sturheit bleibt nur noch zum Selbstzweck aufrecht, die Gründe dafür sind dann meist vergessen.

So fällt auch in Sture Böcke kaum ein Wort darüber, was gewesen ist. Und es fallen auch sonst keine vielen Worte zwischen den beiden Männern. Ihr Sprachschatz ist von gebärdender Natur, ihr Tun spricht Bände. Wenn es um die gemeinsame Existenz geht, gehen die Brüder aufs Ganze. Und am Ende, da zeigt das isländische Kino wieder einmal, wie unkonventionell anders es sein kann – und darf. Nicht umsonst beweisen Werke wie Virgin Mountain oder Noi Albinoi eine gewisse gesunde Ignoranz gegen gefällige Sehgewohnheiten. Diese Filme bleiben sich selbst treu und sind meist bereichernd. Und Sture Böcke, der gehört fortan auch dazu.

Sture Böcke