The Shrouds (2024)

ÜBER LEICHEN GEHEN

5,5/10


theshrouds© 2024 Viennale

LAND / JAHR: KANADA, FRANKREICH 2024

REGIE / DREHBUCH: DAVID CRONENBERG

CAST: VINCENT CASSEL, DIANE KRUGER, GUY PEARCE, SANDRINE HOLT, ELIZABETH SAUNDERS, JENNIFER DALE, ERIC WEINTHAL, JEFF YUNG U. A.

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Sind die Horror-Eskapaden auf Leinwand und Bildschirm nach den Halloween-Feierlichkeiten längst Geschichte, rücken Filme in den Fokus, die zur wohltuend vernebelten, melancholisch verstimmten Zeit des Novembers passen. Bevor uns das Genre des Weihnachtsfilms alle Jahre wieder die Zuckerstange um die Ohren haut, haben die Friedhofsfeiertage noch einiges an Content in petto, der noch aufgearbeitet werden will, denn schließlich sollte man auch nicht von einem Tag auf den anderen all die lieben Verstorbenen keines Gedankens mehr würdigen. Die Endlichkeit ins Bewusstsein zu rufen ist auch angesichts funkelnder Straßenbeleuchtung kein Fehler. Das lässt sich mit Werken wie Almodóvars The Room Next Door zelebrieren, oder eben, falls man die Gelegenheit am Schopf gepackt hat, zu den Filmfestspielen der Viennale den neuen Cronenberg auf die Liste zu setzen, mit The Shrouds.

Im Business-Englisch taucht diese Vokabel wohl eher selten auf, es sei denn, man mischt im internationalen Bestattungs-Business mit. Shroud heisst übersetzt so viel wie Leichentuch, und natürlich kommt mir jenes mysteriöse Artefakt in den Sinn, das eine Zeit lang im Dom vor Turin Gläubige in seinen Bann gezogen hat: Das Leinen mit dem Antlitz Jesu Christi. Doch um dieses mittlerweile als Fälschung enttarnte Webstück geht es hier nicht, obwohl es zumindest einmal erwähnt wird. David Cronenberg inszeniert sich in diesem merkwürdigen Mysterydrama mehr oder weniger selbst, dafür castet er den unverwechselbaren Vincent Cassel mit weißem Bürstenhaarschnitt, der um seine verstorbene bessere Hälfte trauert. Diese wiederum darf als Diane Kruger unter der Erde vor sich hin verwesen, während – und jetzt haltet euch fest – andere dabei zusehen können. Schließlich ist der Zerfall eines leblosen menschlichen Körpers nichts, was man nicht auch noch mit der lieben Familie teilen könnte. Als eher unästhetischer, aber der Natur unterworfener Prozess ist Verwesung laut Cronenberg fast schon so etwas wie eine nicht festgeschriebene, stets neu improvisierte, visuelle Symphonie. Für all jene, die es gerne morbid mögen.

Cronenberg tut das. Er mag auch Narben, Nähte und Amputationen. In seinem vorletzten, nicht minder mysteriösen Crimes of the Future sind Operationen und Transplantationen aller Art der letzte Schrei – im wahrsten Sinne des Wortes. In The Shrouds schreit niemand mehr, da schreit nicht mal das Publikum, denn Zombies, die keine sind, sondern brav unter der Erde liegen, wie es sich gehört, lassen niemanden hinter dem Grabstein hervorkommen. Dieser ist schließlich ebenfalls State of the Art in einer nicht näher definierten Zukunft, ist die Steinmetzarbeit doch ausgestattet mit allerhand High-Tech, über die man den lieben Verstorbenen noch ein letztes Mal in die Augenhöhlen blicken kann. Diesen elitären Garten der Toten verwaltet Cronenberg oder eben Vincent Cassel als Unternehmer Karsh schon allein deswegen, weil die eigene Gattin Kundin sein darf. Mag sein, dass diese bizarre Idee, den Toten nahe zu sein, in manchen Kreisen auf Widerstand stößt. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Vandalismus in diesem Friedhof um sich greift. Karsh ist entsetzt und investigiert. Dabei bezieht er seine Schwägerin mit ein, ebenfalls gespielt von Kruger, mit der ihn bald mehr verbinden wird als ihm lieb ist. Und den Computerspezialisten Maury (Guy Pearce), der Karsh dabei helfen soll, die wahren Täter ausfindig zu machen.

Wir haben hier das Szenario eines Near-Sci-Fi-Krimis, deutlich mit Tendenz zum autobiografischen Lamento eines Alter Egos des Künstlers, der auch tatsächlich mit diesem Streifen den Verlust seiner Ehefrau verarbeitet sieht. Das Herkömmliche steht Cronenberg jedoch ganz und gar nicht, wobei das Monströse und Pietätlose geduldig im Hintergrund verharrt. Viel lieber darf The Shrouds deutlich augenzwinkernder erscheinen, weniger knochentrocken (was für ein passendes Adjektiv), dafür mit Hang zur unfreiwilligen Parodie eines ganzen Subgenres, das Cronenberg im Alleingang mit denkwürdigen Werken gepflastert hat. The Shrouds gehört nicht ganz dazu, nicht unbedingt wird man sich gerade an dieses obskure Spiel mit der Vergänglichkeit erinnern, da haben andere Arbeiten Vorrang. Das Drama gibt nur vor, einer komplexen Krimihandlung zu folgen, tatsächlich treiben so Dinge wie Verlust und Loslassen einen Typen wie Cassel durch einen unwegsamen, luxuriösen Trauerprozess, bei welchem die Toten für Bodyhorror kaum eine Verwendung finden. Außer es sind Zombies. Doch mit so etwas Trivialem gibt sich der intellektuelle Querdenker nicht ab.

The Shrouds (2024)

The Old Guard

WHO WANTS TO LIVE FOREVER?

6/10

 

the-old-guard© 2020 Netflix

 

LAND: USA 2020

REGIE: GINA PRINCE-BYTHEWOOD

CAST: CHARLIZE THERON, MATTHIAS SCHOENAERTS, KIKI LAYNE, MARWAN KENZARI, ALFREDO TAVARES, CHIWETEL EJIOFOR, HARRY MELLING U. A. 

 

Bei Highlander Connor MacLeod konnte es nur einen geben. Gut, ein Schotte macht noch keinen Sommer. Dieser Tage heizen uns andere Expendables ein, die alles andere als austauschbar sind. Bei The Old Guard sind es gleich mehrere, die auf eine nachhaltige Anomalie ihres Daseins zurückblicken können: sie sind unsterblich. Grand Dame dieser Selbsthilfegruppe unkaputtbarer Individuen ist Andy, oder wie sie eigentlich wirklich heißt: Andromache of Scythia, eine Legende der Antike, die gefühlt mir allen Feldherren der alten Zeit gekämpft hat. Und die auch nach tausenden von Jahren überraschend unverbraucht wirkt, womöglich weil sie sich stets neu erfindet. Die anderen in ihrem Geleit sind sich zumindest bei den Kreuzzügen gegenübergestanden, der eine ein Sarazene, der andere ein Tempelritter. Mittlerweile lieben sie sich – ein sehr sympathisches Detail zur Verbrüderung der Religionen. Alle zusammen kämpfen sie für die gerechte Sache – und sind dort zur Stelle, wo die Menschheit gerade mal jemanden benötigt, um sicherzustellen, dass das Überleben ganz anderer Leute einen globalen Impact gewährleistet. Bei ihrem neuesten Einsatz allerdings werden sie übers Ohr gehauen und fortan vom diabolischen Pharma-CEO Harry Melling (Harry Potter-Fans wissen: das war Dudley Dursley!) gejagt. Während des Katz- und Mausspiels bekommt ihre Truppe unerwartet Zuwachs – eine junge Marine, die im Irak eigentlich hätte draufgehen sollen, erfreut sich akuter Genesung.

Graphic Novels sind die neuen Drehbücher – oder die besten literarischen Vorlagen. Der Grund liegt auf der Hand: mit der Story werden gleich noch die Storyboards mitgeliefert. Seit Sin City und 300 wissen wir: Panels lassen sich geradezu eins zu eins fürs Kino adaptieren. Aber das muss natürlich nicht zwingend sein. Es ist auch voll in Ordnung, wenn die Regie nur den Steckbrief der Protagonisten übernimmt – mitsamt prägnantem Waffen-Arsenal. So schwingt Charlize Theron, die mit Vorliebe ihre Kampfamazonen rauslässt (so gesehen in Atomic Blonde oder als Imperator Furiosa in Mad Max: Fury Road) eine schneidige Axt. Alle anderen haben Schwerter und Schusswaffen. Dieser martialische Werkzeugkasten verleiht dem soliden Reißer etwas anregend Anachronistisches, ganz so wie bei Highlander. Was kann der Film sonst noch? Nun, zumindest ein stringentes Abenteuer rund um Leben, Tod und die Sehnsucht nach Sterblichkeit erzählen. Auf ewig existieren ist nichts, das kann auf die Dauer nicht gut gehen. Also nochmal: Who wants to live forever?

Die Frage nach dem Warum dieser außergewöhnlichen Mutation stellt The Old Guard zwar schon, erhält aber keine Antwort. Vielleicht aber folgt diese im zweiten Teil der Verfilmung, denn angesichts der Post Credit-Szene, die man nicht verpassen sollte, muss das Schicksal des unbezwingbaren Grüppchens natürlich weitererzählt werden. Wobei sich letzten Endes die Frage stellt: Ist The Old Guard der bessere Film, oder die bessere Serie? Betrachtet man die Machart des Streifens, so wird das Medium austauschbar. The Old Guard hat nichts, was ihn definitiv als Kino-Event auszeichnet, sondern viel mehr, um das Werk als Pilotfilm einer qualitätsbewussten High End-Serie an den Start zu bringen. Dafür wäre die blutige Routine-Action mitsamt seinen Zeitraffer-Heilungsprozessen und wandelnden Geschichtsbüchern als Serienkino-Hybrid ein echter Hingucker.

The Old Guard