Ich Capitano (2023)

MOSES DER MIGRANTEN

6,5/10


ichcapitano© 2023 Greta De Lazzaris / X Verleih AG


ORIGINALTITEL: IO CAPITANO

LAND / JAHR: ITALIEN, BELGIEN 2023

REGIE: MATTEO GARRONE

DREHBUCH: MATTEO GARRONE, MASSIMO GAUDIOSO, MASSIMO CECCHERINI, ANDREA TAGILAFERRI

CAST: SEYDOU SARR, MOUSTAPHA FALL, ISSAKA SAWAGODO, HICHEM YACOUBI, DOODOU SAGNA, KHADY SY, VENUS GUEYE, CHEICK OUMAR DIAW, BAMAR KANE U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Willkommen im Flüchtlingszeitalter. Dabei gab es dieses Phänomen der Migration schon, seit es Menschen gibt, betrachte man nur die Umwälzungen während der Völkerwanderung. Heutzutage sind es wieder mal Kriege im Nahen und europäischen Osten, die dazu geführt haben, dass von Syrien bis in den Iran Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen. Die Rede ist von Flüchtlingen, die gar nicht anders können, als ihre eigene Haut retten zu müssen. Und dann gibt es jene, die weder verfolgt noch diskriminiert noch anderweitig bedroht werden, aber dennoch nicht hinnehmen wollen, in einem Land zu leben, das keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten bietet. In Anbetracht dieser ernüchternden Umstände erscheint das nicht allzu ferne Europa als ein Land, in dem Milch und Honig fließen, als gelobter Boden, auf dem alles machbar scheint. Ganz egal, wer oder was Entwicklungsländern dieses Bild vermittelt – das Ideal eines paradiesischen Europas kann so nicht stimmen. Aufklärungsarbeit hinsichtlich dessen zu leisten, was Europa im Idealfall versprechen könnte und wieviel gleichzeitig auch nicht, könnte manchen Young Adult wie in Matteo Garrones Film vielleicht nochmal darüber reflektieren lassen, was im eigenen Land nicht vielleicht doch alles möglich wäre – und ob es die Reise ins Ungewisse wirklich lohnt, um dann, irgendwo weit weg von Heimat, Familie und allem Vertrauten, in einem Asylheim auszuharren, während der Traum von Reichtum und Ruhm zusehends verblasst.

Diese naive Vorstellung vom Leben in Saus und Braus als Star der Musikbranche treibt den 16jährigen Seydou dazu an, gemeinsam mit seinem Cousin Moussa die Hauptstadt des Senegal und somit auch die Familie zu verlassen, um ein besseres Leben zu beginnen. Dabei ist jenes in Afrika nun mal nicht das Schlechteste. Zugegeben, das Zuhause könnte ein Upgrade vertragen, beim Lebensstandard gäbe es Luft nach oben. Doch mit Ehrgeiz, Willenskraft und all dem Ersparten, dass Seydou und Moussa ohnehin zur Seite gelegt haben, könnte man es auch im Senegal zu etwas bringen, Beziehungen gäbe es genug. Den beiden ist das zu wenig. Europa ist das Ziel, und dafür würden alle Gefahren dieser Welt sie nicht aufhalten. So beginnt eine abenteuerliche Reise quer über die Nordhälfte des afrikanischen Kontinents – über Mali, den Niger bis nach Libyen und von dort sollte es per Flüchtlingsboot nach Italien gehen. Eine Entbehrung folgt der nächsten, der Marsch durch die Wüste wird zu einem Gewaltakt und eine Probe auf Leben und Tod. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, werden Seydou und Moussa von libyschen Banditen überfallen, der eine kommt ins Gefängnis, der andere wird in die Sklaverei verkauft. Eine Prüfung folgt der nächsten, am Ende mag Seydou die Verantwortung tragen für ein Schiff voller Menschen. Ich Capitano wird der Teenager über die Köpfe seiner Schützlinge brüllen – er wird sich fühlen wie Moses, der eine Gefolgschaft ins gelobte Land führt.

Matteo Garrones entbehrungsreiches, üppig bebildertes Roadmovie war dieses Jahr für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Eine Auszeichnung, die gerechtfertigt ist? Es kommt darauf an, zu welchen Gedankengängen das Werk inspiriert.

Garrone ist einer, der in seinen Werken stets in sattem Naturalismus schwelgt, der nicht selten in rauer Gewalttätigkeit mündet. Seine Macht-Parabel Dogman ist schwere Kost, alternativ dazu gelingt ihn mit seinen düster-vernebelten Interpretationen barocker italienischer Märchen (Das Märchen der Märchen) und Collodis Volksklassiker Pinocchio eine Abkehr von schmeichelnder Lieblichkeit hin zu einem blutig-bizarren Maskenball. Ich Capitano zögert an manchen Stellen auch nicht, deftig auszuteilen, was insbesondere die Darstellung der libyschen Gefangenschaft betrifft. Darüber hinaus aber könnte man Garrones Direktheit fast schon vermissen. Die Reise seines alttestamentarischen Auserwählten überwindet zwar allerhand Hürden, doch die helfende Hand von etwas übergeordnet Schamanistischem scheint den jungen Seydou voranzuschubsen. Knallharter Kinorealismus sucht man vergeblich, auch wenn sich alles und zumindest visuell so anfühlt, als wäre es das. Ich Capitano ist immer noch entrückt magisch, wie eine leicht verschobene, beinharte Realität, und es ist nie klar zu sagen, ob die metaphysischen Elemente des Films Garrones Universum tatsächlich durchdringen oder nur Träumereien sind.

Letztlich ist es kaum zu glauben, dass diese Odyssee wirklich gelingt. Als zu simpel stellt der Film manches dar, der Hang zur Romantisierung ist unverkennbar. Was aber nicht heisst, dass Ich Capitano nicht weiß, wie er sein Publikum packt. Die Fahrt übers Meer gestaltet sich als kakophonisches Chaos aus darbenden Menschen, denen Seydou den Segen bringt. So etwas in Szene zu setzen bedarf Können, und Garrone sind dahinsichtlich meisterhafte Momente wohlwollenden Pathos gelungen, der sich dadurch in Zaum hält, das Schicksal einer Eroberung Europas nicht auszuerzählen.

Ich Capitano (2023)

Old Henry

NOCH GUT IN SCHUSS

7/10


oldhenry© 2022 Koch Films


LAND / JAHR: USA 2021

BUCH / REGIE: POTSY PONCIROLI

CAST: TIM BLAKE NELSON, GAVIN LEWIS, SCOTT HAZE, TRACE ADKINS, STEPHEN DORFF, MAX ARCINIEGA U. A.

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Als Wandermusiker Buster Scruggs, dessen Ballade dank Joel und Ethan Coen in die Geschichte des Westernfilms eingegangen ist, hat sich Tim Blake Nelson ein Denkmal gesetzt. Der Nachkomme deutsch-jüdischer Flüchtlinge vor den Nazis, deren Verbrechen Nelson in seiner Regiearbeit Die Grauzone auch thematisierte, hat mit seiner Performance des kartenspielenden sowie singenden Revolverhelden dem Genre frischen Wind in die Segel geblasen – wer den Episodenfilm bis jetzt noch nicht am Schirm hatte: Unbedingt nachholen! Drei Jahre später ist Nelson abermals in diesem Genre zu finden, und zwar in dem viel konventionelleren Western Old Henry, der letztes Jahr im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig seine Premiere feiern durfte. Lässt sich das als besondere Ehre werten? Womöglich schon, denn Festivalfilme sind stets wohlselektiert, vorzugsweise von einem Gremium, das von sich selbst meint, den künstlerischen Wert eines Films abschätzen zu können. Wäre Tim Blake Nelson allerdings nicht für die tragende Rolle als ebendieser Old Henry vorgesehen gewesen, wäre der von Potsy Ponciroli geschriebene und inszenierte Film einer bewährten Formelhaftigkeit erlegen, die bereits in Filmen wie Jane got a Gun oder anderen Farm Invasion-Thrillern im pionierhistorischen Gewand angewandt wurde. Der Unterschied zu eben diesen anderen gleichgeschalteten Produktionen liegt fast ausschließlich an der Performance des markanten Charakterdarstellers Nelson, der als knorrige und vom Leben sichtlich in Mitleidenschaft gezogene Kreatur beim Prozess der Friedensfindung mit seiner eigenen Vergangenheit das lakonische Understatement neu erfunden zu haben scheint.

Da bleiben Genrekollegen, angefangen bei Clint Eastwood bis zu Denzel Washington, in ihrer Not natürlich attraktiver, aber wer will das schon, wenn Westernhelden immer die gleiche Leier spielen, von zynischen Eigenbrötlern bis zur Ein-Mann-Armee. Natürlich: Tim Blake Nelson scheint Ähnliches in petto zu haben, doch viel mehr wirkt er wie ein ausgemergelter Don Quijote, der sich zur Ruhe gesetzt hat, mitsamt seines schon so gut wie erwachsenen Sohnes und das Grab der Gattin oben am Hügel im Blickfeld. Da passiert es natürlich, dass beide während ihres Tagwerks ein herrenloses Pferd sichten, mit Blut am Sattelknauf und eine deutliche Spur hinter sich herziehend, an dessen Ende sein Besitzer angeschossen im Staub liegt, mit einer Tasche bei sich, die ein kleines Dollarvermögen birgt. So ein Patzen Geld bedeutet in Zeiten wie diesen stets Ärger. Besser nichts anrühren wäre vernünftiger. Passiert aber nicht – und Old Henry bringt den Verletzten, Geld und Pferd mit auf die eigene Farm, womit dieser sich schließlich eine Menge berittener Probleme aufbürdet, und zwar in Gestalt recht fieser Ganoven (darunter Stephen Dorff), die so tun als wären sie das Gesetz und gerne das hätten, was Old Henry im Hause versteckt.

Natürlich gibt der knorrige Alte mit schütterem Haar, schiefen Augen und schlechten Zähnen nicht klein bei, und was folgt, ist – wie schon eingangs erwähnt – ein oftmals bemühtes Konzept zum Faustrecht der Prärie. Doch Nelsons vorschnell unterschätzbare Figur birgt ein Geheimnis; ihr Hang zur Verdrängung, zur Vorsicht und zur Bereitschaft, den bösen Jungs frech zu kontern, macht aus diesem Western eine klangvolle Charakterstudie, die genug Nostalgie für klassische Legenden aufbringt und diese auf den Boden einer alternativen Realität bringt. Tim Blake Nelson wird wohl heilfroh gewesen sein, auf dieser akkurate Bühne die Möglichkeit bekommen zu haben, so richtig aufzuspielen. Hier tobt ein letztes Gefecht, mit Story-Twist, Kugelhagel und stillen Momenten der Erschöpfung, die man hat, wenn man ein Leben wie kein anderes gelebt hat.

Old Henry

Sweet Country

TRISTESSE IM BUSCH

6/10

 

sweetcountry© Grandfilm 2017

 

LAND: AUSTRALIEN 2017

REGIE: WARWICK THORNTON

CAST: HAMILTON MORRIS, SAM NEILL, BRYAN BROWN, EWAN LESLIE U. A.

 

Wenn vom Weltuntergang die Rede ist, dann ist das für viele sicherlich irgendeine kataklysmische Einwirkung aus dem Weltall. Dass die Vernichtungen ganzer Kulturkreise, die ihre eigenen Welten hatten, bereits stattgefunden haben, wird mangels globaler Relevanz gerne vergessen. Das Schwarzbuch der Menschheit kann hier Abhilfe schaffen. Oder eben Filme. Wie zum Beispiel Sweet Country. Dieser sagen wir mal Western aus Down Under ist ein Drama, das eine reale postapokalpytische Welt beschreibt, und zwar für jene, die uns allen als das Volk der Aborigines geläufig ist. Das Urvolk Australiens braucht eigentlich nicht mehr auf Armageddon zu warten. Genauso wenig die Ureinwohner Tasmaniens, wurden die doch komplett ausgelöscht. Diese historische Tendenz zur Volksvernichtung und ein spätes (Unter)bewusstsein für Verantwortung könnte womöglich auch der Grund sein, warum australische Filmschaffende gerne auf postapokalyptische Szenarien zurückgreifen. Mad Max zum Beispiel, die Kult-Endzeit schlechthin. Oder das Netflix-Zombiedrama Cargo. Gerne als Geheimtipp gehandelt: The Rover von David Michôd mit Robert Pattinson. Düster, düsterer – australische Zukunft. Sweet Country spielt zwar nicht in der Zukunft, fühlt sich aber genauso an. Was genau denn, so fragen kritische Stimmen, soll man gesellschaftlich Erbauliches aus der Terra incognita eigentlich berichten? Die Fauna und Flora, ja, die ist einzigartig, keine Frage. Die Wüsten, das Outback und vor allem die Küsten im Westen, vorzugsweise menschenleer.

In Warwick Thorntons grimmigem Anti-Heimatfilm sind viele der Ureinwohner devote Helfer der Weißen, nur ein Hungerlohn unterscheidet sie vom Dasein als Sklaven. Die Weißen – die sind bis auf wenige Ausnahmen hässliche, raue Männer, die keine Liebe kennen, keine Achtung und keinen Respekt. Thorntons weiße Männer sind Monster, quälen den Unterdrückten, berauben ihn der Freiheit und keifen ihn zu einem Häufchen Elend zusammen wie einen Hund, der vom Napf des Herrchens kostet. Szenenweise erinnert Sweet Country an 12 Years a Slave – vor allem in seiner Schilderung der zeternden Tyrannen, die niemandem Rechenschaft schulden und die in ihrem Glauben an das Faustrecht des Stärkeren denken, alle Rechte der Welt zu besitzen, auch die für Mord und Missbrauch. Das ist gesetzlose Anarchie nach dem Zusammenbruch einer staatlichen Ordnung. Oder dort, wo gar keine hinkommt, ähnlich wie im wilden Westen, wo der Arm des Gesetzes kurz ist. Nur – in Australien ist die Weite nur bedingt erschließbar, der Busch undurchdringlich, und das, was erschließbar ist, radikaler gesäubert oder assimiliert. Jenseits davon – das Niemandsland für das letzte Häufchen Einwohner, die dem Faustrecht ohnmächtig gegenüberstehen.

Sam Neill als eremitischer Farmer ist in Sweet Country aber einer der Guten. Allerdings der einzige. Bei ihm haben die Aborigines Sam, dessen Frau und beider Nichte ein gutes Auskommen als manch ein Indigener anderswo. Doch die Revierherren angrenzender Territorien ticken da ganz anders, schnorren Farmer Neill für ein paar Tage das Personal ab und behandeln dieses natürlich wie den letzten Dreck. Als die drei zurückkehren, hetzt einer der herrischen Unmenschen ihnen nach, um sie wegen dem Verschwinden eines anderen Knechts zu belangen – und eröffnet das Feuer. In dieser brenzligen Situation greift Sam selbst zur Waffe – und knallt den Weißen ab. Folglich ist dieser Freiwild, und das Gesetz, oder das, was von ihm übrig ist, folgt dem Flüchtenden hinterher. Allerdings wohl mehr aus einem rassistisch geprägten Impuls und aus Rache als aus einem Bewusstsein für Recht und Ordnung. Tief ins Outback hinein führt die Suche nach jemandem, der nur aus Notwehr gehandelt hat.

Die Aussichten für den indigenen Australier Sam sehen schlecht aus, das spürt man als Zuseher in jeder Sekunde. Der Hass auf jene, denen das Land gehört, verflucht den Boden unter deren Füßen. Was daraus wuchert, ist körperliches wie seelisches Leid. Der Australier John Hillcoat hat 2005 einen nicht weniger zermürbenden Hexenkessel zwischen bröckelnder Zivilisation und Wildnis geschaffen – The Proposition mit Guy Pearce lässt das Blut zwar noch mehr in den staubtrockenen Boden sickern als Sweet Country – der nihilistische Grundtonus ist bei beiden Filmen aber ähnlich. Ein Spaziergang ist diese Art des Western Noir wirklich nicht, schon gar nicht, wenn es letzten Endes nicht mal mehr Hoffnung gibt. Hillcoat sowie in diesem Fall Thornton zeichnen ein hoffnungsloses Bild jenseits von Känguru, Uluru und Bumerang, auch wenn die menschenfeindliche Natur als dramaturgischer Joker in die Karten der verfeindeten Parteien gemischt wird. Die Tristesse dieses ethnischen Schicksals legt sich in bleierner Resignation wie ein grauer Schleier über den Film, der jegliche Zuversicht filtert – selbst das Abendrot birgt bereits die Bürde des kommenden Morgens. Der wird für einige nicht mehr anbrechen, was angesichts dieser kaputten Koexistenz zwischen Whitefellas und Blackfellas vielleicht sogar das geringere Übel ist.

Sweet Country