Die drei Musketiere – D’Artagnan (2023)

VIELE MÄNTEL, VIELE DEGEN

6,5/10


musketiere_dartagnan© 2023 – CHAPTER2 – PATHE FILMS – M6 FILMS – Constantin Film Verleih GmbH/Ben King


LAND / JAHR: FRANKREICH, DEUTSCHLAND, SPANIEN 2023

REGIE: MARTIN BOURBOULON

BUCH: ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE & MATTHIEU DELAPORTE, NACH DEM ROMAN VON ALEXANDRE DUMAS

CAST: FRANÇOIS CIVIL, VINCENT CASSEL, PIO MARMAÏ, ROMAIN DURIS, EVA GREEN, LOUIS GARREL, VICKY KRIEPS, LYNA KHOUDRI, ÉRIC RUF U. A.

LÄNGE: 2 STD 1 MIN


Das Genre des Mantel- und Degenfilms hat endlich wieder zu seinen begriffgebenden zwei Substantiven zurückgefunden. Tatsächlich wehen in der was weiß ich wievielten Neuverfilmung von Alexandre Dumas‘ Klassiker, auf die eigentlich niemand gewartet hat, mehr wettergegerbte Lederklüfte als in Sergio Leones Spaghettiwestern. Darüber hinaus verleiht der Dreispitz dem, der ihn trägt, und sei er auch noch so ein übler Bandit, eine gewisse Grazie. Die geschliffenen Handwaffen mit vibrierender Spitze – nun, die bohren kleine tödliche Löcher ins Gegenüber, hinterlassen aber weniger Sauerei als würde man mit der Axt ausholen. Mantel und Degen haben Stil. Und das reicht auch, meint zumindest Martin Bourboulon (u. a. Eiffel in Love), der sich des legendären und mittlerweile wirklich schon auserzählt scheinenden Stoffes angenommen hat. Diesmal will er das große Polit- und Agentenabenteuer aus der Epoche des dreißigjährigen Krieges als zweiteiligen Eventfilm komponieren – mit genug Zeit dafür, seine Charaktere zu entwickeln und den fein gewobenen Intrigen von Kardinal Richelieu und Milady de Winter jene nötige Aufmerksamkeit schenken, die ein eigentlich komplexer Actionkrimi wie dieser verdient hat.

Über den Plot brauchen, wie ich denke, gar nicht so viele Worte verloren werden. Jede und jeder kennt die Geschichte des jungen Mannes aus der Cascogne, der um jeden Preis Musketier werden will und sich daher, mit einem Empfehlungsschreiben seines alten Herrn, in Paris einfindet, um sich anzuwerben. Während seines Bemühens, sich Gehör zu verschaffen, eckt er mit Athos, Porthos und Aramis an – den hartgesottensten Recken der königlichen Garde, die aber trotz ihres Heldenmuts als richtige Mimosen rüberkommen, wenn’s um ihre Ehre geht. Also fordern sie D’Artagnan zum Duell – wobei dieser sicher den kürzeren gezogen hätte, wären da nicht Richelieus Männer dazwischengeraten, die den Jüngling als Zeugen eines politischen Attentats beseitigen wollen. Der gemeinsame Feind schweißt die drei mit dem einen zusammen – und das ist erst der Anfang für eine weitere Intrige, für welche der altehrwürdige Athos seinen Kopf hinhalten muss, würde es den anderen nicht gelingen, seine Unschuld zu beweisen. Natürlich mischt Milady de Winter auch kräftig mit, als Superagentin des Klerus. Was wir haben, ist also das gut ausgearbeitete Stück eines straff gezogenen Historienthrillers, der als Setting für eine neue Epochen-Edition des beliebten Game-Franchise Assassins Creed fabelhaft gut geeignet wäre.

Von der poppig-bunten Süßlichkeit von Paul W. S. Andersons Abenteuervehikel aus dem Jahr 2011 mit Logan Lerman und Regisseuren-Gattin Milla Jovovich als Milady ist in dieser erwachsen gewordenen Interpretation nichts mehr zu sehen. Statt Opulenz und Budenzauber herrscht hier eine in satten Brauntönen gehaltene Düsternis, die einfach vorherrscht, wenn ein Konfessionskrieg tobt, der Katholiken und Protestanten auch in Frankreich gegeneinander aufbringen wird. Ein herbstkalter September legt sich über die Szenerie, es wird unter bewölktem Himmel viel über Felder galoppiert und an Türen gelauscht. Das Leben im frühen 17. Jahrhundert ist grau und entbehrungreich. Die Romantisierung der Geschichte besteht darin, selbst in dieser unbunten, erdigen Inszenierung eine nostalgische Melodie zu entdecken, die sich eingeprägt hätte, würde nicht irgendwann alles recht gleichförmig wirken. Das Kolorit ist nicht die Stärke des Films, obwohl es anfangs den Anschein hat. Das Beste bleibt der Cast. Vincent Cassel und Romain Duris scheinen nur darauf gewartet zu haben, endlich diese Rollen zu spielen. Sie verleihen ihnen Authentizität und gütige Strenge. Louis Garrel als Louis VIII. ist aber noch besser: Seine Darstellung des französischen Monarchen ist jede Sekunde glaubwürdig. Die Balance zwischen Machtbewusstsein, Gnade und Hofetikette hält. Vicky Krieps erreicht die Stärke ihrer Sisi-Rolle aus Corsage allerdings nicht.

Natürlich endet der erste Teil mit einem Cliffhanger. Das gibt dem Film den Charme einer Streaming-Produktion, bei der man sowieso längst keine Kosten mehr scheut, die mit ihrem offenen Ende aber unfertig wirkt. Somit lässt sich nicht genau sagen, wie das Werk in seiner Gesamtheit letztendlich abschneidet. Bis dahin ist aber schon so manch Solides auf der Habenseite und die Degen stumpf vom Stechen. Ob Die drei Musketiere – Milady aus einer kurzweiligen Qualitätsroutine das große Event heraufbeschwören kann, wird sich zeigen.

Die drei Musketiere – D’Artagnan (2023)

Kind 44

TROUBLES IN PARADISE

5/10


kind44© 2015 Concorde Filmverleih


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN, TSCHECHIEN, RUMÄNIEN 2015

REGIE: DANIÉL ESPINOSA

CAST: TOM HARDY, NOOMI RAPACE, JOEL KINNAMAN, GARY OLDMAN, FARES FARES, NIKOLAJ LIE KAAS, PADDY CONSIDINE, VINCENT CASSEL, JASON CLARKE, CHARLES DANCE U. A.

LÄNGE: 2 STD 17 MIN


Es ist ein Kreuz mit der russischen Regierung. Und das seit Ende der Zarenherrschaft. Kommunismus, Diktatur, Oligarchie – alles variable Bezeichnungen für nur eine Sache: Machtgier. Einzige Ausnahme war vermutlich wohl Michail Gorbatschow. Wäre er nicht gewesen, und hätte Putin damals schon die erste Geige gespielt, müssten wir heute wahrscheinlich mit Rubel zahlen. Aber so ist es bis jetzt nicht gekommen und wird hoffentlich auch nicht passieren, obwohl der Allzeit-Regierungschef gerade die Ukraine quält. Dort beginnt auch der von Daniél Espinosa verfilmte Roman Kind 44 vom Bestseller-Briten Tom Rob Smith. Welcher, wie kann es anders sein, in Russland der Zensur zum Opfer fiel.

Wir schreiben das Jahr 1933. Der von Stalin veranlasste Holodomor – die Tötung durch Hunger – fordert Millionen Menschenleben. Inmitten dieser Apokalypse: ein Junge namens Leo, der später zu einem hochrangigen Vertreter der stalinistischen Militärpolizei in den 50ern aufsteigt. In einem Land, in dem es keine Morde gibt. Wie das? Ist Russland die Heimstatt des Humanismus, des Friedens und der Freude? Kommunistisch betrachtet: Ja. Im Kommunismus, dem Paradies auf Erden, gibt es sowas nicht. Ein erdachtes Dogma, das zwar in anderer Form, aber immer noch Aktualität besitzt, denn Russland lässt ja schließlich nur im Zeichen des Friedens die Bomben hageln, niemals als Aggressor. Dieses Verkennen, Vertuschen und Vernichten war unter Stalin gang und gäbe. Opposition war undenkbar, und wer die Welt auch nur ansatzweise anders sehen mochte, sah mit einer Kugel zwischen den Augen bald gar nichts mehr. In diesem Volksterror versucht Leo, gespielt von Tom Hardy, nicht nur Gerüchten bezüglich seiner Ehefrau nachzugehen, die mit dem britischen Geheimdienst paktieren soll, sondern auch einer Reihe von Unfällen, die seltsamerweise nur Kindern widerfahren. Alles keine Morde, alles nur blöde Zufälle oder gar Wolfsattacken. In dieser falschen politischen Realität verliert Leo bald den Überblick und den Glauben ans System. Beim Versuch, Gattin Raisa (Noomi Rapace) vor der Auslieferung zu beschützen, werden beide ins Exil nach Wolsk geschickt. Dort geht der Horror mit den Kindermorden allerdings weiter.

Und dort gesellt sich auch Gary Oldman zu einem wahrlich illustren Star-Ensemble, der eben von Tom Hardy über Joel Kinnaman, Fares Fares und Vincent Cassel bis zum britischen Charaktermimen reicht, der als Churchill des Oscar erhielt. Hier hat er allerdings nur eine Nebenrolle, wie alle anderen auch. Tragendes Gerüst des Films bleiben Hardy und Rapace, die so gut wie mit allem konfrontiert werden, was damals in Russland im Argen gelegen haben mochte. Ich hoffe, Tom Rob Smith hat hier gut recherchiert. Aus erster oder gar zweiter Hand scheint der Stoff aber nicht zu sein. Abgesehen davon ist kein einziger russischer Staatsbürger im Cast, was wiederum darauf schließen lässt, dass Kind 44 auf eine Weise über russische Geschichte referiert, wie der Westen sich das eben gerne vorstellt.

Diese Vorstellung aber ist ein Albtraum: Russland brodelt als zutiefst menschenverachtende Vorhölle vor sich hin. Das Wort Freiheit scheint aus dem Wortschatz behördlich verbannt worden zu sein, wie gegenwärtig das Wort „Krieg“ aus den russischen Medien. Der Totalitarismus in Farbe und stilsicherer Ausstattung reißt denunzierte Existenzen aus ihrem Alltag, lässt Kinder weinend zurück. Paranoia ist der neue Teamgeist. Als Zeit- und Gesamtbild eines kafkaesken Zustandes ist Espinosas sehr bildhaftes Politdrama durchaus solide. Indem, was Kind 44 aber alles zumindest narrativ unter Dach und Fach bringen will, enorm überfordert. Da gibt es den Kriminalfall, da gibt es den Twist zwischen Leo und seinen Amtskollegen (sehr blass und eindimensional: Joel Kinnaman), da gibt es die politische Verfolgung von Noomi Rapace – Espinosa will viel, gerät aber in eine dramaturgische Notlage, die ihn zwar dazu bringt, seinen Film auf über zwei Stunden auszudehnen, diese Länge allerdings für schleppende Passagen nutzt und einmal da, einmal dorthin irrt, um alle Schauplätze im Blick zu behalten. Folglich bleibt nur der Dunstkreis des politischen Horrors in seiner Erbarmungslosigkeit konsequent genug – das teils plakative Geschichtskino muss manches, was wohl mehr Zeit gebraucht hätte, um sich zu entwickeln, in einem actionlastigen Showdown über den Kamm scheren. Da büßt Espinosa viel an Authentizität ein, und der finstere Blick in den Osten ist ein Schielen auf ein Hollywood der geglätteten Gerechtigkeit.

Kind 44

Underwater – Es ist erwacht

BLAUE WUNDER DER TIEFE

6/10

 

underwater© 2020 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2019

REGIE: WILLIAM EUBANK

CAST: KRISTEN STEWART, VINCENT CASSEL, T.J. MILLER, JOHN GALLAGHER JR., JESSICA HENWICK U. A. 

 

Und wieder könnten wir das Zitat von Friedrich Nietzsche bemühen: Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Der wirtschaftlich orientierte Mensch will es einfach wissen, er bohrt und bohrt, und gräbt und gräbt, und stößt irgendwann auf etwas, das sich lieber in Ruhe und Frieden auf die Sandbank geknotzt hätte. In James Camerons Abyss waren es zum Beispiel extraterrestrische Kolonisten, die da ganz tief unten einen auf Zwergstaat machten. In Guillermo del Toros Pacific Rim hat sich der monströse Gigantismus durch die Erdspalten gezwängt, um ganze Städte zu Schutt und Asche zu legen. Ich erinnere mich auch gerne an diese submarinen Horrorszenarien wie Deep Star Six, natürlich alles Trittbrettfahrer zur erfolgreichen Alien-Reihe mit ihrem so simplen wie genialen Konzept „Haushoch überlegenes Monster gegen einen Haufen Amateure“. Wenn dann der Fachidiot über sich hinauswächst und zum Survivalexperten wird, dann ist das schon packend. Und die Tiefsee, wie wir wissen, ist einfach nur ein anderer Kosmos, funktioniert also genauso wie die unendlichen Weiten. Warum dann also in die Ferne schweifen – das Unbekannte lauert in der Tiefe, und gerne kann dies auch mit dem eigenen Unterbewusstsein interpretiert werden.

Was haben wir also? Natürlich die tiefste aller Erdspalten – den Marianengraben. Der Mensch bohrt hier also nach Rohstoffen und hat dafür eine ganze Stadt versenkt. Mittendrin in diesem Gewusel: Ex-Bella Kristen Stewart als Ingenieurin im wasserstoffblonden Kurzhaarschnitt, den sie mit Jean Seberg zum dritten Mal wiederverwerten wird (steht ihr aber verdammt gut, wie ich finde). Sie putzt sich gerade die Zähne, als der ganze Kobel in die Luft fliegt. Underwater lässt sich maximal zwei, drei Minuten Zeit, dann brescht der Film mit Volldampf voraus. Es kracht, splittert und plätschert. Und es kracht, splittert und plätschert auch die nächsten neunzig Minuten. William Eubank ist mit diesem Quick and Dirty-Reißer sowieso in seinem Element. Der Mann liebt Science-Fiction und das Kreatürliche, das Isolationsdrama des Menschen und die Überraschung. Mit Love hat er eine Major-Tom-Figur mit der Einsamkeit des Alls konfrontiert, und mit The Signal, einer kafkaesken Alien-Mystery, seine Genialität für das Verstörende bewiesen. Underwater ist sein simpelster Film, sein verspätetes Gesellenstück, grob behauen, aber das Talent ist erkennbar. Doch auch hier: High-Tech als humaner Fremdkörper, die stets versagt, und die Ohnmacht gegenüber unberechenbaren Kräften. Der Plot ist vom Alien-Pannenstreifen aufgesammelt. Dort, wo Pacific Rim geklotzt hat, versetzt das adäquate Kammerspiel einen Haufen Verlorener in die Grottenbahn. Neben Kristen Stewart versucht Vincent Cassel, Haltung zu bewahren, doch wie, wenn die bedrohliche Stille überfluteter Gänge nie lange anhält, um einen klaren Gedanken zu fassen, sondern in hektischer Zerstörungswut gleich die nächste Wand aus der Senkrechten holt. Das ist wie ein Hornbach-Werbespot auf Technikblau und Wassergrün, und die Sanitäranlagen sind hinter uns her. Doch nicht nur die: das Monströse ist auch nicht weit, und da gedenkt Eubank all der kryptozoologischen Easter Eggs in der plankton- und partikelgesättigten Finsternis, die da unten vielleicht noch auf uns warten, und gekonnt dem Strahl der U-Boot-Scheinwerfer bislang entgangen sind. Ein wahres Fest lässt er da veranstalten, del Toro hätte oder hatte schon längst seine Freude daran.

Underwater holt sich die Essenz aus dem Horror technischen Versagens, dabei plagt dem ökologischen Zeigefinger die Gicht, und die böse Absicht des Unbekannten ruht sich auf plattgedrückten Lorbeeren aus. Raffiniert geht anders, die panische Nullzeit-Flucht aus lebensfeindlichen Gefilden und vor der eigenen Fantasie, die der Blick ins diffuse Dunkel in uns hervorruft, geht aber vielleicht genau so.

Underwater – Es ist erwacht

Einfach das Ende der Welt

WER NICHT KOMMT, BRAUCHT NICHT FORTGEHEN

7,5/10

 

endederwelt© 2016 Weltkino

 

LAND: KANADA, FRANKREICH 2016

REGIE: XAVIER DOLAN

MIT GASPARD ULLIEL, VINCENT CASSEL, NATHALIE BAYE, LÉA SEYDOUX, MARION COTILLARD

 

Doch Louis kommt. Er kehrt zurück zu seiner Familie. Irgendwo in Frankreich, zu einer unbestimmten Zeit. Denn Louis wird sterben. Sein Weg nach Hause ist ein Kommen, um wieder fortzugehen, und zwar für immer. Im Haus seiner Familie, das nicht das Haus seiner Kindheit ist, trifft er auf seine Mutter, seine Schwester, seinen Bruder und dessen Frau. Warum Louis lange nicht daheim war, verharrt im Unbestimmten. Womöglich ist der schweigsame Sohn ein Journalist, hat hochgelobte Reportagen verfasst. Zumindest so viel wird klar. Alles andere oszilliert in einer traumartigen Wolke des Unnahbaren dahin.

Der frankokanadische Kino-Exzentriker Xavier Dolan hat sich eines Theaterstücks des nicht weniger exzentrischen, aber in Frankreich heiß begehrten Dramatikers Jean-Luc Lagarce angenommen und ein seltsam anmutiges Kammerspiel auf die Leinwand gebracht, welches sich durch die adaptierte, formelhafte Sprache der Bühnenvorlage zu einem kunstformübergreifenden Hybrid verwandelt. Einfach das Ende der Welt atmet sowohl die Luft des Theaters als auch jene eines frei modulierten Kinos ohne Vorgaben und gerät zum Glücksfall, wenn es heißt, einer literarischen Sprache gerecht zu werden und die große Leinwand für sich zu nutzen. Mit Schauspielgrößen wie Marion Cottilard, Vincent Cassel, Nathalie Baye und Léa Seydoux gibt Dolan das Bühnenstück nicht irgendwem in die Hände, sondern bereits etablierten Namen, die aus dem Vollen schöpfen, was das Familiendrama nur hergeben kann. Bemerkenswert ist, dass der etwas mehr als eineinhalbstündige Film seine Geschichte so unartikuliert wie möglich lässt und selbst andauernd von einer unfertigen Metamorphose des Geschehens zur nächsten mäandert. Alles wabert, verharrt in Unschärfe. Das Heimkommen des Sohnes ist ein Ereignis, das alle verunsichert, geradezu verstört, und niemanden wirklich glücklich stimmt. Glücklich war in Lagarce´s Familie von vornherein keiner. Irgendwas ist da im Argen. Sei es die unkontrollierte Wut des älteren Bruders oder das aufgesetzt schrille Gebärden der Mutter. Louis kommt und will vom Tod berichten, der seiner Krankheit folgen wird. Doch statt Louis zuzuhören, wollen die Verwandten gehört werden. Da auch ihnen nie jemand zugehört hat, und da auch ihnen ihr Recht, sich mitzuteilen, Zeit ihres Lebens verwehrt wurde, löst sich nur Gestammel von ihren Lippen. Während der Heimkehrer gar nichts sagt.

Dolan´s Film ist sinnlich fotografierte Kunst der Sprache, die vom Ende der zwischenmenschlichen Achtsamkeit erzählt. Von der Unfähigkeit des Zuhörens und dem Scheitern des Gehörtwerdens. Vom Aneinander vorbeireden und aus den Augen verlieren. Ein melancholischer Reigen, der sich da auftut, die Kamera im Widerspruch der Missstände, nähert sie sich doch aufdringlich nahe den Gesichtern an, studiert und interpretiert sie, während sie sich abmühen, Sinnvolles und Wesentliches zu artikulieren. Irgendwann findet Louis den Moment, Lebewohl zu sagen. Bis dahin darbt und leidet der Zuseher mit, aber es bleibt eine Art Mitleid der Unparteiischen, die im weit genug entfernten, objektiven Abstand die Zerrüttung des großen Ganzen sieht. So verharrt die Familie im ewigen Um-sich-Kreisen, ohne den anderen zu umkreisen. Übrig bleibt Louis, der damit, dass er nichts sagt, alles und viel mehr gesagt hat als die anderen.

Als ehemaliger Dramatiker und Theatergeher sind mir ähnliche Dramen wie jene von Lars Noren oder Jon Fosse ziemlich geläufig. Wer mit diesen Dramatikern oder zum Beispiel mit dem grandios verfilmten Stück Im August in Osage County von Schauspieler Tracy Letts etwas anfangen kann, sollte sich Einfach das Ende der Welt nicht entgehen lassen. Französisches Bühnenkino, kopflastig wie der Schwindel lange vor dem Kater. Es ist lakonischer, halbschwerer Filmgenuss, der so aussieht als wäre das Medium der Fotografie die Wahl des visuellen Filmstils, dessen ausgesuchte Musikstücke die irrlichternde Stimmung unterstreichen und sich tags darauf garantiert in der eigenen Playlist wiederfinden werden.

Einfach das Ende der Welt

Die Schöne und das Biest (2014)

DIE MIT DEM WOLF TANZT

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schönebiest

Wenn es nach den Vereinigten Staaten ginge, dann könnte man getrost auf die internationale Filmwelt verzichten. Ausnahmen würden die Regel bestätigen, vielleicht würde noch Australien oder Großbritannien einfach aufgrund ihrer gemeinsamen Muttersprache mit ins rettende Boot geholt werden – denn alles, was fremdsprachig ist, hat in Übersee – wie sagt man bei uns so schön – einfach kein Leiberl. Zumindest nicht aus wirtschaftlicher Sicht. Denn auf der großen Leinwand Untertitel lesen will dort keiner, und Synchronstudios gibt es dort auch nicht, jedenfalls nicht für fremdsprachige Filme. Für Animationsfilme sehr wohl – Manfred Lehmann, Christian Brückner, Peter Matic und all den anderen Schauspielern sei hierzulande gedankt, dass sie zum Mikro greifen und uns barriereloses Filmvergnügen ermöglichen. Was bleibt also den USA übrig, um sich von Filmen, die sich anderswo phänomenal gut verkaufen, aber nichts mit Englisch am Hut haben, ein Stückchen abzuschneiden? Richtig, sie müssen es nachverfilmen. Selber Stoff, selbe Charaktere, fast schon kopiert. Daher all die ganzen Remakes, deren Sinnhaftigkeit in Europa keiner versteht. Die Produktionsfirmen aus Hollywood wollen mitverdienen – und zahlen vorab schon mal genug Geld, um die Rechte zu kassieren und dann das Einspiel bereits als gemähte Wiese anzusehen. Denn erprobt ist das Rezept ja schon.

Demnach ist die eben im Kino angelaufene Realverfilmung des romantischen französischen Märchens aus dem Rokoko eine im Grunde genommen genauso redundante Produktion, hat doch Pakt der Wölfe-Regisseur Christophe Gans bereits 2014 die Geschichte rund um die schöne Händlerstochter, die mit dem Wolf tanzt, formschön, opulent und knisternd ins Szene gesetzt. Ganz so, wie man es von einem Märchen erwartet, das eine alte Geschichte erzählt und mit neuesten technischen Mitteln eine Wunderwelt illustriert, die fast schon an Tim Burton´s Alice im Wunderland erinnert. Aber nur fast, da ist noch ein gutes Stückchen französisches Kolorit versteckt, allein schon aufgrund der erlesenen Besetzung, angefangen von der hinreißend sinnlichen Lea Seydoux über André Dussolier bis hin zu Vincent Cassel, der auch mal keinen sinistren Macho spielen kann, sondern einen geläuterten Prinzen, dem das Unglück und der Fluch, der sein Reich heimgesucht hat, auf seinen vorerst pelzigen Schultern lastet. Und wer genau hinsieht, kann die deutsche Sängerin Yvonne Catterfeld entdecken – als aparte Schönheit in den erzählerischen Rückblenden rund um die goldene Hirschkuh. Christophe Gans lässt nichts aus – behutsam und detailverliebt nähert er sich dem mehrere hundert Jahre alten Stoff, bereinigt ihn von all den verniedlichenden Disney-Elementen und findet zielsicher in das Grimm’sche Zeitalter des Märchenerzählens zurück, das sich vorwiegend in der kulturellen Epoche der Romantik wiedergefunden hat. Genauso ist Die Schöne und das Biest geworden – mit verwunschenen Schlössern, verzauberten Lichtungen im Wald, jeder Menge Rosen und fluchbefreiender Küsse. Und selbst wenn die Dancing Stars Seydoux und Cassel das königliche Parkett erobern, verkommt dies nicht, wie bei Musicals so oft, zum Selbstzweck, sondern bleibt Teil der Erzählung. Ach ja, Musical – diese Verfilmung hier hat mit dem Genre der singenden Emotionen nichts zu tun. Disney´s Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1994 hingegen schon – und die Realverfilmung desselbigen mit Emma Watson nimmt sich da nicht aus. Doch mir als verhaltener Liebhaber des filmischen Musiktheaters ist die greifbarere französische Version, die sich in den USA womöglich keiner angesehen hat, lieber. Klar, gegen Ende übertreibt Christophe Gans seinen Mut zum visuellen Blockbusterkino für Europäer, aber solange es gut gemacht ist, freut man sich, wenn gigantische Steinfiguren den Bösewichtern nach dem Leben trachten. Das hat was von High Fantasy, wohingegen quasselnde Kerzenleuchter und Uhren aus der Mickey-Fraktion eher zu den Fieberträumen eines Antiquitätenhändlers passen.

La Belle et La bete – wie es im Original heißt – ist gut besetztes, aufwändiges Märchenkino für Nostalgiker, Romantiker und Freunde europäischen Kinos. Und ein Beweis mehr, dass es auch ohne Hollywood gehen kann. Aber diesen braucht die Filmwelt Frankreichs ohnehin nicht.

Die Schöne und das Biest (2014)