Europa (2023)

DIE DIPLOMATIE DER ENTEIGNUNG

6,5/10


europa© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2023

REGIE / DREHBUCH: SUDABEH MORTEZAI

CAST: LILITH STANGENBERG, TOBIAS WINTER, JETNOR GOREZI, STELJONA KADILLARI, MIRANDO SYLARI, JEFF RICKETTS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 38 MIN


Welche dunkle Macht hier im Hintergrund ihre Fäden zieht, darüber werden weder all jene, die ihre Heimat verlieren, Klarheit erhalten, noch das Publikum dieses Films, der den auf so vielen Ebenen interpretierbaren Titel Europa trägt. Europa, das kann alles sein. Die Gemeinschaft der Europäischen Union, der wilde Osten, die Konzernpolitik oder vielleicht auch nur die Figur aus den antiken griechischen Heldensagen, die dem Kontinent ihren Namen gab. Europa ist ein diffuses Konstrukt, mehr als nur das Festland, in diesem Fall aber eine kapitalistische Söldnertruppe, die für Großkonzerne die Vorhut macht. Diese wabernden Machtkonstrukte sind weder transparent noch lassen sich kaum mehr die wirklich Verantwortlichen finden. Entitäten wie diese sind entfesselte schwarze Löcher, sie verschlucken vergessene Länder wie Albanien, die aufgrund einer bewegten Geschichte erst so langsam, aber doch, ans Tageslicht ihres neuen Selbstbewusstseins gelangen. Die Chance auf diese nationale, kulturelle wie auch religiöse Identität mag durch schwer definierbare Gestalten verzögert werden. Wie aus heiterem Himmel, wie extraterrestrische Invasoren oder Missionare aus Übersee materialisieren sie in einem fruchtbaren, von den Umtrieben der Welt vergessenen scheinenden Tal, um den Bauern, Imkern und Viehzüchtern ihr Leben abzuschwatzen.

Als die blonde Reinkarnation eines Hernan Cortez oder Francisco Pizarro stolziert die Deutsche Beate Winter über unasphaltiertes Gelände, besichtigt alte Fabrikhallen und besucht die Alteingesessenen in dieser Region. Allzu viele sind es nicht, doch die wenigen haben guten grund Grund dazu, zu bleiben. Nichts bringt sie dazu, den Verlockungen zu erliegen, die diese fremde, akkurate, natürlich mit allen diplomatischen Wassern gewaschene Person in den Wohnzimmern der Leute im Angebot hat. Mehr Geld, eine Wohnung in der Stadt, die Restaurierung des religiösen Heiligtums? Das kann sie sich, gelinde gesagt, sonstwohin schieben. Doch Beate Winter, die weiß, dass sowas passieren wird. Und jeder, der ihr begegnet, wird sie letztendlich unterschätzen. Wird sich gewünscht haben, ihr niemals begegnet zu sein, ihr niemals den Selbstgebrauten angeboten oder sie zum Essen eingeladen zu haben, da sie Lamm & Co ohnehin kaum Respekt zollt, denn all das Albanische, so hat es den Eindruck, sollte ihr letztendlich nicht zu nahe gehen dürfen.

In Europa von Austro-Filmerin Sudabeh Mortezai trägt der Teufel vielleicht kein Prada, aber andere schicke Kleidung und die blonde Mähne hochgesteckt. Ihre Stimme ist leise und rauchig, ihr Englisch langsam und verständlich für alle, die die Fremdsprache auch nur in der Grundschule gelernt haben. Dieser Teufel, Beate Winter, ist vielleicht doch nur einer der manipulierenden Dämonen, die das große diffuse Unbekannte des Kapitalismus losgeschickt hat, um die Ernte einzuholen. Wäre Lilith Stangenberg (Die schwarze Spinne, Seneca) wirklich nur eine platte Antagonistin gewesen, hätte Mortezais Film das wichtigste ihres Films verloren: Den Kern einer Charakterstudie, der viel relevanter scheint als das simple Schulbeispiel von Enteignung, Landraub und missachteter Menschenrechte. Das alles rings um Lilith Stangenberg ist in jedem Fall ambitioniert und, was das Lokalkolorit betrifft, vonm Klischee weit entfernt. Mortezai hat jahrelang recherchiert, Eindrücke gesammelt und vor Ort gedreht, hat vorort lebende Personen – wie Ulrich Seidl in seinem letzten Werk Sparta – als Laiendarsteller, die zwar nicht sich selbst, dafür aber ähnliche Charaktere darstellen sollten, mitsamt ihrer Lebensweise eingebunden. Europa erlangt dadurch Authentizität und Direktheit, dieses Albanien fällt einem in den Schoß und drängt sich auf, man muss es nicht mühsam erschließen. Die wirkliche Problematik, an welcher sich Europa abarbeitet, und darauf blickt wie auf ein großes Mysterium, ist der unterdrückte Skrupel von Menschen, die in den Diensten der Verachtung unterwegs sind. Was bewegt so jemanden wie Beate Winter, was ist das Ideal einer solchen Person, die sich durch das Unglück anderer nicht demotivieren lässt? Stangenberg ist dabei einerseits eiskalt, andererseits die höfliche neue Nachbarin von Gegenüber. Sie hat Familie und somit auch Werte, die sie vertreten muss. Jedoch misst sie mit zweierlei Maß, lässt zwischendurch das ratlose Antlitz einer selbst Ausgelieferten aufblitzen, die ihren Ehrgeiz über alles stellt. Wie weit reicht die Kette der Dienerschaft nach Beate Winter? Wir sehen nur ihren Vorgesetzten – was dahinter liegt, ist wie die Tiefsee. Unbezwingbar.

Europa muss den Schmerz der Machtlosen ins Zentrum rücken, auch wenn sich Stangenbergs Figur immer wieder in den Mittelpunkt drängt. Als famoses Naturtalent im Schauspiel gefällt Jetnor Gorezi als letztlich übervorteilte, arme Seele, die sich nicht, wie Nikolai Sergejew im Oscar-Film Leviathan, in den Tod trinkt. Und auch nicht, wie Richard Harris in Jim Sheridans Das Feld, von der Klippe stürzt – beides Filme, die von Enteignung und zerstörten Existenzen erzählen. Die brutale Wut des Mannes könnte der Beginn einer Rebellion sein. Sinnlose Verzweiflung? Ja, vielleicht. Doch auch viel mehr. Vielleicht gar das nötige Statement, um Beate Winter den militärischen, blinden Gehorsam auszutreiben.

Europa (2023)

Indiana Jones und das Rad des Schicksals (2023)

WER HAT AN DER UHR GEDREHT?

6/10


INDIANA JONES AND THE DIAL OF DESTINY© 2023 Lucasfilm Ltd. & TM. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: JAMES MANGOLD

DREHBUCH: JEZ & JOHN-HENRY BUTTERWORTH, DAVID KOEPP, JAMES MANGOLD

CAST: HARRISON FORD, PHOEBE WALLER-BRIDGE, MADS MIKKELSEN, ETHANN ISIDORE, BOYD HOLBROOK, TOBY JONES, JOHN RHYS-DAVIES, ANTONIO BANDERAS, SHAUNETTE RENÉE WILSON, THOMAS KRETSCHMANN, KAREN ALLEN U. A.

LÄNGE: 2 STD 34 MIN


Keine Kino-Franchise wie diese zeigt wohl stärker, dass deren Zeit vorbei ist. Star Wars hatte das Glück, seine Agenda mit erfrischenden Jungstars in eine neue Epoche zu katapultieren. James Bond war stets aus der Zeit gefallen und lässt sich an der Chronologie geschichtlicher Ereignisse nur schwer festmachen. Zum Terminator gab es schon nach  James Camerons Flussigmetall-Erfolg nichts mehr Neues hinzuzufügen. Und Indiana Jones? Als erstes scheint es schwierig, einer Filmreihe frischen Wind zu verpassen, wenn schon der Held im Titel steht – und nicht, wie der 007-Agent, immer wieder neu besetzt werden kann. Harrison Ford ist Henry Jones und Henry Jones ist Harrison Ford, da gibt es keine Alternative und wird es niemals geben, es sei denn, man fängt bei null an und castet jemanden, der an River Phoenix erinnert, der sich dank nur eine Rückblende aus dem letzten Kreuzzug nicht ganz so fest in die Filmgeschichte einzementiert hat wie die charmante, schlitzohrige, leicht vernarbte Ikone des 80er Jahre, die sich immer noch zu Spätauftritten seiner Paraderollen hat hinreißen lassen. Dass er dem schmählichen Tod seines zweiten schauspielerischen Grundpfeilers, nämlich Han Solo, stattgegeben hat, liegt wohl daran, dass er sein Vermächtnis in trockenen Tüchern sehen wollte. Die Dinge abzuschließen, gehört wohl zu seinen Prioritäten. Und so muss auch endlich Indiana Jones, die Kreation von George Lucas und Steven Spielberg, ins Regal musealer Kuriositäten wandern. Die Zeit hält nicht an, der Held wird älter und irgendwann geht’s nicht mehr. Einen Film allein in digitaler Verjüngung zu führen ist ein Verrat an der natürlichen Entropie von Filmstars und der Chance für Neues.

Der fulminante Erfolg von Jäger des Verlorenen Schatzes oder Tempel des Todes lag wohl darin, mit völliger Unbekümmertheit und im Rahmen einer Sturm und Drang-Phase kreativer Köpfe eine realfantastische Welt ohne Erfolgsdruck zu kreieren – da man noch nicht wusste, wie sehr das Konzept beim Publikum wohl ankommen wird. Der Spaß am Experimentieren, am Herumpanschen und Gasgeben ist das Schaffenskind seiner Zeit Ende der Siebziger, Anfang der Achtzigerjahre. Mit diesem Pioniergeist ist auch der Krieg der Sterne entstanden. Risiko, Lust am Erfinden und am Setzen von Ideen, die noch nicht da waren – so werden Legenden geboren. Sie sterben dann, wenn Jahrzehnte später Megakonzerne und Produzenten versuchen, den Erfolg dieser Narrenfreiheiten zu wiederholen. Natürlich funktioniert das nicht. Viel zu viele Köche verderben den Brei. Marketing- und Zielgruppenanalysen sowie das Zerpflücken des Originals, um herauszubekommen, was den Erfolg garantiert, erzeugen nur mehr vom Gleichen – und maximal eine Hommage an einen Kult. So ist das auch schon mit Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels passiert. Und so lässt es sich auch in jeder kalkulierten und längst nicht mehr frei improvisierten Szene in Indiana Jones und das Rad des Schicksals erkennen. Hier berauscht kein Pioniergeist mehr den Kinosaal. Sondern maximal der Geist des Vergangenen.

Der sorgt vielleicht für Wehmut, wie das bei Abschieden immer so ist – doch schließlich auch für Unterhaltung, denn die Macher, die hinter einem Millionenprojekt wie diesen stehen, sind keine Anfänger. George Lucas und Spielberg sind immer noch die Executive Producers. Und James Mangold sitzt im Regiestuhl. Schade eigentlich. Denn Mangold mag zwar Comics verfilmen können, die wie Logan eine neue Tonalität finden. Für Indiana Jones aber ist er fehl am Platz. Spielberg hätte selbst nochmal Hand anlegen sollen. Vielleicht wäre da die verspielte, verschmitzte, reuelose Naivität der Vorgänger zurückgekehrt. Die richtige Balance zwischen geheimnisvoller Metaphysik, Abenteuergeist und Humor. Bei Mangold und seinen Drehbuchautoren fehlt diese Balance leider völlig. Humor ist im stattlichen Alter des Indiana Jones rares Gut, viel lieber trauert er über Versäumtes und so manches bittere Schicksal. Die Leichtigkeit ist dahin – die hat man mit 80 Lenzen nicht mehr. Den Abenteuergeist? Den hat sich längst Phoebe Waller-Bridge (u. a. Fleabag) unter den manikürten Fingernagel gerissen: Als Helena Shaw, Patentochter des Alt-Archäologen, rockt sie die Party, steht als Haupt-Show Act auf der rustikalen Bühne eines ausgedienten Filmkonzepts. Sie, allein nur sie, rettet den Tag und das Event – sie steppt wie ein Bär und krallt sich an mystische Artefakte wie es seinerzeit der titelgebende Meister selbst getan hat. Indiana Jones kann dabei nur staunend zusehen, wenn sein Sidekick zur Zentral-Heldin wird und dieselben Tricks anwendet wie seinerzeit er selbst. Mitgerissen von so viel Elan schwingt er dann doch noch das eine oder andere Mal die Peitsche oder lässt die Fäuste fliegen. Doch das braucht wiederum Phasen des Durchatmens, die den fünften Teil immer wieder mal ins Stocken bringen, ohne auf Zug inszeniert werden zu wollen. War der Tempel des Todes noch ein Stakkato an Action, Thriller und Witz, hat Das Rad des Schicksals altersbedingt mächtig Leerlauf, der mit Dialogen gefüllt wird, die zwar Indys Rolle Tiefe geben sollen, die jedoch maximal einer fiktiven Biografie, aber keinem stringenten Abenteuer dienlich sind. Die wiederholte Aufwärmrunde einer Verfolgungsjagd per fahrbarem Untersatz kompensiert da kaum noch die fehlende Dynamik.

Was lässt den Film aber trotz all den Zugeständnissen an das Alter und an eine neue Zeit, die anderen gehört, dennoch an sich selbst glauben? Es ist die Weigerung, Abschied nehmen zu müssen vom goldenen Zeitalter inspirierenden Filmschaffens. Für Indiana Jones sucht der Film den richtigen Ort für den Ruhestand, ob quer durch die Zeit oder genau dort, wo gerade der Fedora hängt. Ob mit Bundeslade, heiligem Gral oder Archimedes‘ Rad des Schicksals – alle Artefakte sind dazu da, ein Stück Ewigkeit zu instrumentalisieren. Die wird es nicht geben, auch wenn man längst nah dran war. Wenn unter John Williams unverkennbar wummerndem Score die alten und neuen Helden übers Mittelmeer ziehen und die alte Welt erkunden, gerät Indiana Jones und das Rad des Schicksals zu einem Da Capo, zu einer Zusatznummer oder fast schon zu einem Epilog. Da ist der Antagonist ganz egal, die Wunderkammern mit ihren Fallen und Ekelinsekten austauschbar. Was zählt, ist die Erinnerung an einer phänomenalen Idee, die George Lucas damals hatte. Deswegen, und trotz all dem Makel, den das finale Werk vielleicht hat, will man als Kenner dieser Welt gemeinsam mit einem liebenswerten Harrison Ford noch eine Ehrenrunde im steuerlosen Flieger drehen. Und vielleicht auf eine Rückkehr von Phoebe Waller-Bridge und ihrem Siedekick hoffen. Im selben Universum, nur ohne Indy.

Indiana Jones und das Rad des Schicksals (2023)

Der Mann, der seine Haut verkaufte (2020)

DIE FREIHEIT DER KUNST

6/10


dermannderseinehautverkaufte© 2020 eksystent filmverleih


LAND / JAHR: TUNESIEN, FRANKREICH, BELGIEN, DEUTSCHLAND, SCHWEDEN 2020

BUCH / REGIE: KAOUTHER BEN HANIA

CAST: YAHYA MAHAYNI, DEA LIANE, KOEN DE BOUW, MONICA BELLUCCI, RUPERT WYNNE-JAMES, HUSAM CHADAT U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Wenn man länger drüber nachdenkt, verwundert es einerseits nicht – andererseits fühlt es sich nicht ganz richtig an: Dass Kunstwerke mehr wert sind als ein Menschenleben. Vielleicht, weil diese Kunstwerke immer nur Unikate sind. Und der Mensch nicht als Individuum, sondern nur als ein Exemplar immer derselben Spezies betrachtet wird, und das alleine deswegen, weil man nichts über die Biographien der jeweiligen Menschen kennt. Dann würde sich herausstellen, dass jeder von ihnen genauso einzigartig ist wie eines dieser um Millionen Euro gehandelten Exponate, die frei von irgendwelchen Beschränkungen durch die Welt tingeln, ohne Angst haben zu müssen, ausgestoßen, zurückgewiesen oder misshandelt zu werden. Immerhin sind diese Werke hoch versichert.

Doch machen wir mal die Probe aufs Exempel. Mit einem Film, der 2021 für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert war: Der Mann, der seine Haut verkaufte. An dieser Stelle bemühe ich stets gerne die gesellschaftskritische Philosophie des französischen Dadaisten Marcel Duchamp, der seinerzeit die Dreistigkeit besaß, ein herkömmliches Pissoir zum Kunstwerk zu deklarieren. Das soll nicht bedeuten, dass dies den Wert des Menschen spiegeln soll, sondern nur die Relation zum Wertebegriff und worauf es ankommt, etwas in seinem Wert zu steigern oder zu senken. Duchamp ist das gelungen, selbst Picasso hat im Zenit seines Ruhms einfach nur Servietten mit seiner Signatur bekritzeln müssen, schon war dieses Stück Stoff mindestens einen ganzen Lotto-Jackpot wert. Was stimmt hier nicht, dass Menschen um ein besseres Leben ringen müssen und Pissoire unbezahlbar werden? Was aber, wenn man beides zusammenbringt? Der syrische Flüchtling Sam Ali, der aufgrund unbedachter und aus dem Zusammenhang gerissener Aussagen im Libanon ein neues Leben beginnen musste, fernab aller erträumten Möglichkeiten, schließt Bekanntschaft mit einem weltberühmten Künstler namens Jeffrey Godefroy, einem Belgier. Der akzentuiert geschminkte Mann mit dem gefälligen Sprech eines Mistopheles überredet den jungen Mann dazu, seinen Rücken für ein formatfüllendes Tattoo zu Verfügung zu stellen. Er will aus Sam Ali ein Kunstwerk machen, und zwar versehen mit dem Artwork des heiß begehrten Schengen-Visums. Dafür soll dieser reichlich Geld und eine Aufenthaltsbewilligung in Belgien bekommen, unter der Bedingung, für jedwede Kunstaktion oder Ausstellung zeitgerecht zur Verfügung zu stehen.

Die Idee der tunesischen Filmemacherin Kaouther Ben Haina ist originell, vielschichtig und inspirierend. Die Freiheit der Kunst als eine Parabel dieser Art zu interpretieren, ist fast schon genial. Mit Betonung auf fast. Denn obwohl der Umgang der Wohlstandgesellschaft mit ihren Werten in so manchen Szenen satirisch hinterfragt wird, gefällt Ben Haina die nebenherlaufende Beziehungsgeschichte zwischen ihrem als Exponat verschacherten Protagonisten und seiner großen Liebe, die sich für ein besseres Leben in den Westen verheiratet hat, deutlich mehr. Die Kritik an Kunst und Prestige fällt zu zaghaft aus, der Vorwurf eines Solidarität heuchelnden, aber letztlich hilflosen Establishments will gar nicht so laut erklingen. Im Vergleich dazu hat Ruben Östlund mit seiner Brachialsatire The Square die satirischen Klingen viel mehr geschärft als Ben Haina es tut. Ihr Anti-Held ist zwar ein Kunstwerk, ein wandelndes und aufmüpfiges Kunstwerk, was an sich schon bizarr genug ist ­– sein Sinneswandel im Laufe des Films fällt aber zu konzeptionell aus, was heißen will, dass Der Mann, der seine Haut verkaufte oft nicht genau weiß, ob es versöhnliches Märchen sein will oder eine zeitgemäße Kritik, auch wenn mitunter punktgenaue Zitate wie die umgekehrte Sage des Pygmalion die Entscheidung schwerfallen lassen. Es scheint aber, dass der Idealismus vehementer durchschimmert, dass elitäre Kunst seine Daseinsberechtigung haben soll und dass die Heimat dem kapitalistischen Westen immer noch vorzuziehen wäre, wenn irgend möglich. Mit der Realität hat der Film dann immer weniger zu tun, die Romanze obsiegt.

Der Mann, der seine Haut verkaufte (2020)

Luanas Schwur (2021)

EINE FREIHEIT FÜR DIE ANDERE

8/10


luanasschwur© 2021 – Elsani & Neary Media GmbH / DOP: Jörg Widme


LAND / JAHR: ALBANIEN, DEUTSCHLAND 2021

REGIE: BUJAR ALIMANI

BUCH: KATJA KITTENDORF

CAST: RINA KRASNIQI, SHKURTE SYLEJMANI, GRESA PALLASKA, NIK XHELILAJ, ALBAN UKAJ, KASEM HOXHA, ASTRIT KABASHI U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Will man heutzutage noch authentisch reisen und unterwegs nicht alle Nase lang gefällige Touristenspots passieren, dann löhne sich ein Aufenthalt in Albanien. Ein Land, das erst 1990, nach Ende der kommunistischen Diktatur unter Enver Hoxha, seine Grenzen geöffnet hat. Vorher war alles anders – und deutlich schlechter. Wen wundert’s, Diktatur ist Unterjochung, Quälerei und Verbot auf ganzer Linie. Als atheistisches Regime mussten alle Kreuze, Ikonen und sonstige Devotionalien verschwinden. Kirchen wurden geschlossen und Geistliche ihrer Ämter enthoben. Doch auch ohne einen wie Hoxha wäre die Gesellschaft Albaniens, zumindest die weibliche, bedient genug geblieben. Aufgrund des sogenannten Kanun, eines Sammelsuriums an Rechtsvorstellungen und Regeln, das fein säuberlich auf das Patriarchat zugeschnitten und lange Zeit auch nur mündlich überliefert wurde. Für Frauen waren da keinerlei Freiheiten vorgesehen. Die Ehe von Töchtern wurde (und wird?) über den Köpfen derer entschieden, die es eigentlich anging. Männer trafen sich zum Rauchen und Schnapstrinken, besiegelten beim Verzehr von Schafsköpfen den Heiratsdeal und scherten sich einen Dreck, ob diese Art Fremdbestimmung Menschenleben in die Verzweiflung stürzten. Doch wo Tradition, da kein Hinterfragen. In diesem autoritären und völlig vorgestrigen, ja geradezu mittelalterlichen Dunstkreis wächst das Mädchen Luana auf. Die zeigt sich in den frühen 60erjahren wissbegierig und bereits am anderen Geschlecht interessiert. Dabei macht ihr Agim schöne Augen – nur Agim stammt aus einer Familie, die mit jener von Luana nichts am Hut hat. Eine Heirat mit Agim ist undenkbar. Also verschachert ihr Vater seine Älteste an den Sohnemann des guten Freundes Luk Fiku – der ist aber ein arroganter Windhund und im Grunde ein Chauvinist unter der Sonne, dass es ärger nicht geht. Anfangs scheint sich Luana ihrem Schicksal zu fügen – denn Flamur ist zumindest ein Feschak mit Dreitagebart und kokettem Grinsen. Innen drin aber schauts finster aus, und so kommt es, dass Luanas Vater diesen erwischt, als er Anstalten macht, seine zukünftige Braut zu vergewaltigen. Das geht natürlich gar nicht, die Ehe ist somit annulliert, doch das wutentbrannte Ekel von Mann schießt den Brautvater über den Haufen. Diese Tragödie ändert natürlich alles. Und Luana muss tun, was sie tun muss, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Auch für sich, aber auch für ihre Familie.

Schon mal einen Film aus Albanien gesehen? Makedonien ja, aber Albanien? Mit den vertrauten Stilmitteln eines Coming of Age-Melodrams lässt es sich ohne Schwierigkeiten in die nicht allzu ferne Vergangenheit eines isolierten Landes eintauchen, in welchem Menschen wie Luana trotz antiquierter Erziehungsparameter genau die gleichen Bedürfnisse haben wie überall sonst auf der Welt. Doch wo die Macht des Mannes dominiert, pervertiert die natürliche Ordnung und gerät der Humanismus unter die Räder. Anfangs noch scheint es, als würde Luanas Schwur den klassischen Motiven eines Folklore-Dramas folgen – mit Landschaftsbildern, rustikalen Bauernhöfen und strengem familiären Regiment zwischen Feldern und Gebirge. Gemeinsam mit Skriptautorin Katja Kittendorf (u. a. Gott, du kannst ein Arsch sein) gelingt dem albanischen Filmemacher Bujar Alimani aber weit mehr als das – und wächst zur Halbzeit des Films über sich selbst und über die Erwartungen seines Publikums hinaus. Was dann passiert, wäre nicht unbedingt zu erwarten gewesen – rückblickend aber die einzig logische Konsequenz. Aller Freiheiten beraubt, würde Luana den traditionellen Weg des Kanun gehen, gäbe es nicht die Möglichkeit einer Revolte durch die Hintertür – ohne dabei das Patriarchat zu kompromittieren. Alle Freiheiten kann es nicht geben – so opfert sie schließlich eine, um die andere zu erhalten und über sich selbst zu bestimmen. Luanas Schwur ist ein bitterer, teils düsterer aber stets leidenschaftlicher Film über Geschlechterrollen und radikale Kompromisse im Licht unreflektierter Traditionen. Rina Krasniqi, die sehr an eine junge Glenn Close erinnert, vollbringt in ihrem Wandel von der ausgelieferten Frau zum resoluten Anführer eine erstaunliche Performance. Und es bleibt ihr angesichts der erzählerischen Dichte und der Komplexität des Mit- und Gegeneinanders einer versteinerten Gesellschaft auch nichts anderes übrig, als keinerlei Schwäche, weder im Spiel noch in ihrer Figur, zu zeigen. Niemals und nirgendwo.

Luanas Schwur (2021)

Medieval

TRAU, SCHAU WEM, NUR KEINEM BÖHM‘

6/10


medieval© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: TSCHECHIEN 2022

BUCH / REGIE: PETR JÁKL

CAST: BEN FOSTER, SOPHIE LOWE, MICHAEL CAINE, TIL SCHWEIGER, MATTHEW GOODE, WILLIAM MOSELEY, ROLAND MØLLER, KAREL RODEN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 5 MIN


„Das ist nicht von mir!“, hätte mein Gesichtsprofessor auf der Grafischen durch die Klasse gerufen. Und ja – mit diesem abwertenden Sprichwort „Trau, schau wem…“ lässt sich einfach keine Solidarität leben. Ich rezitiere hier einen bayrischen Zweizeiler, der was weiß ich wann seinen Eingang in die Mundart fand, der sich aber ganz gut anwenden lässt, wenn man die spätmittelalterliche Geschichte rund um einen tschechischen Volkshelden zwischen den Mühlen der Machtgier aufrollen möchte. Dieses Vorhabens hat sich der tschechische Regisseur Petr Jákl (u. a. Ghoul – Die Legende vom Leichenesser) angenommen, um wohl einem der bedeutendsten Heerführer der Hussitenkriege – ach, was sag ich – einem der bedeutendsten Heerführer überhaupt (so steht es am Ende des Films geschrieben) ein Denkmal zu setzen: Jan Žižka, einer wie Götz von Berlichingen oder der gute alte Gottfried von Bouillon. Žižka war ein Söldnerführer. Gegen gutes Geld hätte er für jeden Adeligen die Drecksarbeit verrichtet, und sei es sogar, die Nichte des französischen Königs zu entführen, um vom betuchten Adeligen Heinrich von Rosenberg (Til Schweiger mit angenehm fremder Synchro), der die Dame als seine Verlobte ansah, Geld für eine Fahrt nach Rom zu erpressen, damit König Wenzel nach dem Tod Karls V. rechtmäßig zum Kaiser gesalbt werden könne. Dabei darf man nicht vergessen: Um das Jahr 1400 existierten zwei Päpste unter europäischer Sonne, beide mit Anspruch auf die absolute Macht. Der eine in der ewigen Stadt, der andere fraß sich in Avignon das Bäuchlein voll. Jan Hus, ebenfalls Tscheche, predigte derweil mehr als hundert Jahre vor Martin Luther protestantische Lehren und begründete auch so ganz nebenbei die Glaubensfraktion der Hussiten. Man darf sich vorstellen, wie sehr da die katholische Kirche unter Sodbrennen litt – Glaubenskriege waren die Folge, und im Zuge dessen war auch Jan Žižka ganz vorne mit dabei. Doch bevor es so weit kommen konnte, war da noch die Sache mit Königsnichte Catherine, die wie ein Spielball der Interessen zwischen Žižkas wilder Horde, König Wenzel von Böhmen und dessen despotischem Bruder und Möchtegern-Regent Sigismund (Matthew Goode) hin und hergereicht wurde. Alle wollten ihrer habhaft werden. Und so setzt uns Petr Jákl tief in den böhmischen Forst, hinein in dunkle Burgen und Höhlen oder einfach aufs schnell arrangierte Schlachtfeld, um nicht nur die womöglich teils fiktiven Darstellungen der Geschichte zu betrachten, da von Žižkas Biografie nicht viel überliefert ist, sondern um sich endlich auch mal wieder mehr an blutigen Kämpfen und brachialer Gewalt mit Keule und Schwert zu ergötzen, die beim letzten Ridley Scott-Film, nämlich The Last Duel, fast ein bisschen zu kurz kamen. Wer auch schon alle Vikings-Staffeln hinter sich hat und ebenfalls auf Entzug ist, wenn es heißt, abgetrennte Gliedmaßen, eingeschlagene Schädel und gepfählte Jugendliche in mittelalterlicher Entrücktheit zu bewundern, der kann Medieval durchaus auf die Watchlist setzen. Natürlich geschieht hier alles im Kontext zur politischen Intrige, in welcher Žižka – was geschichtlich bestätigt ist – ein Auge verliert und mehr tot als lebendig seine Queste zu Ende führt. Das ist Mittelalter, wie wir uns das vorstellen, und es ist motivierend genug, diesen Subtext gleich mitzunehmen aufs nächste Burgfest, um die Fantasie spielen zu lassen und sich selbst so zu fühlen wie ein halbwüchsiger Junge, der, das Holzschwert schwingend, auf den abgesicherten Wehrgang hirscht.

Wenn aber Ridley Scott in seinen Historienschinken schon allerlei Stars verpflichten kann, dann kann das Petr Jákl auch. Und siehe da: Als Žižka fungiert Ben Foster, wie immer souverän und bei der Sache. Matthew Goode hatten wir schon erwähnt – wen wir aber noch nicht erwähnt hatten, ist der ehrwürdige Michael Caine, der immer dann noch auftritt, wenn Donald Sutherland verplant zu sein scheint. Und ja – das verleiht Medieval, einem technisch versierten und hemdsärmeligen Stück Blut und Erde-Gemetzel, einen Glanz von schauspielerischem Adel.

Die erzählerische Eleganz anderer Genre-Filme erreicht Medieval aber nicht. Dazu will der Streifen zu sehr gut aussehen und zu sehr alles richtig machen. Da bleibt so manche Szene verkrampft, die Dramaturgie zu formelhaft oder manche Nebenrolle zu manieristisch, um ihr Tiefe zu verleihen. Da hapert’s ein bisschen am Charisma, am detaillierten Strich, wenn man so will. Für einen Happen zwischendurch – am besten mit den Fingern genossen, dazu ein Humpen Bier – eignet sich die ruppige Legendennacherzählung um Jan Žižka aber dennoch, und geschichtliche Details aus dem Nachbarland füllen historische Wissenslücken.

Medieval

Die Täuschung

HITLER HINTER’S LICHT GEFÜHRT

5/10


duetaeuschung© 2022 APPLE. All rights reserved.


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN, USA 2021

REGIE: JOHN MADDEN

CAST: COLIN FIRTH, KELLY MACDONALD, MATTHEW MACFADYEN, JOHNNY FLYNN, PENELOPE WILTON, JASON ISAACS, HATTIE MORAHAN U. A. 

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Mincemeat ist ein kulinarischer und zugleich wilder Mix aus allen möglichen Zutaten – darunter Trockenfrüchte, Weinbrand und Gewürze, natürlich auch Rindfleisch und Fett aus Innereien. Klingt ein bisschen wie Fleischlaibchen (Frikadellen), ist es aber nicht. Was Mincemeat sonst noch ist? Ein Codewort. Und zwar für ein Täuschungsmanöver der Alliierten, die während des Zweiten Weltkriegs, genauer gesagt im Jahre 1943, den Nazi-Aggressoren weismachen wollten, die britische Invasion stünde kurz davor, an der Küste Spaniens loszubrechen. Natürlich war dem nicht so, die Briten planten natürlich, über Sizilien anzurücken, doch Hitler und seine Schergen sollten davon nichts wissen. Neben dem eigentlichen Krieg mit Waffen, Panzer und Millionen Gefallenen gab es da noch den Krieg der Geheimdienste, bei welchem an beiden Fronten niemand geschlafen hat – ganz im Gegenteil. Operation Mincemeat war im Rahmen dieses Konflikts ein waghalsiges Unterfangen mit hoher Risikobereitschaft, die sehr schnell sehr leicht hätte enttarnt werden können. Manchmal, so wie in diesem Fall, drängt sich die Vermutung auf, höhere Mächte wären schlussendlich am Niedergang des Deutschen Reiches beteiligt gewesen. Insbesondere, wenn derartige Manöver wie im Geschichtsdrama von John Madden (Shakespeare in Love) wider Erwarten gelingen.

Um den deutschen Geheimdienst auf die falsche Fährte zu locken, bedarf es natürlich eines Köders. Und zwar eines Toten, der nochmal sterben sollte. Und zwar als Major William Martin, der, mit Fallschirm ausgestattet – so, als vermute man einen Flugzeugabsturz über dem Atlantik – an die Küste Frankreichs gespült wird. Mit wertvollen Informationen in der Tasche, die von der Anlandung der Briten in Spanien berichten. Streng vertraulich natürlich. Und die Nazis schlucken es.

Die Fälschung – oder, im Original, ganz einfach Operation Mincemeat ­­– verspricht dem Plot nach zu schließen ein spannender und authentischer Spionagethriller zu werden, der zumindest für Nicht-Briten eine Episode aus dem Krieg erzählt, die nicht ganz so geläufig ist. Auf die Idee zu kommen, mit einem recht simplen Bluff wie diesen ein ganzes Imperium täuschen zu können, zeugt einerseits von Verzweiflung, andererseits von geradezu todesmutigem Verhalten. Wenn kaum mehr etwas zu verlieren ist, greift man zum Banalsten, um vielleicht damit die Erwartungshaltung des Feindes zu unterwandern. Oder: Niemand sieht den Wald vor lauter Bäumen. Im Rahmen der Chronologie der Ereignisse, basierend auf dem Buch von Ben McIntyre, nimmt die Vorbereitung und Durchführung der Operation nur ungefähr ein Drittel des Filmes ein. Der Rest mag zwar den historischen Aufzeichnungen folgen, scheint aber so, als würde er viel zu weit ausholen, um noch für den Kern der Geschichte relevant zu sein. Wir sehen jede Menge Anzugträger und Offiziere, alle in Gespräche vertieft, welche den in wenigen Minuten erzählten Clou vorwegnehmen sollen. Kein Detail wird außer Acht gelassen, die Akquirierung des Toten unter der Einwilligung der Hinterbliebenen wieder eine Anekdote am Rande, die das kuriose Unterfangen besser illustrieren soll. Doch der Funke springt nicht über. Colin Firth ist so routiniert, da fehlt es an Esprit. Auch alle anderen Charaktere sind aufgrund ihrer Vielzahl nur Fußnoten in einem großen Ganzen, das die Aufmerksamkeit über Gebühr strapaziert.

Geschichte funktioniert, wenn man sie aus einem Blickwinkel betrachtet. Die Ambition, aus allen gleichzeitig das Abenteuer Spionage zu erfassen, sorgt für zwei knochentrockene Geschichtsstunden, die sich so anfühlen, als würde man die Schulbank drücken und dabei gerne auf die Pause dazwischen verzichtet, damit man vielleicht früher Schluss machen kann.

Die Täuschung

The Contractor

AM ARBEITSMARKT FÜR VETERANEN

7/10


thecontractor© 2022 Leonine Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: TARIK SALEH

CAST: CHRIS PINE, BEN FOSTER, GILLIAN JACOBS, EDDIE MARSAN, KIEFER SUTHERLAND, J. D. PARDO, NINA HOSS, FLORIAN MUNTEANU U. A. 

LÄNGE: 1 STD 43 MIN


In The Gray Man erzählen Joe und Anthony Russo von einem Ex-Sträfling, der als Auftragskiller vom CIA rekrutiert wird – und irgendwann die moralische Integrität des Geheimdienstes hinterfragt. Schlecht für ihn, denn kurz darauf sind die besten Killer hinter ihm her, um den vermeintlichen Whistleblower auszuschalten. Entstanden ist ein Thriller, der als teuerster Netflix-Film aller Zeiten gilt und nebst gut aufgelegten Schauspielern allerdings eine recht seichte und oft kopierte Story erzählt. The Contractor mit dem sympathischen Chris Pine in der Titelrolle konstruiert eine ganz ähnliche Geschichte, nur weitaus weniger auf Hochglanz und lässt viel mehr Raum für psychologische Entwicklungen. Kurz gesagt: The Contractor ist der bessere Film. Auch wenn das Szenario im Grunde nicht ganz neu ist, gelingt dem Schweden Tarik Saleh, der mich bereits mit dem Politthriller Die Nile Hilton Affäre überrascht und beeindruckt hat, das differenzierte Psychogramm eines Mannes, der wohl in Sylvester Stallones Expendables-Runde gerne angeheuert hätte und auch dort nicht groß aufgefallen wäre. Nur hier, in diesem Thriller, hat selbstironischer Humor keine Bühne, was weise entschieden wurde, denn Augenzwinkerei hätte dem Film seine Intensität genommen.

Als physisch angeschlagener Nahost-Kriegsveteran bemüht sich der ehemalige Special Forces Soldat James Harper mit allen Mitteln – und sind es auch Aufputschmittel aller Art – wieder in den aktiven Dienst aufgenommen zu werden. Körperliche wie seelische Belastungen haben allerdings ihren Tribut gefordert, und so bleibt dem eigentlich gebrochenen Familienvater und Ehemann nichts anderes übrig, das Angebot eines ehemaligen Kollegen anzunehmen, in einer Söldnertruppe anzuheuern, die gutes Geld bringt. Bitter nötig hätte er es, stapeln sich doch die unbezahlten Rechnungen auf dem Küchentisch. Der erste Einsatz in Berlin wird dann auch gleich zum Wendepunkt im Leben des ewigen Kämpfers, der sich plötzlich von allen Seiten verraten fühlt und versuchen muss, während er permanent auf der Flucht ist, die finsteren Machenschaften seines Auftraggebers aufzudecken.

Neben Chris Pines überzeugendem Spiel, welches ihn aus meiner Sicht ohne weiteres (und gemeinsam mit seinem Auftritt in Der Anruf) in die engere Auswahl zum nächsten James Bond manövriert, sammeln sich noch andere Charakterdarsteller, die mitunter undurchschaubar agieren, so wie Ben Foster oder Eddie Marsan. Am offensichtlichsten nicht ganz astrein und recht konventionell bleibt Kiefer Sutherlands Figur – doch immerhin freut es, das Zugpferd aus 24 Hours auch mal auf der anderen Seite und abgesehen davon überhaupt wieder in einem Film zu sehen. Als europäische Ergänzung darf Nina Hoss als zugeknöpfte Mittelsfrau agieren – alles in allem also ein stimmiges Ensemble in ebenso stimmigen und manchmal auch gnadenlos konsequenten Szenen, die sich davor hüten, gefällige Drehbuchversatzstücke zu integrieren und sich dahingehend zu bequemen, etwaige Wendungen an den Haaren herbeizuziehen. Dadurch erhält The Contractor genug Ecken und Kanten, wenn schon nicht die Ambivalenz der Figuren für die Gewährleistung eines Thrillers, der am Schlachtfeld globaler Verstrickungen als schwer einzunehmende Bastion gilt, ausreichen würde.

The Gray Man kann man sich ohne weiteres ansehen. The Contractor aber ist erdiger, schmutziger und zehrt außerdem mehr an den physischen Ressourcen der überrumpelten Figuren. Wenngleich der Showdown wie über den Kamm geschoren wirkt und tatsächlich mehr zu Stallone passen würde, kommt zumindest die Action letzten Endes auch nicht zu kurz. Ein Umstand, der die vielleicht manchmal zu lakonische Dramaturgie aus der Reserve lockt.

The Contractor

Hatching

DEN ELTERN EIN EI GELEGT

7/10


Hatching© 2022 capelight pictures


LAND / JAHR: FINNLAND 2022

REGIE: HANNA BERGHOLM

CAST: SIIRI SOLALINNA, REINO NORDIN, JANI VOLANEN, SOPHIA HEIKKILÄ, SAIJA LENTONEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 29 MIN


Survival of the fittest gilt auch für jene, die, kaum dass sie laufen und sich halbwegs artikulieren können, sofort gefördert werden müssen. Denn es kann ja nicht sein, dass die kommende Generation angesichts des brutalen Wettbewerbs, der auf sie zukommen wird, außen vor bleiben muss. Talente können früh entdeckt und genutzt werden, solange es den Kindern Spaß macht. Manchmal aber sickert das elterliche Ego damit rein, und selbsterlebte Kränkungen aufgrund eigener unerreichter Ziele haben da nun die Chance, gelindert zu werden. Das Kind wird so zum Werkzeug der eigenen Genugtuung. Wird es zum Gewinner, gewinnen auch die Eltern.

Und wenn nicht? Was, wenn das Kind den Drill zum Leistungssport nicht mehr mitmachen will? Zum Klaviervirtuosen oder Schachmeister? Zum Klimasprachrohr oder Popstar? Nicht auszudenken, welcher Druck sich hier aufbauen kann beim Erfüllen elterlicher Erwartungen. Manchmal muss das Kind dann trotzdem ran, auch wenn es das nicht will. Wie bei Thomas Bernhard zum Beispiel, und seinem Geigenspiel. Oder Tom Schilling als Klavierspieler in dem mit Corinna Harfouch so bravourös dargestellten Psychogramm Lara.

In Hatching will Mädchen Tinja will zwar im Kunstturnen brillieren, sieht sich aber unter enormem Leistungsdruck, der von Mama ausgeht, während Papa wie das pittoreske, aber nutzlose Inventar eines neureichen Haushalts seine Rosen gießt und verlegen grinst. Glücklich ist die Familie dennoch. Zumindest nach außen hin, dank eines triefend kitschigen Heile-Welt-Blogs, der umschreiben und darstellen soll, wie glückliche Familien auszusehen haben. Dahinter liegt, wie kann es anders sein, einiges im Argen. Und als Mama einen fehlgeleiteten Raben, der im Wohnzimmer landet, den Hals umdreht, ist Schluss mit lustig. Tinja findet daraufhin ein Ei, das aus dem Nest des toten Vogels stammt. Sie nimmt es mit und will es ausbrüten. Doch wider Erwarten wird das Ei immer größer und größer, bis es den als Nest dienenden Teddybären sprengt – und aufbricht. Hervor kommt eine Kreatur, die das grimm’sche hässliche Entlein zum sexiest duck alive werden lässt. Was noch seltsamer ist: Das Wesen scheint mit Tanja mental und emotional in Verbindung zu stehen.

Die Familie darf davon natürlich nichts wissen. Doch wie lange lässt sich so etwas geheim halten? Wir wissen seit E.T. – Der Außerirdische: Irgendwann nicht mehr. Und tatsächlich mutet das finnische Horrordrama zumindest anfangs, nachdem das Ding geschlüpft ist, ein bisschen so an wie die Mär vom zwergischen Quadratschädel mit leuchtendem Finger, der Millionen zu Tränen gerührt hat. Heulen wird man allerdings bei diesen Begebenheiten aus dem hohen Norden womöglich nicht. Hanna Bergholm setzt hier keineswegs auf Tränendrüse, dafür ist die Art ihrer Inszenierung zu sperrig, um tief in diese Welt einzutauchen, abgesehen davon, dass man nicht so recht die Lust verspürt, dies zu tun, auch wenn alle Weichen gestellt wären. Bergholm zeigt ihre Wahlfamilie als formelhafte Verhaltensmuster webende Figuren einer idealen Welt, die es so nicht gibt. In diese Illusion kracht das faule Ei wie eine Fliegerbombe. Doch geht’s in erster Linie nicht darum, der intakten Fassade Sprünge zu verpassen. Jungschauspielerin Siiri Solalinna als in die Perfektion getriebenes Mädchen steht mitsamt ihrer bizarren Brut stellvertretend für all jene, die nicht dem Ideal verpflichtet sein wollen und den Mut dazu haben, niemanden gefallen zu müssen. Unter diesem psychologischen Aspekt arbeitet sich Hatching als lakonisches Puppentheater voran, bis hin zu einer konsequenten, jedoch tragischen Conclusio, das genauso wenig den Erwartungshaltungen entsprechen möchte wie Mädchen Tinja.

Filme wie diese entgehen den determinierten Berechnungen von Mainstream, und besonders Hatching, der anfangs nicht unter die Haut gehen will und so fasziniert wie eine befremdliche Freakshow, zelebriert eine Form von selbstbewusster Hässlichkeit, die Respekt verdient und in rebellischer Freiheitsliebe den verstörten Eltern ans Bein pinkelt. 

Hatching

Operation Schwarze Krabbe

VERHANDLUNGEN AUF DÜNNEM EIS

5/10


schwarzekrabbe_2© 2022 Netflix


LAND / JAHR: SCHWEDEN 2022

BUCH / REGIE: ADAM BERG, NACH EINEM ROMAN VON JERKER VIRDBORG

CAST: NOOMI RAPACE, JAKOB OFTEBRO, DAR SALIM, ARDALAN ESMAILI, ERIK ENGE, ALIETTE OPHEIM, DAVID DENCIK, SUSAN TASLIMI U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Es herrscht Krieg in Europa. Das ist tatsächlich so. Netflix wird in seiner Programmplanung aber sicher nichts davon gewusst haben, also ist es reiner Zufall, dass der Streamingdienst mit seinem fiktiven Weltkriegs-Actioner Operation Schwarze Krabbe in Sachen Timing genau ins Schwarze trifft. So wirken die ersten Szenen des Films unangenehm aktuell, wenn massenhaft Zivilisten in ihren PKWs bewaffneten Aggressoren entkommen wollen. Die Gewalt holt sie allesamt ein, mitunter auch Schauspielerin Noomi Rapace und ihre Filmtochter. Zersplitterndes Glas, Schreie, dann Blackout. So geht’s womöglich nicht weit von hier im Osten zu. Und das sind nicht die einzigen Bilder und Eindrücke, die frappant an die Gegenwart erinnern und an das, was man in den Nachrichten von den letzten in der Ukraine ausharrenden Journalisten zu Gesicht bekommt. Schwarzenegger hatte damals seinen Terror-Thriller Collateral Damage auf Eis gelegt, als 9/11 eintrat. Netflix tut das nicht. Hätte das Sinn gemacht?

Operation Schwarze Krabbe gibt sich anfangs so düster und dreckig wie Alfonso Cuaróns Children of Men. Es herrscht eine nicht näher definierte, militärische Auseinandersetzung, der Einsatz von Atomwaffen hat noch nicht stattgefunden. Es ist auch nicht klar, ob die ganze Welt oder nur Skandinavien von diesem Krieg betroffen ist. Jedenfalls steckt Rapace bis über beide Ohren im Würgeriff eines ebenfalls nicht näher definierten Militärs, dass seine Zivilisten mit Druck dazu zwingt, zu kämpfen. Caroline Edh, so Rapaces Filmfigur, ist daher bangende Mutter einer entführten Tochter, mit der sie womöglich wieder vereint sein könnte, würde sie sich einem Himmelfahrtskommando anschließen, dass wertvolle Fracht von A nach B bringen soll. Klingt wie eine simple Botenfahrt, allerdings hinter feindlichen Linien. In Sam Mendes 1917 war da eine ähnliche Geschichte. Nur dort musste niemand über die zugefrorene See schlittern. Wieso macht das nicht Liam Neeson? Der ist gerade im Norden Kanadas mit dem Truck auf der Ice Road unterwegs. Edh und 5 weitere schnallen sich also die Kufen um und los geht’s, zumeist in der Dunkelheit. Ziel ist eine Forschungsstation. Was es mit der Fracht auf sich hat? Absolute Geheimhaltung.

Neeson hat zumindest gewusst, was er transportiert. Aber zukünftig könnte man sich merken: hat Naomi Rapace mal alle Hände voll zu tun, kann der Action-Opa gerne einspringen. Beruht natürlich auf Gegenseitigkeit. Denn die schwedische Akteurin, groß geworden mit Stieg Larsson, macht ihre Sache ganz gut, wenn auch etwas zu outriert und in manchen emotionalen Szenen heillos dick aufgetragen. Andererseits passt das wiederum zum Film, der auf dem Roman Eis von Jerker Virdborg beruht. Wenn die Stuntdoubles des Ensembles in der Dämmerung übers Eis gleiten, ist das als finstere Antithese zu Holiday on Ice durchaus originell. Die latente Gefahr des Einbrechens erreicht zwar nicht jene Höhen an Spannung, die sich Bahn gebrochen hat, als Yves Montand mit Nitroglyzerin durch den Dschungel eierte, sorgt aber ab und an für zusammengekniffene Augen – weil man ja gar nicht hinsehen kann, wenn’s passiert. Um dieses erlesene Kernstück eines dystopisch-naturalistischen Abenteuers ist das Narrativ einer globalen Notlösung zur Beendigung des Krieges ein äußerst triviales, welches zusätzlich noch von stereotypen militärischen Abziehbildern kolportiert wird. Der Plot folgt bequemer Dutzendware und Noomi Rapace dem Ruf, als weiblicher Haudrauf mit moralischer Intelligenz einem wie Liam Neeson das Wasser zu reichen.

Operation Schwarze Krabbe

Bigbug

LOCKDOWN MIT ROBOTERN

4,5/10


bigbug© 2022 Netflix


LAND / JAHR: FRANKREICH 2022

BUCH / REGIE: JEAN-PIERRE JEUNET

CAST: ISABELLE NANTY, ELSA ZYLBERSTEIN, CLAUDE PERRON, STÉPHANE DE GROODT, YOUSSEF HAJDI, ALBAN LENOIR, FRANÇOIS LEVANTAL U. A.

LÄNGE: 1 STD 51 MIN


Schon wieder ein Film, der das Was-wäre-wenn-Szenario einer selbsterkennenden Technik bemüht, die gegen den Homo sapiens zu Felde zieht. Gut, Interpretationsspielraum gibt’s da einigen. Und ja, dieses Thema ist in Zeiten wie diesen eben relevant genug. Eines darf man aber in dieser Sache auch nicht ganz vergessen: Es kommt immer darauf an, wer da gerade welchen Film inszeniert. Und siehe da: Einer, der märchenhafte (Alb)träume in vergilbter Optik wie kaum ein anderer so gut beherrscht hat, ist nach knapp zehnjähriger Abstinenz wieder zurück im Filmbiz: Jean-Pierre Jeunet. Ich gebe zu, ich liebe seine Interpretation des Alien-Mythos, und halte diese Episode für eines der besten Franchise-Prequels überhaupt. Aber das nur so am Rande. Was habe ich den Mann nicht schon vermisst. Eigentlich hätte Jeunet gar eine Episode von Harry Potter inszenieren sollen, hatte aber abgelehnt. An Life of Pi hat der Visionär rund 2 Jahre herumgemurkst – nichts ist daraus geworden, Ang Lee hat übernommen. Einfach dürfte der Franzose nicht gerade sein. Seine Filme sind das nämlich auch nicht. Schon gar nicht seine neueste Eskapade mit dem Titel Bigbug.

Was Bugs sind, wissen wir Bildschirmathleten natürlich alle. Wenn dieser dann noch unüberschaubar groß wird, gibt’s für den im Jahre 2045 von Robotern hinten und vorne bedienten Mittelschichtsbürger kein Entkommen mehr. Zumindest nicht aus der eigenen Wohnung. Denn in dieser reissen vier zweckvariable Haushaltsroboter einschließlich eines Sexroboters aus dem Nachbarhaus das Zepter an sich und blockieren den Ausgang. Ein Lockdown also für alles Organische, während sich außerhalb des akkuraten Reihenhauses eine neue Macht formiert – die der Yonix. Von hinten sehen die Kerle aus wie Robocop, sichtbares Seniorentum ziert allerdings das synthetische Konterfei der gespenstisch grinsenden Altherren-Simulationen, die den Feuerstrahl im Finger haben und gerne via TV ihre Erbauer der Lächerlichkeit preisgeben: als zur völligen Unfähigkeit degenerierte, hechelnde Hündchen, die alles tun, was die Technik sagt. Ein schönes Zerrbild, mittlerweile mehr wahr als übertrieben.

Somit klingt das ganze Szenario ja schon mal grotesk genug, um von Jeunet zu sein. In Sachen Ausstattung scheut dieser keine Mühen, das Reihenhaus erinnert an den technologisierten Tücken-Parcour aus Jacques Tatis Mein Onkel, nur bunter, opulenter und noch detailverliebter. Doch irgendetwas stört. Vielleicht ist es das durch die Bank aufgesetzte Spiel der Protagonisten – von der älteren Nachbarin samt Hündchen über zwei frisch Verliebte bis zum Exmann jener, der das Haus gehört. Alle scheinen neben der Spur, keiner ist geerdet, alle sind so aufgedreht wie in den Filmen von Louis de Funes. Das in hohen Oktaven und gehetzt hervorgebrachte Gebrabbel bleibt leidlich interessant und fällt schnell auf den Wecker. Bigbug ist anstrengend, wenig griffig und recht trivial. Maschinen hin oder her: ihr Wille, den Platz des Menschen einzunehmen, ist ein halbherziges Unterfangen und verliert sich dann auch in viel zu vielen lediglich angerissenen Nebensächlichkeiten, die vor allem mit den Befindlichkeiten der Eingesperrten zu tun haben. Mancher Slapstick gelingt, das Meiste aber ist ermüdend. Schade, dass Jeunet hier nichts Handfesteres entworfen hat. Wenig erinnert noch an seine Klasse, die er mit Filmen wie Die Stadt der verlorenen Kinder oder Die fabelhafte Welt der Amelie unter Beweis gestellt hat. Was bleibt, ist pastellige Hektik mit schrägen Robotern. Wars das jetzt wieder, für die nächsten zehn Jahre?

Bigbug