Rache auf Texanisch (2022)

VERGELTUNG AUS ZWEITER HAND

5,5/10


vengeance© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: B. J. NOVAK

CAST: B. J. NOVAK, BOYD HOLBROOK, ASHTON KUTCHER, DOVE CAMERON, ISABELLA AMARA, J. SMITH-CAMERON, LIO TIPTON, ISSA RAE, JOHN MAYER U. A. 

LÄNGE: 1 STD 47 MIN


Kein anderes Gefühl treibt den Menschen so sehr um wie die Rache. Fast jeder Thriller, jedes zweite Drama – immer wieder geht es darum, gleiches mit gleichem zu vergelten; das Bibelwort Auge um Auge, Zahn um Zahn so richtig, mit Pauken und Trompeten, auszuleben, ohne Rücksicht auf Konsequenzen und Verluste. Jemanden bezahlen zu lassen für erlittene Schmach – daran kann man sich schon ergötzen, das geht bis ins Herz. Vor allem im Action-Genre werden die Bösen am Ende ordentlich zur Kassa gebeten, nachdem wir sehen durften, was sie Unverzeihliches angerichtet haben. Man kann Rache aber auch aus zweiter Hand üben. Man braucht dabei nur lang genug im Dunstkreis begangener Verbrechen verweilen, um sich über so manches, was schiefläuft, im Klaren zu werden, ohne dass man unmittelbar daran beteiligt war. Beeinflussung nennt sich sowas. Oder Empathie für ein unbekanntes Opfer, das für mehr steht als nur für private Befindlichkeiten.

Um in Medias Res zu gehen, muss Macho und Frauenheld Ben an den Ort des Geschehens reisen – und zwar nach Texas. Es geht auf das Begräbnis einer flüchtigen sexuellen Bekanntschaft namens Abby, die an einer Überdosis starb, die aber ihre ganze Familie wissen hat lassen, dass das Verhältnis mit Ben mehr war als nur ein One-Night-Stand. Sowas wie eine richtige Beziehung. Ben will die trauernde Familie und auch ihren Bruder Ty (Boyd Holbrook) nicht vor den Kopf stoßen. So viel Nächstenliebe muss sein, auch wenn das mit der Partnerschaft nicht ganz so stimmt, aber das muss ja keiner erfahren. Die Fassade wird gewahrt, die Sache wäre erledigt, wäre Ty, nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte, fest davon überzeugt, dass Abbys Ableben nicht ganz freiwillig passiert ist. Ben, bekannter Podcaster dort, wo er herkommt, wittert nach einem kreativen Leerlauf endlich wieder die große Chance, einen Knüller zu landen. Mit eine True Crime-Story in Echtzeit, mit ganz viel Lokalkolorit und Suspense. Aus dem neuen Projekt wird sehr schnell mehr, nämlich der Blick hinter die Kulissen selbstgefälliger Moral und der eigenen falschen Definition von Verantwortung.

Anders als in der Kult-Soap Dallas kommt Texas als ein öder Landstrich daher, auf welchem ab und an Ölförderpumpen stehen und sonst nur kleine Nester inmitten karger Wüstenlandschaft. Texas als Santa Nirgendwo, das „Marchfeld“ Amerikas, nur weniger fruchtbar. Dieses Niemandslandes lässt Comedian und Schauspieler B.J. Novak, den meisten wohl bekannt durch seine Rolle in der US-Version von The Office, zum Schauplatz für eine sprachlich sehr eloquente, aber nicht ganz durchschaubare Tragikomödie werden, die manchmal Anleihen am Thriller-Genre nimmt, ohne einer sein zu wollen. Während der Kriminalfall in der Podcast-Krimiserie Only Murders in the Building den dramaturgischen Kern gibt, um welchen sich die Handlungsfäden der einzelnen Figuren ranken, ist in Rache auf Texanisch der mögliche Mord nur Auslöser für einen Lokalaugenschein quer durch eine Gesellschaft, die sich vieles, das längst im Argen liegt, schöngeredet oder unter den Teppich gekehrt hat. Ein Ort, ein Mikrokosmos, der in Verständnis seiner eigenen Moral stagniert. So gesehen ist Rache auf Texanisch ein kritischer Blick auf das neue Amerika – alles verpackt in einen Podcast-Beitrag der vielen Worte und Gleichnisse. Novak, der sich selbst die Hauptrolle gab, suhlt sich in seiner Selbsterkenntnis und mausert sich durch Interviews mit dem Bürgertum zum besseren Menschen. Das führt dazu, das im Film selbst nicht viel weitergeht, dass sehr viel geschwafelt wird und trotz überzeugenden Schauspiels die schwarze Komödie oder was auch immer der Film sein mag nirgendwo wirklich zupackt. Das ist Kino für Redenschwinger und weise Männer in der Midlife-Crisis, die dem Thema Rache und Gerechtigkeit aber zumindest einen anderen Blickwinkel abringen können als nur den, mit der Tür ins Haus zu fallen und alle niederzumachen. So gesehen hat der Film wieder das gewisse Etwas, andererseits ist der Weg dorthin aber zu selbstgefällig.

Rache auf Texanisch (2022)

Der Mann, der seine Haut verkaufte (2020)

DIE FREIHEIT DER KUNST

6/10


dermannderseinehautverkaufte© 2020 eksystent filmverleih


LAND / JAHR: TUNESIEN, FRANKREICH, BELGIEN, DEUTSCHLAND, SCHWEDEN 2020

BUCH / REGIE: KAOUTHER BEN HANIA

CAST: YAHYA MAHAYNI, DEA LIANE, KOEN DE BOUW, MONICA BELLUCCI, RUPERT WYNNE-JAMES, HUSAM CHADAT U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Wenn man länger drüber nachdenkt, verwundert es einerseits nicht – andererseits fühlt es sich nicht ganz richtig an: Dass Kunstwerke mehr wert sind als ein Menschenleben. Vielleicht, weil diese Kunstwerke immer nur Unikate sind. Und der Mensch nicht als Individuum, sondern nur als ein Exemplar immer derselben Spezies betrachtet wird, und das alleine deswegen, weil man nichts über die Biographien der jeweiligen Menschen kennt. Dann würde sich herausstellen, dass jeder von ihnen genauso einzigartig ist wie eines dieser um Millionen Euro gehandelten Exponate, die frei von irgendwelchen Beschränkungen durch die Welt tingeln, ohne Angst haben zu müssen, ausgestoßen, zurückgewiesen oder misshandelt zu werden. Immerhin sind diese Werke hoch versichert.

Doch machen wir mal die Probe aufs Exempel. Mit einem Film, der 2021 für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert war: Der Mann, der seine Haut verkaufte. An dieser Stelle bemühe ich stets gerne die gesellschaftskritische Philosophie des französischen Dadaisten Marcel Duchamp, der seinerzeit die Dreistigkeit besaß, ein herkömmliches Pissoir zum Kunstwerk zu deklarieren. Das soll nicht bedeuten, dass dies den Wert des Menschen spiegeln soll, sondern nur die Relation zum Wertebegriff und worauf es ankommt, etwas in seinem Wert zu steigern oder zu senken. Duchamp ist das gelungen, selbst Picasso hat im Zenit seines Ruhms einfach nur Servietten mit seiner Signatur bekritzeln müssen, schon war dieses Stück Stoff mindestens einen ganzen Lotto-Jackpot wert. Was stimmt hier nicht, dass Menschen um ein besseres Leben ringen müssen und Pissoire unbezahlbar werden? Was aber, wenn man beides zusammenbringt? Der syrische Flüchtling Sam Ali, der aufgrund unbedachter und aus dem Zusammenhang gerissener Aussagen im Libanon ein neues Leben beginnen musste, fernab aller erträumten Möglichkeiten, schließt Bekanntschaft mit einem weltberühmten Künstler namens Jeffrey Godefroy, einem Belgier. Der akzentuiert geschminkte Mann mit dem gefälligen Sprech eines Mistopheles überredet den jungen Mann dazu, seinen Rücken für ein formatfüllendes Tattoo zu Verfügung zu stellen. Er will aus Sam Ali ein Kunstwerk machen, und zwar versehen mit dem Artwork des heiß begehrten Schengen-Visums. Dafür soll dieser reichlich Geld und eine Aufenthaltsbewilligung in Belgien bekommen, unter der Bedingung, für jedwede Kunstaktion oder Ausstellung zeitgerecht zur Verfügung zu stehen.

Die Idee der tunesischen Filmemacherin Kaouther Ben Haina ist originell, vielschichtig und inspirierend. Die Freiheit der Kunst als eine Parabel dieser Art zu interpretieren, ist fast schon genial. Mit Betonung auf fast. Denn obwohl der Umgang der Wohlstandgesellschaft mit ihren Werten in so manchen Szenen satirisch hinterfragt wird, gefällt Ben Haina die nebenherlaufende Beziehungsgeschichte zwischen ihrem als Exponat verschacherten Protagonisten und seiner großen Liebe, die sich für ein besseres Leben in den Westen verheiratet hat, deutlich mehr. Die Kritik an Kunst und Prestige fällt zu zaghaft aus, der Vorwurf eines Solidarität heuchelnden, aber letztlich hilflosen Establishments will gar nicht so laut erklingen. Im Vergleich dazu hat Ruben Östlund mit seiner Brachialsatire The Square die satirischen Klingen viel mehr geschärft als Ben Haina es tut. Ihr Anti-Held ist zwar ein Kunstwerk, ein wandelndes und aufmüpfiges Kunstwerk, was an sich schon bizarr genug ist ­– sein Sinneswandel im Laufe des Films fällt aber zu konzeptionell aus, was heißen will, dass Der Mann, der seine Haut verkaufte oft nicht genau weiß, ob es versöhnliches Märchen sein will oder eine zeitgemäße Kritik, auch wenn mitunter punktgenaue Zitate wie die umgekehrte Sage des Pygmalion die Entscheidung schwerfallen lassen. Es scheint aber, dass der Idealismus vehementer durchschimmert, dass elitäre Kunst seine Daseinsberechtigung haben soll und dass die Heimat dem kapitalistischen Westen immer noch vorzuziehen wäre, wenn irgend möglich. Mit der Realität hat der Film dann immer weniger zu tun, die Romanze obsiegt.

Der Mann, der seine Haut verkaufte (2020)

M3GAN

ALITAS FIESE SCHWESTER

6/10


m3gan© 2023 Universal Pictures


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: GERARD JOHNSTONE

BUCH: AKELA COOPER

CAST: ALLISON WILLIAMS, VIOLET MCGRAW, AMIE DONALD, JENNA DAVIS (M3GANS STIMME), RONNY CHIENG, JEN VAN EPPS, BRIAN JORDAN ALVAREZ, STEPHANE GARNEAU-MONTEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 42 MIN


Androiden sind nicht zum Vergnügen da. Künstliche Intelligenzen schon gar nicht. Sobald ein Programm die Möglichkeit hat, selbstständig zu lernen und sich unentwegt zu verbessern, kann sich unsere Spezies schon mal irgendeinen Tag in nicht allzu ferner Zukunft als den letzten in ihrer Existenz rot anstreichen. So reaktionsschnell und pragmatisch wie ein künstliches Gehirn, dem man noch dazu die Möglichkeit gibt, sich auch physisch auszudrücken, kann ein Mensch gar nicht sein. Wollen wir uns also wirklich selbst überholen, durch das, was wir aus unserem Know-How und unserer Intelligenz heraus geschaffen haben? Natürlich fällt uns das in den Rücken. In der alternativen Kinorealität von Terminator macht uns Skynet den Garaus, in Michael Crichtons Vergnügungspark-Horror Westworld wollen Androiden wie Yul Brunner endlich mal selbst bestimmen. HAL 2000 will anno 2001 um Gottes Willen nicht, dass ihn irgendjemand abdreht. Und da gibt es Beispiele noch und nöcher, gipfelnd in der philosophischen Frage aus Blade Runner, wo denn nun das Menschsein aufhört oder anfängt. Replikanten sind da längst die bessere Spezies und schaffen Monologe für die Ewigkeit, wie Rutger Hauer am Ende von Ridley Scotts Klassiker.

Doch man muss gar nicht so weit in die Zukunft blicken und gleich die ganze zivilisierte Welt in den Abgrund reißen. Es reicht auch, wenn das Spielzeug anfängt, Mätzchen zu machen. Wie in M3GAN, einem Science-Fiction-Thriller aus dem Hause Blumhouse und produziert von Saw-Spezialist James Wan, der diesem Toy Story-Alptraum nicht ganz so viel Blut entnimmt wie in anderen seiner Filme und das Publikum auch nicht vor lauter Jumpscares den Popcorn-Kübel als Sichtschutz empfiehlt. Bei M3GAN kann man die ganzen 100 Minuten Spielzeit getrost hinsehen, und zwar jede Sekunde, denn was hier wirklich fasziniert, ist weniger die auf etwas ausgetretenen Pfaden wandelnde Suspense-Story, sondern in erster Linie der Charakter dieser High-Tech-Humanoidin mit ihren großen, wasserklaren Augen, ihrer Puppenschnute und einem Hang zur Mode, die in den Siebzigern vielleicht der letzte Schrei war. Wie ihre größere Schwester aus der Zukunft, das künstliche Mädchen Alita, besteht M3GAN aus einem äußerst widerstandsfähigen Grundgerüst (warum nur?) und bewegt sich aufgrund eines ausgetüftelten Bewegungsapparates wie ein Mensch. Nur ab und an hört man mechanischen Schnurren – ein Soundeffekt, den der Film dezent einsetzt, um nicht plump zu wirken.

Diese 120cm große Spielgefährtin, die sich bald wohlhabende Familien um schlappe 10.000 Dollar leisten können, hält als Beta-Version in den Haushalt ihrer Schöpferin, AI-Tüftlerin Gemma (Allison Williams, bekannt aus Get Out), sehr bald Einzug. Und nicht nur dieser Roboter, auch Nichte Cady wohnt nach dem Unfalltod ihrer Eltern nun bei ihrer Tante und bläst bald Trübsal, einerseits aus Langeweile und andererseits natürlich aufgrund des Verlustes ihrer Familie. Als Trost sitzt nun bald M3GAN neben ihrem Bett und glänzt als autarke Puppe, die alles kann und viel mehr auf Cadys Wohlbefinden eingeht als ihr neuer Vormund, ist dieser doch mit dem Release des besten Spielzeugs der Welt beschäftigt. Und da entgehen ihr auch das eine oder andere Mal gewisse unrunde Feinheiten im Verhalten dieses kognitiv denkenden Konstrukts, das als oberste Priorität das leibliche und seelische Wohl ihrer Bezugsperson Cady ansieht. Und alles, was diese betrübt, fordert kühl berechnete, aber drastische Gegenmaßnahmen.

Es lässt sich denken, wohin das führt. Klar, M3GAN gerät außer Kontrolle. Seltsame Todesfälle häufen sich, und das kesse Roboter-Mädchen mit dem Hüftschwung massakriert sich durch die Nachbarschaft, ohne dass sich das Publikum davor ekeln muss. Aufgrund einer PG13-Schnittfassung sind explizite Gewaltszenen außen vor. Man fragt sich natürlich: Braucht es das, um guten Horror zu erzählen? Nun, das ist fast so, als würde man bei einem Gruselfilm alle Jumpscares skippen. Als würde man durch eine Geisterbahn fahren, und die Mechatronik versagt. Was bleibt, ist immer noch die Stimmung eines Films und eine Story, die auch ohne Effekte funktionieren soll. Bei M3GAN ist das nur bedingt der Fall. Das Quäntchen Horror lukriert sich aus der Fertigkeit der Puppe, geisterhaft zu erscheinen oder sich unnatürlichen Verrenkungen hinzugeben. Ein bisschen wie besessen sieht das aus, als bräuchten wir den nächsten Exorzisten. Und dennoch: M3GAN sieht man gerne zu, so wie man Alita gerne zugesehen hat, weil von diesen künstlichen Persönlichkeiten eine Faszination ausgeht, die Vladimir Nabokov wohl in seinem Roman Lolita beschrieben hat. Es ist diese den Mangas so eigene Mischung aus sexy Fräulein und martialischer Nemesis für so manche.

M3GAN nutz durchwegs gängige Versatzstücke, um seinen Thriller zu erzählen. Immer mal wieder jedoch blitzen Ambitionen durch, den Film als satirisches Psychodrama erscheinen zu lassen, das sowohl die Austauschbarkeit der Eltern als auch die bis ins Fatalistische getriebene Werteordnung von Kindern hinterfragt, die ihrem Spielzeug ihr Leben anvertrauen. Da hätten Gerard Johnstone und Skript-Autorin Akela Cooper noch viel mehr einhaken können. Genau diese Punkte hätten den Film in eine andere, gesellschaftskritische Richtung katapultiert, die mit ihrer gespenstischen Mentorin ihre Meisterin gefunden hätte.

M3GAN

Bodies Bodies Bodies

SIE WOLLEN NUR SPIELEN

6/10


bodiesbodiesbodies© 2022 Public House Rights LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: HALINA REIJN

BUCH: SARAH DELAPPE, NACH EINER STORY VON KRISTEN ROUPENIAN

CAST: AMANDLA STENBERG, MARIA BAKALOVA, RACHEL SENNOTT, CHASE SUI WONDERS, PETE DAVIDSON, LEE PACE U. A.

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Die Zukunft der Menschheit liegt in den Händen solcher Leute? Na, ich hoffe doch nicht ausschließlich. Denn Party, Party, Party geht auch nicht immer, obwohl jugendlicher Hedonismus zur besseren Resilienz die Schräglage unserer Welt manchmal auf die leichte Schulter nehmen darf. Ganz so sehr dem Frust über Klimakrise, Krieg und Geldknappheit muss man sich auch nicht immer hingeben, andererseits aber wäre ein bisschen mehr Bodenhaftung angesichts einer Realität wie dieser schon wünschenswert. Die Mädels und Jungs in Bodies Bodies Bodies kreisen jedoch in erster Linie um ihre aufgebauschten Befindlichkeiten, während man auf der Luxuswelle vor sich hintreibt und gerade zum Splish Splash ins feudale Heim eines selbsternannten Sex-und Koks-Gottes, dargestellt von Pete Davidson, eingeladen wird.

Es beginnt das hysterische Kammerspiel mit der großzügigen Darstellung eines innigen French Kiss zwischen zwei Mädels (Amandla Stenberg und Borat-Oscarnominierte Maria Bakalova), die so frisch verliebt sind wie das 90er-Girlie-Duo t.a.t.u., und zum feuchtfröhlichen Wochenende aufschlagen, das sie mit einer recht illustren Runde an jungen Frauen und einem älteren Herrn (Lee Pace – kaum zu glauben dass der mal den anmutigen Elben Thranduil gegeben hat) teilen müssen. Sophie und ihre Freundin Bee werden kritisch beäugt, lässt sich Sophie doch seit längerer Abstinenz erstmals wieder blicken. Ein Drogenproblem hat die soziale Interaktion leider verhindert, doch das Verständnis hat bei so vielen Ego-Trips aktuell keinen Platz. Als der angekündigte Hurrikan für diesen Tag langsam Anstalten macht, hereinzubrechen, sucht die Gruppe Vergnügungssüchtiger indoor nach Beschäftigungen – und probiert das hübsche Spiel Bodes Bodies Bodies aus, was ungefähr so zu funktionieren scheint wie das gerne zelebrierte Werwolfspiel vom Düsterwald. Ein Mörder geht um und killt seine Mitspieler bei Berührung. Das Opfer fällt zu Boden und schon muss jener Spieler, der es entdeckt, dreimal Bodies rufen, um das Rätselraten einzuläuten. Es wäre kein Thriller, sondern einfach nur ein Partyfilm, würde nicht tatsächlich einer der Anwesenden bald das Zeitliche segnen. Und es passiert auch: Gerade Pete Davidson als Gastgeber klebt blutverschmiert an der Verandatür. Whodunit? Vielleicht die zuvor von ihm kompromittierte Freundin? Oder gar der undurchschaubare Gelegenheitsflirt Greg, der sich bereits frühzeitig ins Schlafgemach abgeseilt hat? Irgendwer will sich da an irgendwen – oder gleich an allen? – rächen, denn es dauert nicht lange, da wird die blutige Spur immer länger und länger.

Das Blut, das tragen bald alle Protagonistinnen wie Kriegsbemalung im Gesicht. Und es sieht nicht so aus, als hätten sie all den Körpersaft deswegen dort, weil sie zufällig in die Wunden der Opfer gefallen sind. Das sieht zwar seltsam aus, doch vielleicht ist das Absicht. Vielleicht herrscht hier, im englischsprachigen Erstling der Niederländerin Halina Reijn, ein Zickenkrieg zwischen selbstgerechten Influencer-Ladies, die in ihrer Smartphone-Blase auf und ab gackern, als gäbe es kein Morgen mehr. Für manche wird dieser auch nicht aufziehen, und es ist manchmal tatsächlich kaum auszuhalten, den keifenden Frauen beim verbalen Austeilen zuzuhören, deren Stimmen sich bis zum exzessiven Gekreische überlagern, wenn sich die Reichen und Schönen am Boden wälzen, weil keine die sein will, für die sie die anderen halten. Bodies Bodies Bodies ist aber, hat man die Katze aus dem Sack gelassen, am Ende einer turbulenten Blutnacht voller Ein-, Aus- und Zufälle das Armutszeugnis einer unzurechnungsfähigen Society, die ihre Selbstdarstellung bis zur Selbstüberschätzung treibt. Dabei wird Social Media nicht per se verteufelt, sondern viel mehr das, was man daraus macht. Worauf es ankommt, verschwimmt zusehends. Und der viele Lärm war um nichts.

Bodies Bodies Bodies

Zeiten des Umbruchs

DIE EINSAMKEIT DER TRÄUMER

8/10


armageddontime© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: JAMES GRAY

CAST: MICHAEL BANKS REPETA, JAYLIN WEBB, ANTHONY HOPKINS, ANNE HATHAWAY, JEREMY STRONG, TOVAH FELDSHUH, ANDREW POLK, JESSICA CHASTAIN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Egal, was du aus deinem Leben machen willst, was du tust und wofür du dich entscheidest: Bleibe Mensch! Wenn man sowas aus dem Munde von Anthony Hopkins hört, der sich mit hingebungsvoller Gewissenhaftigkeit und großväterlicher Liebe seinem Enkel widmet, erstarkt in einem selbst das Gefühl, die Weisung gelte nicht nur dem Jungen im Film, sondern auch einem selbst, der wie ich hier im dunklen Auditorium sitzt. Nichts anderes wollen wir tun: Uns selbst treu und Mensch bleiben.

Das erreicht man sicherlich nicht damit, indem man Nahrungsmittel auf wertvolle Kunstwerke wirft. Aber vielleicht damit, verrückte Ideen zu verfolgen, die einem an die Grenzen der eigenen Erfahrung bringen. Einem derartigen Reifungsprozess gibt sich der jüdische Junge Paul Graff hin, der im Geburtsjahr der 80er seine Schulstunden in Queens damit verbringt, in den Tag hineinzuträumen oder den unbequemen Lehrer Mr. Turkeltaub zu karikieren. Paul hat zeichnerisches Talent und denkt sich seinen eigenen Weg durch seine Kindheit, dabei schließt er Freundschaft mit einem schwarzen Jungen, der keinerlei Privilegien genießt, am Rande der Gesellschaft steht und diese Ohnmacht mit Bockigkeit kompensiert. Pauls Familie hadert derweil selbst mit ihrem Status als jüdische Einwanderer, die ihren Familiennamen ändern mussten, um als vollwertig zu gelten. Diese Zeit, in der Paul seine gesellschaftliche „Unschuld“ verliert, ist auch die Zeit, in der Ronald Reagan seine besten Karten dafür ausspielt, um Präsident zu werden. Das Viertel steht überdies unter der Obhut der Trumps. Donald, der spätere Präsident, wird Paul Graff genauso begegnen wie die damit einhergehende Unfairness der westlichen Welt, in der sich Chancengleichheit zum riesengroßen Fremdwort bläht.

Wenn Paul Graff – hinreißend dargeboten von Newcomer Michael Banks Repeta, der durch sein kindlich-knuffiges Erscheinungsbild leicht unterschätzt wird – lieber den Weg des Underdogs geht; des sozialen Outlaws, der das Herz am rechten Fleck hat, dabei aber seine Familie an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt, wünscht man sich einerseits, den Jungen an den Schultern zu packen und ihm Vernunft einzubläuen, andererseits aber ist das Brechen der Konventionen der einzige Weg, um einen Weg in die Zukunft zu finden, den bislang sonst noch keiner niedergetrampelt hat. Dieser Zwiespalt bewegt und fasziniert. Die Rolle des schwarzen Jungen namens Johnny wird dabei zum traurigen Symbol einer demokratischen Schieflage. Regisseur James Gray (u. a. Ad Astra – Zu den Sternen) errichtet sein Coming of Age-Drama auf den Erinnerungen seiner eigenen Kindheit. Ein autobiographischer Film, sozusagen. Und da all diese Szenen für Gray mit sehr viel emotionalem Kontext verbunden sind, liegt ihm auch gar nichts daran, altbekannte Erzählformeln oder die üblichen nostalgischen Versatzstücke, welche die Achtziger stets so mit sich bringen, einzusetzen.

Zeiten des Umbruchs – oder viel besser: Armageddon Time – ist das nonkonformistische Zeitbild rund um einen Nonkonformisten, der einer privilegierten Elite nichts abgewinnen kann und sich abwendet, weg von einem Erfolg, den sich alle anderen verdienen. In diesem politischen wie gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, der wie ein Vakuum wirkt, in welchem die eigenen Ideale schwerelos scheinen, begibt sich Gray auf Augenhöhe mit sich selbst und seiner Familie, verschmäht das Melodrama oder gar den Kitsch. Bleibt ehrlich und widersprüchlich im menschlichen Verhalten. Hopkins oder Anne Hathaway sowie allen voran der erstaunliche und ungefällig aufspielende Jeremy Strong ruhen in ihren Rollen zischen Fürsorge und eigenem Dilemma und lassen dem Jungschauspieler Platz, um seinen Idealen zu folgen, so lausbübisch sie auch sein mögen.

Selten war ein Film aus dem Coming of Age-Genre, in welchem immer wieder ähnliche Themen romantisiert werden, so sehr mit Zeitgeschichte und den Werten des Humanismus verbunden. In den meisten stehen die Protagonisten selbst im Zentrum und suchen ihre Identität. In Zeiten des Umbruchs richtet sich der konzentrierte Blick nach außen, auf die Umwelt. Was man sieht: Das stimmige, spürbare Portrait eines Anfangs von etwas, das bis heute nachwirkt.

Zeiten des Umbruchs

Nope

AM ENDE DER NAHRUNGSKETTE

8,5/10


nope© 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: JORDAN PEELE

CAST: DANIEL KALUUYA, KEKE PALMER, STEVEN YEUN, BRANDON PEREA, MICHAEL WINCOTT, WRENN SCHMIDT, KEITH DAVID U. A.

LÄNGE: 2 STD 10 MIN


Das relevante Kino der Gegenwart bekennt sich längst zur Aufgabe, um die Ecke zu denken, gewohnte Blickwinkel abzubauen und woanders neu zu errichten. Formelhaftigkeit zu unterwandern und allzu bequeme Komfortzonen zu verlassen, die uns als Publikum sonst nur ermüden würden. Das Kino der Gegenwart entfesselt sich gern selbst, wenn es schon andere nicht für ihn tun. Stößt spielerisch vor den Kopf und denkt auch nicht mehr in Genre-Schubladen. Um einige der Vertreterinnen und Vertreter zu nennen: Julia Ducournau zum Beispiel – ihr Film Titane nimmt gerne in Kauf, nicht zu gefallen. Eskil Vogts The Innocents ebenso. Der Rumäne Radu Jude oder der diesjährige abermalige Palme-Gewinner Ruben Östlund irritieren und verstören, haben aber das erkennbare Konzept einer konsequent zu Ende gedachten Theorie unter ihren Film geschoben. Da fällt nichts aus dem Rahmen, obwohl das ganze Werk aus dem Rahmen fällt. Zu dieser – wie ich sie gerne nenne – neuen Avantgarde zählt nun auch mit seinem dritten, selbst verfassten, erdachten und produzierten Autorenfilm, der auf niemanden sonst wirklich angewiesen zu sein scheint, Jordan Peele. Mit Get Out hat er Oscar-Geschichte geschrieben und den Grund für die versöhnliche Integrität von Schwarzen in einer Welt der Weißen herausgefunden. In Wir begegnet eine urlaubende Familie sich selbst – was keine entspannte Zerstreuung bringt.

In Nope, Peeles neuestem Streifen, rudert der kultivierte Mensch der Gegenwart mit den Armen im Wasser, um nicht im Entertainment zu versinken. Als Wesen am Ende der Nahrungskette wird diesem bei all seiner medialen Versumpfung, die gutes Geld verspricht, nur langsam bewusst, dass das arglose Saurauslassen ein Ende haben könnte, da die Beute nicht mehr nur alles andere ist, sondern auch der Mensch selbst. Am Ende der Nahrungskette steht – oder fliegt – etwas ganz neues. Vielleicht ein extraterrestrischer Aggressor wie in Independence Day oder Mars Attacks? Oder vielleicht ist das ganze nur eine initiierte Show in einer Welt voller Shows, die aus dem Präsentieren von sich selbst und anderen gar nicht mehr herauskommt.

In dieser Welt, die anmutet wie das Setting eines modernen Westerns, betreibt Daniel Kaluuya als phlegmatischer Kerl namens OJ eine Ranch für Filmpferde. Das muss er wohl, ob er will oder nicht, denn OJs Vater kam bei einem seltsamen Vorfall ums Leben. Da fielen Dinge vom Himmel, Gegenstände und Bruchstücke, Schlüssel und Münzen. Eines dieser größeren Dinger traf den Vater – OJ ist also auf sich allein gestellt und scheint den Laden ohne seine aufgeweckte Schwester (Keke Palmer) nicht schmeißen zu können. Unweit der Farm gibt es auch noch den ehemaligen Kinderstar Ricky, der das Trauma einer missglückten Schimpansen-Sitcom (Planet der Affen lässt grüßen) immer noch verarbeiten muss und mittlerweile seinen eigenen Vergnügungspark unterhält, mit Shows, die das Leben und die Sicht auf die Dinge verändern sollen. (Detail am Rande: den Affen verkörpert Choreograph Terry Notary, der „Urmensch“ aus Östlundts The Square.) Doch was der Mensch gerne verdrängt – Nope, das mag ich nicht und interessiert mich auch nicht ­– fällt bald aus allen statischen Wolken: eine fliegende Untertasse macht bedrohliche Anstalten, alles in sich aufzusaugen, was bei drei den Blick nicht senkt.

Weiß man schon vorher nicht, welche Richtung Nope gerne einschlagen will, hat man später lediglich die intuitive Wahl, auf einem der Züge aufzuspringen, die da losfahren. Peele zollt nicht nur der Filmgeschichte in Bezug auf schwarze Minderheiten ausführlich Respekt, mit einer kleinen Lehrstunde so ganz nebenbei. Er öffnet überdies seinen Geist und assoziiert vieles, was ihn womöglich Zeit seines Lebens nicht minder beeinflusst hat, um Filmemacher zu werden. Die kreative Ausbeute ähnelt einem Mysterientheater, dass sein Vorspiel in kleinen, suggestiven und irreführenden Szenen absolviert, bevor das Seltsame, Monströse eine Schlagkraft erreicht, die in kurioser visueller wie narrativer Ausgestaltung so manchen sattelfesten Reiter vom Pferd holt. Nope ist ein Film, der sich so entwickelt wie Ravels Bolero, adagio beginnend, um am Ende als crescendo auf Konfrontation zu gehen. In dieser Steigerung liegen aber, wenn man genau hinhört, mehrere autarke Schichten übereinander, die jeweils eigene Situationen schildern und in Summe die Diagnose eines gesellschaftlichen Zustands wiedergeben, der sich in einer gewissen Schicksalsergebenheit darüber äußert, dass der Mensch jene Welt, die ihn umgibt, immer weniger verstehen, geschweige denn interpretieren kann. Nope handelt von Kapitalismus, Ignoranz und Provokation und das überraschende Katapultieren in ein Beuteschema, das wir für uns selbst nicht vorgesehen haben.

Nope ist mitunter furchteinflößend und übermannend, andererseits kauzig und tragikomisch, dann wieder knallbunt und wunderschön. Peele findet Bilder, die man nicht so schnell vergisst. Einen Rhythmus, der in Trance versetzt, lässt man sich darauf ein. Und einen Ton, der als akustischer zweiter Film in den Ohren knackt, dröhnt und surrt. Das Hören ist in Nope genauso wichtig wie das Sehen, beides schafft die komplexe Atmosphäre eines Erlebnisses der Dritten Art, das einst Richard Dreyfus in Spielbergs Klassiker Unheimliche Begegnung der Dritten Art so nachhaltig prägen wird. Peele ist ein Meister der Reduktion – die Kunst des Weglassens und Andeutens hat schon Gareth Edwards in Monsters so gut gekonnt. Peele perfektioniert es und lässt in seiner beängstigenden X-Faktor-Bedrohung das Publikum aus allen Wolken fallen. Am Ende lässt sich der Avantgardist aber zu etwas hinreißen, was ich seinen Helden wohl vorenthalten hätte. Vielleicht nimmt er damit seiner Aussage den Wind aus den aufgeblähten Segeln, doch leicht kann es sein, und der Film will in Wahrheit etwas ganz anderes, als ich annehme. Macht aber nichts – Filme, über die man lange rätseln kann, bleiben auch lange im Gedächtnis. Und sind allein dadurch fast schon genial.

Nope

Der schlimmste Mensch der Welt

DAS LEBEN IM KONJUNKTIV

7/10


schlimmstemenschderwelt© 2022 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: NORWEGEN, FRANKREICH, SCHWEDEN, DÄNEMARK 2021

REGIE: JOACHIM TRIER

BUCH: JOACHIM TRIER, ESKIL VOGT

CAST: RENATE REINSVE, ANDERS DANIELSEN LIE, HERBERT NORDRUM, MARIA GRAZIA DIE MEO, HANS OLAV BRENNER U. A. 

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


Kennt ihr den Begriff Hättiwari? Ist natürlich was typisch Österreichisches. Ein Wort, dass sich zusammensetzt aus „Hätte ich“ und „Wäre ich“. Ein Hättiwari ist jemand, der sichtlich Schwierigkeiten damit hat, sich für die eine oder andere Sache zu entscheiden und entweder gar nichts tut oder das, was er tut, ganz plötzlich abbricht. Auf diese Art kommt man im Leben kaum vorwärts, denn entschließt man sich mal für eines, bleibt das andere auf der Strecke. Was aber, wenn das andere besser gewesen wäre als das eine? So stehen diese Menschen vor geöffneten Türen, die alle recht einladend wirken, die sich jedoch, sobald eine Schwelle übertreten wird, für immer schließen. So ein Mensch ist auch das Fräulein Julie – eine gerade mal 30 Lenze zählende junge Frau, die verschiedene Dinge bereits ausprobiert hat – vom Medizinstudium über Psychologie bis hin zur Fotografie und dazwischen ein bisschen bloggen. Julie steht oft neben sich, crasht mitunter sogar Partys, zu denen sie gar nicht eingeladen wurde und liebt einen Comiczeichner, der es mit der Sprunghaftigkeit seiner Partnerin allerdings gut aushält. Der viel weiß und gerne erklärt. Der irgendwann aber auch nicht mehr tun kann, als zuzusehen, wie Julie den Entschluss fasst, auch in Sachen Beziehung die Schwelle zu wechseln. Kann ja sein, dass Frau etwas versäumt.

Wenn Cannes Preisträgerin Renate Reinsve (Beste Darstellerin 2021) als Julie nach dem Einwerfen von Magic Mushrooms den Boden unter den Füssen verliert, sagt das sehr viel über ihr Leben aus. Warum, fragt sich Joachim Trier, und nimmt seine charmant und gewinnend lächelnde Protagonistin unter die Lupe. Dabei hat seine Julie, anders als Thelma in seinem gleichnamigen, etwas anderen Coming of Age- Mysterydrama, keinerlei anomalen Fähigkeiten, stattdessen aber viele Eigenschaften, die sie fahrig und unentschlossen machen. Eine Figur, wie sie zum Beispiel Greta Gerwig gerne verkörpert hat – als herzensgut, freundlich, unaufdringlich intellektuell und ordentlich verpeilt. Und nicht nur Renate Reinsve erinnert an die US-amerikanische Schauspielerin, die nunmehr lieber Regie führt: Der schlimmste Mensch der Welt entscheidet sich für einen Stil, der sehr an Noah Baumbach erinnert. Es wird viel geredet und diskutiert; die soziale Inkompetenz, die sich aus dem Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Trends ergibt, entscheidet über Ende und Anfang von Beziehungen. Zwischen hippen Bobos, die sich im Mansplaining ergehen, und den Selbstverwirklichungen anderer hängt Julie als jemand, der nicht fähig ist, Selbstvertrauen zu entwickeln, in den Seilen. Für dieses Psychogramm nimmt sich Joachim Trier Zeit und entwickelt Geduld, ohne jene des Publikums zu strapazieren. Auch wenn sich in diesem Beziehungsdrama vieles im Kreis bewegt und nicht wirklich im Sinn hat, eine Geschichte vorwärtszubringen, die einen Wandel beschreibt, bleibt Julie als eine kleine Ikone nachstudentischer junger Erwachsener attraktiv und interessant genug, um tatsächlich und wirklich erfahren zu wollen, was genau sie zögern lässt.

Der schlimmste Mensch der Welt ist pointiert geschrieben, unaufgeregt und spontan. Mit kleinen inszenatorischen Spielereien und sanfter Symbolik illustriert er Julies Leben ein bisschen wie eine Graphic Novel. Mit mehr als einer Prise erotischer Freiheit, die wiederum mit dem französischen Erzählkino der Novel Vague kokettiert, beobachtet Triers Portrait eines Lebens im Konjunktiv einen Zustand, aus dem es mit eigener Kraft kein Entkommen gibt. Was bleibt, ist, wie am Ende des Films lakonisch illustriert, die Fähigkeit, sich vorzustellen zu können, was gewesen wäre.

Der schlimmste Mensch der Welt

The Card Counter

HINTER DEM POKERFACE

7,5/10


cardcounter© 2021 FOCUS FEATURES LLC. ALL RIGHTS RESERVED


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN, CHINA 2021

BUCH / REGIE: PAUL SCHRADER

CAST: OSCAR ISAAC, TYE SHERIDAN, TIFFANY HADDISH, WILLEM DAFOE, ALEXANDER BABARA, EKATERINA BAKER U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Star Wars-Fans kennen Ihn als Fliegerass Poe Dameron in der teils ungeliebten Sequel-Trilogie, anderen wiederum bleibt er als Atreides-Adeliger aus Denis Villeneuves Dune zumindest noch bis zum nächsten Teil in Erinnerung: Oscar Isaac, der Mann mit dem intensiven Blick und einem schauspielerischen Können, dass sich vielleicht noch nicht so richtig offenbart zu haben scheint, mit Paul Schraders The Card Counter aber seine Sternstunde feiert. In diesem schwer einschätzbaren Streifen gibt der Mann einen stoischen, in sich gekehrten Ex-Häftling, der über acht Jahre im Knast gesessen und dort so richtig zu schätzen gelernt hat, wie es ist, wenn ein Leben nach unverrückbaren Bahnen verläuft. Aus der Obhut des Staates entlassen, vertreibt William Tell (nein, es gibt keinerlei Bezug auf den Schweizer Nationalhelden) seine Zeit damit, in amerikanischen Casinos vorwiegend beim Black Jack die Karten zu zählen und so, mit siegessicherer Hand und gerade in einem Ausmaß, damit die Security nicht Blut leckt, ordentlich Kohle abstaubt. So zieht er von Stadt zu Stadt, mit einem Koffer und wohnhaft in Motels, deren Interieur er jedes Mal in weiße Tücher hüllt, so wie es Christo seinerzeit gemacht hat, nur in größeren Dimensionen. Der Zuseher begreift bald: Tell trägt eine Vergangenheit mit sich rum, die ihn selten ruhig schlafen lässt. Es sind dies die Foltergräuel aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib, an welchen er selbst beteiligt war – ein Umstand, der sich nicht relativieren geschweige denn reinwaschen lässt. Es sei denn, es gibt da eine Hintertür: Und die zeigt sich bald, in Gestalt eines jungen Mannes, dessen Vater aufgrund ganz ähnlicher Untaten den Freitod gewählt hat. Es wäre die Gelegenheit, wenn schon nicht das eigene Leben, dann zumindest ein anderes wieder in richtige Bahnen zu lenken.

Unter der Voraussetzung, dass man weiß, dass The Card Counter aus der Feder von Paul Schrader stammt und darüber hinaus noch vom alten Taxi Driver-Veteran inszeniert wurde, erscheinen die Aussichten auf verzeichnende Erfolge jenseits des Kartentisches vorzugsweise ernüchternd. Schraders verlorene Gestalten spielen in einer Welt der verkommenen Moral, der Reuelosigkeit und mit Füßen getretenen Fairness. Im Zentrum stehen – wie Travis Bickle – selbsternannte Anti-Helden, die ihre Bestimmung erkennen und mutterseelenallein den Ausfall wagen. Sie sehen sich verpflichtet, eine unrettbare Welt besser zu machen, koste es, was es wolle. Dabei weicht das eigene Leben, ohnedies gefüllt mit leeren Automatismen, einer potenziellen Selbstaufgabe. Eine düstere Figur, muss sich Oscar Isaac gedacht haben. Allerdings: herausfordernd. Der Schauspieler meistert diese Aufgabe mit grimmigem Understatement. Sein Wilhelm Tell ist in sich gekehrt und desillusioniert; traumatisiert und orientierungslos. Mitunter aber hegt er Zuneigung für so manche Person, entwickelt Wärme, wo man sie nicht für möglich hält, quält sich aber durch einen nachhaltigen Alptraum, der schubweise an die Oberfläche dringt und in verzerrten Bildern des Grauens sein Publikum verstört. Dann wieder die geordnete Dynamik eines Pokerturniers, das Kartenwälzen am Black Jack-Tisch und die völlig verwirrenden Regeln des Spiels. Gut, die muss man nicht kennen, um den Film auf gewisse Weise beeindruckend zu finden, obwohl Schrader es einem nicht leicht macht. Seine Szenen sind nüchtern und sperrig, bleiben unnahbar und lakonisch. Oscar Isaac allerdings entfesselt einen unberechenbaren Sog, zeigt sich sowohl verletzlich als auch unberührbar. Wenn er zu Co-Star Tye Sheridan spricht, gibt’s nur die Pflicht, seinen Worten zu gehorchen. Wenn er laut denkt, als Stimme aus dem Off, ist der Film Noir wieder zurück. Und Isaac spielt und denkt und kämpft ums Weiterleben. 

The Card Counter ist kein gefälliger Film, und auch nichts für Zwischendurch. Blickt in Abgründe, wie seinerzeit in Taxi Driver oder First Reformed. Gequälte Seelen, die Absolution finden wollen, das alles in spartanischer Optik und unterlegt mit melancholisch-jammernden Songs, die so klingen, als wäre ein Aufraffen gar nicht mehr möglich. Pessimismus also, in seiner edelsten Form.

The Card Counter

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani

DER FLUCH DES ANSTANDS

7/10


ahero© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: IRAN, FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: ASGHAR FARHADI

CAST: AMIR JADIDI, MOHSEN TANABANDEH, SAHAR GOLDUST, FERESHTEH SADRE ORAFAIY, MARYAM SHAHDAEI, ALIREZA JAHANDIDEH U. A.

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Viel zu oft kommt alles zusammen. Das neue Startup, der Verrat am Geschäftspartner und die Trennung von der Mutter des gemeinsamen Kindes. Und als ob das nicht schon genug Zores im Leben des Iraners Rahim wäre – es kommt noch dicker. Und zwar in Form von Schulden. Der Geldgeber ist unglücklicherweise mit dessen Ex familiär verbunden und auf den Verschuldeten nicht wirklich gut zu sprechen. Also wandert dieser ins Gefängnis – bis irgendwann Licht am Ende des Tunnels aufflackert und das Geld zurückgezahlt werden kann. Normalerweise wüsste man nicht wie, doch in Asghar Farhadis Filmen ist niemals alles normal – der Skandal und die Versuchung hängen kitschigen Sonnenuntergängen gleich am Horizont und keiner kann wegsehen. Auch hier ist die Gelegenheit eine, die Diebe macht, und Rahim Soltanis neue und vor allem inoffizielle Geliebte (eine wilde Ehe ist nichts, was man vom Minarett posaunt) findet per Zufall eine herrenlose Damenhandtasche, die Güldenes in sich birgt. Mit diesem kleinen Schatz lässt sich ihr Geliebter aus dem Knast holen – doch der zögert. Warum nur? Währt nicht ehrlich am längsten? Und wäre es überhaupt moralisch vertretbar, das verlorene Geld anderer Leute für den eigenen Vorteil zu missbrauchen? Nein, sagt sich Rahim – lieber Anstand dort, wo Anstand möglich ist. Schließlich möchte sich der junge Mann auch später noch in den Spiegel schauen können. Viel mehr noch – er tut alles, um die Besitzerin der Tasche aufzuspüren. Das gelingt auch, das Gold kehrt dorthin zurück, wo es herkam – und Rahim ist in den Medien ganz plötzlich der honore Held kommender Tage.

Wäre ja alles gar nicht so schlecht. Lieber ehrlich, integer und aufrecht, als ein falscher Hund, der es sich auf Kosten anderer richtet. Da kann man sich selbst nichts vorwerfen. A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani wäre bis zu diesem Punkt sogar ein Feel-Good-Movie über den Wert der guten Tat, gleich einem idealistisch angehauchten Selbsthilfefilm, den sich hoffnungslose Misanthropen zu Herzen nehmen könnten. Nicht so bei Asghar Farhadi. Da hängt bereits von Anfang an ein Mief aus Missgunst und Selbstgerechtigkeit in der Luft. In einer Welt wie dieser ist der Pranger nicht weit entfernt von jener Stelle, an welcher Gutmenschen von ihren Taten berichten. Doch heißt es nicht in der Bibel: lass die eine Hand nicht wissen, was die andere tut? Das wäre ja prinzipiell so gekommen, doch wo Rauch ist, lodert bald ein Feuer und die Chronologie des Zufalls wird von jenen erzählt, die am wenigsten darüber wissen.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani ist die händeringende, betont nüchterne Passionsgeschichte eines Pechvogels, an welchem wohl kaum einer seine Schadenfreude hat. Gut gemeint ist hier teuer bezahlt und Ehrlichkeit der Traum, in welchem man plötzlich nackt mit der U-Bahn fährt. So steht er da, Rahim, eine moralisch-liberale Instanz, ein umgekehrter Hauff ’scher Peter Munk, im übertragenen Sinn gänzlich textilfrei und ohne jegliche Mittel, um sich selbst zu verteidigen. Die Ehrlichkeit, so seziert Farhadi, ist die harmlose Sackgasse, in die derjenige läuft, der sie verbreitet, verfolgt von einem schwurbelnden Mob, der den Hang zur Lüge als den stärksten Trieb verdächtigt – und sich selbst dort aufhält, wo sie am meisten verbreitet wird: In den Sozialen Medien. Die sind das wahre Damoklesschwert für Herrn Soltani, der vor lauter Stolpern über fallende Dominosteine mehr und mehr den Überblick und darüber hinaus den Halt verliert. Doch Farhadi lässt seinen Hiob nicht ganz so abstürzen wie es vielleicht Andrei Swiaginzew (Leviathan) getan hätte. Farhadi glaubt genauso wie Rahim an den Anstand, und hält es bis zuletzt für sinnvoll, diesen zu verteidigen.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani

Der Schein trügt

GESEGNET SIND DIE SÜNDER

7/10


DerScheintruegt© 2021 Neue Visionen


LAND / JAHR: SERBIEN, MAZEDONIEN, KROATIEN, SLOWENIEN, BOSNIEN-HERZEGOWINA, MONTENEGRO, DEUTSCHLAND 2021

BUCH / REGIE: SRDJAN DRAGOJEVIC 

CAST: GORAN NAVOJEC, KSENIJA MARINKOVIC, NATASA MARKOVIC, BOJAN NAVOJEC, MILOS SAMOLOV U. A.

LÄNGE: 2 STD


Zumindest wir hier in Österreich kennen den kultigen Dialektsong Rostige Flügel vielleicht sogar auswendig. Darin singt der Ex-Cordoba-Maestro Hans Krankl leicht heiser von einem egozentrischen Krösus, der auf Erden keine Versuchung ausgelassen hat, im Himmel aber maximal die Holzklasse bekommt. Rostige Flügel, aus zweiter Hand. Und auch keinen Heiligenschein. Der serbische Flüchtling Stojan hätte wohl eher Verwendung dafür, denn der ist ein herzensguter Familienvater irgendwo in einem vergammelten Viertel am Rande der Stadt, der eines Tages, beim Einschrauben einer Glühbirne, mit dem Strom auf Tuchfühlung geht. Normalerweise erholt man sich davon. Auch Stojan. Nur der trägt jetzt eine Art Halogen-Heiligenschein über dem Kopf, was in der Nachbarschaft für Befremdung sorgt – und ganz besonders bei Göttergattin Nada, die ihren Ruf gefährdet sieht und den unbescholtenen Ehemann dazu anstiftet, doch alle sieben Sünden zu begehen, denn dann wäre ihm die Gunst Gottes wohl nicht mehr sicher.

Klingt lustig. Klingt nach Situationskomik, als wäre Louis De Funes unterwegs, wie seinerzeit in Der Querkopf. Ist es aber nicht. Und auch der Trailer führt in die Irre. Will heißen: Der Schein trügt in jeder Hinsicht. Und wer sich gerne vergnügen möchte ob so skurriler Begebenheiten zwischen Himmel und Erde, der wird letztlich schwer schlucken müssen. Was man vielleicht auch nicht weiß: Regisseur Srdjan Dragojevic (u. a. Parada) hat einen Episodenfilm inszeniert, dessen Kapitel sehr eng miteinander verknüpft sind und stets die Perspektive wechselt, aber summa summarum eine einzige epische Geschichte über mehrere Jahrzehnte erzählt, die genauso gut Emir Kusturica hätte inszenieren können. Angesichts der surrealen Begebenheiten passt das dann auch ziemlich gut in dessen Konzept, nur die leichte Verschrobenheit von Kusturicas zumindest letzten Filmen fehlt bei Dragojevic allerdings gänzlich. Hier ist der Fingerzeig Gottes das unangenehme Kitzeln unter der Achsel, der Kieselstein im Schuh, das Trietzen des Menschen mit augenscheinlichen Wundern, die so plötzlich vom Himmel fallen, dass kein Erdenbürger damit klarkommen kann. Am wenigsten die Kirche.

Egal, ob das Geschenk der Heiligkeit, eine zweite Chance oder das Lösen des größten Problems auf Erden auf dem Plan stehen: Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach. Kennen wir doch – also zumindest kennen es jene, die ab und zu mal in den Gottesdienst gegangen sind. Sprich nur ein Wort, und so wird meine Seele gesund. Alles schön und gut, doch der Heiland stammelt hier in Rätseln. Orientierungslos pflügt der Mensch in dieser bitterbösen Groteske sodann durch den Sündenpfuhl, um seine Erleuchtung loszuwerden. Lieber im Dunkeln, statt im Licht. Entsprechend düster sind diese Episoden auch geworden, entsprechend heftig fallen da auch einige Szenen aus, die bigotter Bequemlichkeit ans Bein pinkeln wollen. Manchmal rutscht Dragojevic zu sehr ins Grobe, auf zu hemdsärmelige Weise bemüht er die eine oder andere Metapher, als würde er den Motor eines Autos reparieren. Da fehlt dann der Feinschliff, der zumindest später noch – und vor allem in der meisterlichen letzten Episode – die Chance hat, mit etwas mehr Geistesblitz auf pointierte Satire zu machen. Wer Also Filme wie The Square oder Bad Luck Banking or Loony Porn – die neue Art der gesellschaftskritischen Avantgarde – zu schätzen weiß, wird sich auch hier, in seiner polemischen Kritik über die Welt, verstanden wissen.

Der Schein trügt