Neues aus der Welt

DIE LAGE DER NATION

7/10


neuesausderwelt© 2021 Bruce W. Talamon/Universal Pictures/Netflix


LAND / JAHR: USA 2020

REGIE: PAUL GREENGRASS

CAST: TOM HANKS, HELENA ZENGEL, ELIZABETH MARVEL, RAY MCKINNON, BILL CAMP, MARE WINNINGHAM U. A. 

LÄNGE: 1 STD 59 MIN


Auf diesen Film hatte ich schon gewartet, als im Herbst letzten Jahres der erste Trailer zu sehen war. Damals hieß es noch, diesen Western will man garantiert auf die große Leinwand bringen. Wo er, nach Sichtung, natürlich auch hingehört hätte. Herrliche Landschaftsaufnahmen in spätnachmittäglichem Licht, Indianer im Sandsturm (was für Bilder!), ausgesuchte und üppig ausgestatteter Naturalismus des kleinstädtischen Lebens quer durch die Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg. Aber gut, bei einem Western ist die Bildgewalt meist mit von der Partie. Viel eher der Grund dafür, diesen Film auf meine Watchlist gesetzt zu haben, war wohl die Überraschung, Systemsprenger Helena Zengel am Kutschbock neben Filmstar Tom Hanks zu sehen. Nora Fingscheidts Psychodrama rund um ein schwer erziehbares, aggressives Mädchen hat der Schauspielerin ja schon den Deutschen Filmpreis beschert. Das natürlich völlig zu Recht, da man ihr wütendes Gebaren nicht so schnell wieder vergisst. Diese Performance konnte selbst Paul Greengrass nicht übersehen – solche Rollen sind selten und solche Filme machen dann auch quer über den Globus von sich reden. Also dauerte es womöglich nicht sehr lange, bis Helena Hand in Hand mit dem zweifachen Oscarpreisträger durch die Wildnis stiefelte. Das passt doch, oder? Und wie das passt. Man nennt das auch: einen Draht zueinander haben. Greengrass fängt diesen glücklichen Umstand in seinem elegischen, teils sehr ruhigen Roadmovie genüsslich ein.

Dabei ist der Stoff des Western im Grunde der, den wir auch schon aus Disneys The Mandalorian kennen: ein Reisender findet ein besonderes Kind und will es seiner Bestimmung zuführen, während andere ihm auf den Fersen sind. Nur: Tom Hanks ist kein Kopfgeldjäger (würde er nie spielen), sondern – wenn man so will – der Larry King des 19. Jahrhunderts. Einer, der von Ort zu Ort tingelt und dem leseschwachen Volk die Nachrichten rezitiert. Neues aus der Welt eben, und alles im Rahmen einer Bühnenshow. Wie es das Schicksal so will, stößt er auf der Durchreise auf eine verunglückte Kutsche samt juvenilem Passagier. Rätselhaft: Das Kind spricht ausschließlich die Sprache der Kiowa und trägt deren Kleidung. Am besten wird sein, Captain Kidd – so Tom Hanks Charakter – bringt das heimatlose Wesen zu seinen Verwandten in den Süden.

Helena Zengel darf auch hier wieder ausrasten. Natürlich nicht so extrem wie in ihrem Debütfilm, aber die eine oder andere Widerborstigkeit kostet Hanks und Co durchaus einige Nerven. Und es sind nicht diese Ausraster, die vom enormen Talent des Mädchens überzeugen sollen – es sind die stillen Momente. Es ist Helena Zengels erfrischend ungefälliges Auftreten. Da war wohl auch Tom Hanks fasziniert, denn als Captain Kidd kann er das Kind selten aus den Augen lassen. Das Duo ergänzt sich prächtig, und die ruhigen Momente am Lagerfeuer oder am Kutschbock verraten eine solide Verbundenheit. Andererseits: an Hanks staubiges Sakko würde ich mich aber auch lehnen wollen. Der Mann ist wahrlich der gute Mensch Hollywoods – ein Humanist vor der Kamera, stets nach bestem Wissen und Gewissen handelnd. Mit sich hadernd, an sich zweifelnd, das wohl immer. Aber stets das Rechtschaffene verkörpernd, andere errettend, für andere sorgend, auch wenn’s für die eigene Achtung kaum mehr reicht. Das schafft Hanks wieder bravourös – er liefert, was man von ihm erwartet, und Helena Zengel kitzelt dabei noch mehr von dieser sinnenden Selbstlosigkeit aus ihm heraus.

Mag Neues aus der Welt noch so elegisch, vielleicht gar vorhersehbar oder plätschernd sein, mag das Genre des Westerns einen neuen Grad der späten Erschöpfung erreicht haben: Helena Zengel als Bindeglied zwischen den Fronten, als Heimatlose in einer Zeit voll posttraumatischen Vakuums begleitet den Seher durch ein weites Land, das gerade erst beginnt, sich neu zu orientieren. Greengrass Film ist also viel mehr Zeitbild als ein klassisches Genreabenteuer mit Blei, Saloon und Pferdemist. Eine Reportage voller neuer Nachrichten, in denen die alten keines Blickes mehr wert sind.

Neues aus der Welt

Atlantic

DES MEERES UND DER LIEBE WELLEN

7/10

 

Atlantic© 2014 Thimfilm

 

LAND: NIEDERLANDE / BELGIEN / DEUTSCHLAND / MAROKKO 2014

REGIE: JAN-WILLEM VAN EWIJK

MIT FETTAH LAMARA, THEKLA REUTEN, MOHAMED MAJD, BOUJMAA GUILLOUL U. A.

 

Stürmisch ist er. Saukalt. Strömungs- und nährstoffreich – der atlantische Ozean. Nicht gerade das Meer zum Chillen, aber das Meer, um den starken Sportler zu markieren und zu surfen, was das Zeug hält. Die Küsten Marokkos und jene der kanarischen Inseln sind das Paradies für Wellen-Junkies schlechthin. Wer ein Surfbrett hat, hat den Sinn seines Lebens gefunden. Und gehört fortan zu einer Gruppe von Menschen, die mit Dreadlocks, kurzen Schlabberhosen und einer gehörigen Portion Lässigkeit das Leben auf die leichte Schulter nehmen. Um meterhohen Wasserbergen zu trotzen gehört schon eine Portion rotzfrecher Todesmut. Und nach jeder unversehrten Rückkehr an den Strand ist die Existenz um einige Fuhren Küstensand leichter. Womit wir beim Subgenre des Surfer-Films wären. Tatsächlich gibt es Festivals wie jene des Bergfilms, die sich ausschließlich den gefilmten Loops mit Brett und Segel widmen. Womöglich nur was für Surfer-Nerds, obwohl auch Nicht-Dudes so mancher cineastischen Spezialität neben all den atemberaubenden Stunts auch andere Aspekte abgewinnen können. So gesehen bei Atlantic, einer entrückend poetischen Filmerzählung, die den Wassermassen zwischen alter und neuer Welt in den schönsten Lichtreflexionen huldigt und einen Fischersohn namens Fettah auf eine Reise schickt, von welcher er womöglich nicht mehr zurückkehren wird.

Der niederländische Filmemacher Jan-Willem van Ewijk hat ein elegisches Essay über die Sehnsucht nach einem besseren Leben inszeniert, ohne sich dabei aber explizit auf die Charakterisierung des Flüchtlings an sich zu beschränken. Sein Film fordert mehr Fragen und Skepsis zutage als es anfangs den Anschein hat. Denn der Laiendarsteller und Surfer Fettah, der von van Ewijk für eine Rolle selbes Namens gecastet wurde, gibt sich seinen Träumen hin. Den Träumen von einem Leben in einem Elysium des Westens, in einem gelobten Land, wo Milch und Honig fließen, wo es allen besser geht, wo das einzig erstrebenswerte Ziel des materiellen Wohlstands so nah ist wie nirgendwo sonst. Es ist weniger die Schwärmerei für eine junge Frau, die den jungen Fischer und Surfer beeindruckt, sondern der Ort, von wo dieses Wesen aus dem Westen herzukommen scheint. Längst an einen Freund Fettah´s vergeben, entspinnt sich zwischen beiden dennoch eine fast schon intime Vertrautheit – die aber nicht mehr sein kann als ein sommerlicher Flirt, dessen Buschfeuer relativ schnell verraucht. Der Mann aus Afrika will aber mehr. Was genau, darüber lässt uns van Ewijk eigentlich im Unklaren. Sein Abenteurer will das, was durch den Besuch sämtlicher Touristen plötzlich so greifbar nah erscheint. Will das, was er eigentlich gar nicht kennt, und über die Maßen idealisiert. Es ist die eigene Unzufriedenheit, die das Auswandern in ein besseres Leben rechtfertigen soll. Das eigene kleine Glück, die Wertschätzung vertrauter Menschen, greifbare Werte, die bleiben, wenn nichts mehr bleibt – selbst die einfordernden Rufe nach Rückkehr bleiben angesichts des Wagemuts, die Grundrechte auf das Menschenmögliche einzufordern, ungehört.

So fängt der junge Mann und das Meer keinen Marlin, der an der Angel hängt und wie bei Hemingway während der Fahrt zurück ans Ufer aufgefressen wird – vielmehr orientiert sich der Glückssucher an den Gestirnen, und verliert dennoch die Orientierung. Mag sein, dass ich Atlantic völlig falsch eingeschätzt habe. Doch das, was mir van Ewijk´s Film vermittelt, ist kein Manifest, dass Mut macht oder den Mutigen bemitleidet. Nichts, was den Flüchtenden besser verstehen lässt. Im Gegenteil. Die Sehnsucht nach dem Mehr im Leben taucht im Meer des Lebens auf poetische, zurücknehmend kritische Weise als Fragment in der kalten Strömung unter.

Atlantic