Der Mann, der seine Haut verkaufte (2020)

DIE FREIHEIT DER KUNST

6/10


dermannderseinehautverkaufte© 2020 eksystent filmverleih


LAND / JAHR: TUNESIEN, FRANKREICH, BELGIEN, DEUTSCHLAND, SCHWEDEN 2020

BUCH / REGIE: KAOUTHER BEN HANIA

CAST: YAHYA MAHAYNI, DEA LIANE, KOEN DE BOUW, MONICA BELLUCCI, RUPERT WYNNE-JAMES, HUSAM CHADAT U. A. 

LÄNGE: 1 STD 48 MIN


Wenn man länger drüber nachdenkt, verwundert es einerseits nicht – andererseits fühlt es sich nicht ganz richtig an: Dass Kunstwerke mehr wert sind als ein Menschenleben. Vielleicht, weil diese Kunstwerke immer nur Unikate sind. Und der Mensch nicht als Individuum, sondern nur als ein Exemplar immer derselben Spezies betrachtet wird, und das alleine deswegen, weil man nichts über die Biographien der jeweiligen Menschen kennt. Dann würde sich herausstellen, dass jeder von ihnen genauso einzigartig ist wie eines dieser um Millionen Euro gehandelten Exponate, die frei von irgendwelchen Beschränkungen durch die Welt tingeln, ohne Angst haben zu müssen, ausgestoßen, zurückgewiesen oder misshandelt zu werden. Immerhin sind diese Werke hoch versichert.

Doch machen wir mal die Probe aufs Exempel. Mit einem Film, der 2021 für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert war: Der Mann, der seine Haut verkaufte. An dieser Stelle bemühe ich stets gerne die gesellschaftskritische Philosophie des französischen Dadaisten Marcel Duchamp, der seinerzeit die Dreistigkeit besaß, ein herkömmliches Pissoir zum Kunstwerk zu deklarieren. Das soll nicht bedeuten, dass dies den Wert des Menschen spiegeln soll, sondern nur die Relation zum Wertebegriff und worauf es ankommt, etwas in seinem Wert zu steigern oder zu senken. Duchamp ist das gelungen, selbst Picasso hat im Zenit seines Ruhms einfach nur Servietten mit seiner Signatur bekritzeln müssen, schon war dieses Stück Stoff mindestens einen ganzen Lotto-Jackpot wert. Was stimmt hier nicht, dass Menschen um ein besseres Leben ringen müssen und Pissoire unbezahlbar werden? Was aber, wenn man beides zusammenbringt? Der syrische Flüchtling Sam Ali, der aufgrund unbedachter und aus dem Zusammenhang gerissener Aussagen im Libanon ein neues Leben beginnen musste, fernab aller erträumten Möglichkeiten, schließt Bekanntschaft mit einem weltberühmten Künstler namens Jeffrey Godefroy, einem Belgier. Der akzentuiert geschminkte Mann mit dem gefälligen Sprech eines Mistopheles überredet den jungen Mann dazu, seinen Rücken für ein formatfüllendes Tattoo zu Verfügung zu stellen. Er will aus Sam Ali ein Kunstwerk machen, und zwar versehen mit dem Artwork des heiß begehrten Schengen-Visums. Dafür soll dieser reichlich Geld und eine Aufenthaltsbewilligung in Belgien bekommen, unter der Bedingung, für jedwede Kunstaktion oder Ausstellung zeitgerecht zur Verfügung zu stehen.

Die Idee der tunesischen Filmemacherin Kaouther Ben Haina ist originell, vielschichtig und inspirierend. Die Freiheit der Kunst als eine Parabel dieser Art zu interpretieren, ist fast schon genial. Mit Betonung auf fast. Denn obwohl der Umgang der Wohlstandgesellschaft mit ihren Werten in so manchen Szenen satirisch hinterfragt wird, gefällt Ben Haina die nebenherlaufende Beziehungsgeschichte zwischen ihrem als Exponat verschacherten Protagonisten und seiner großen Liebe, die sich für ein besseres Leben in den Westen verheiratet hat, deutlich mehr. Die Kritik an Kunst und Prestige fällt zu zaghaft aus, der Vorwurf eines Solidarität heuchelnden, aber letztlich hilflosen Establishments will gar nicht so laut erklingen. Im Vergleich dazu hat Ruben Östlund mit seiner Brachialsatire The Square die satirischen Klingen viel mehr geschärft als Ben Haina es tut. Ihr Anti-Held ist zwar ein Kunstwerk, ein wandelndes und aufmüpfiges Kunstwerk, was an sich schon bizarr genug ist ­– sein Sinneswandel im Laufe des Films fällt aber zu konzeptionell aus, was heißen will, dass Der Mann, der seine Haut verkaufte oft nicht genau weiß, ob es versöhnliches Märchen sein will oder eine zeitgemäße Kritik, auch wenn mitunter punktgenaue Zitate wie die umgekehrte Sage des Pygmalion die Entscheidung schwerfallen lassen. Es scheint aber, dass der Idealismus vehementer durchschimmert, dass elitäre Kunst seine Daseinsberechtigung haben soll und dass die Heimat dem kapitalistischen Westen immer noch vorzuziehen wäre, wenn irgend möglich. Mit der Realität hat der Film dann immer weniger zu tun, die Romanze obsiegt.

Der Mann, der seine Haut verkaufte (2020)

Mrs. Harris und ein Kleid von Dior

KLEINE LEUTE KOMMEN IN MODE

7/10


MrsHarrisundDior© 2021 Ada Films Ltd – Harris Squared Kft


LAND / JAHR: FRANKREICH, GROSSBRITANNIEN, UNGARN 2022

REGIE: ANTHONY FABIAN

CAST: LESLEY MANVILLE, ISABELLE HUPPERT, LAMBERT WILSON, ALBA BAPTISTA, LUCAS BRAVO, ROSE WILLIAMS, JASON ISAACS, ELLEN THOMAS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 56 MIN


Das Kino tischt uns Märchen auf. Und ja, das soll es. Der Pflicht, uns über alle möglichen offenen Wunden zu informieren, die wir bereits hinterlassen haben oder gerade hinterlassen, kommt das Medium Film ohnehin mehr nach als uns lieb ist. Um Probleme zu wälzen braucht man kein Kino, Unglück gibt’s so nämlich auch genug. Warum nicht wieder das Glück suchen wie damals, während des Krieges oder in der Nachkriegszeit, noch vor dem Wirtschaftswunder, wo noch niemand satt wurde und die alliierten Mächte Europa derweil noch besetzt hielten? Da war das Kino noch ein wunderbarer Ort des Eskapismus. Dank Inflation, Klimawandel, Menschenrechte und Krieg ist es wieder an der Zeit, die heile Welt auf den Plan zu rufen – die aber, wenn man genauer hinsieht, gar nicht so heil daherkommt. Es ist nur eine, die hinbekommt, woran wir verzweifeln. Wo alles gut wird, während wir in manchen Dingen noch kein Licht am Horizont ausmachen können.

Die Hoffnung stirbt womöglich zuletzt im dunklen Kinosaal. Oder auch nie. Vielleicht muss man nur seinen Wünschen nachhängen, seinen Idealen und noch so absurden Träumen. Ja, ich weiß, es klingt kitschig, aber die kleine, aufgeweckte und stets höfliche Mrs. Harris, die hält solche Binsenweisheiten für einen löblichen Versuch, einen Schritt dorthin zu tun, wo noch nie ein Normalsterblicher mit dem Gehalt einer Putzfrau hingekommen ist: In die Welt des Establishments. Genauer gesagt: In die Welt von Christian Dior.

Mrs. Harris goes to Paris – der charmante Reim geht in der deutschen Übersetzung leider verloren – beruht auf dem Roman des Schriftstellers Paul Gallico und wurde bereits zweimal verfilmt. Allerdings in Dekaden des 20. Jahrhunderts, in welchen ich diesen Stoff wohl nicht eingeordnet hätte, atmet der doch, wie eingangs erwähnt, die Luft der Zuversichtlichkeit neu gewonnener Freiheiten der 50er Jahre. Doch zumindest tritt in einer der beiden vorangegangenen Werke Angela Lansbury auf, in der anderen Inge Meysel. Diese Version hier, mit Leslie Manville als wirklich bezaubernde ältere Dame mit ganz viel Power im Herzen, beglückt womöglich auch ein zynisches und weltkritisches Publikum, zumindest wird diesem vielleicht etwas wohliger in seinen gepolsterten Kinositzen, und der Verzicht auf die zwei, drei Ballkleider, den unsere niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner zwecks Inflationsoffensive empfehlen würde, ließe sich vielleicht nochmal überdenken. Ein solches Kleid könnte Frau ja besitzen, einfach, um sich dabei besser zu fühlen. Und die soziale Untersicht, der man zwar dankbar ist, die man jedoch nicht wirklich wertschätzt, könnte ein bisschen am Luxus schnuppern.

So fliegt Mrs. Harris das Glück in Form von wundersamen Finanzspritzen regelrecht in die Geldbörse. Eine satte Fußballwette und die Witwenrente des im Krieg verstorbenen Mannes machen es möglich, dass die resolute Dame plötzlich bei einer Fashion Show in den heiligen Hallen der Pariser Dior-Nähstätte reinschneit. So jemand ohne Klasse wird von oben herab beäugt, und selbst Isabelle Huppert als Diors rechte Hand weiß nichts mit der selbstbewussten Putzfrau anzufangen. Doch der Himmel ist ihr auch hier gewogen – und das Kleid ihrer Träume rückt näher, während draußen auf den Straßen die Müllabfuhr streikt und die Wirtschaft den Bach runtergeht.

Diesen dezent kritischen Seitenhieb auf den gegenwärtigen Zustand von Haben und Nichthaben leistet sich dieses auf noble Art konservative Märchen trotz all den Sternen, die man Lesley Manville vom Himmel holt. Selbst in einem Film wie diesen ist nicht alles eitel Wonne, und oft passiert es und das eigene Glück ist in Wahrheit das eines anderen. Wie Manville also von der unterschätzten Haushaltskraft zum funkelnden Stern aufblüht, ist fast ein bisschen My Fair Lady, fast ein bisschen Aschenputtel. Prinzen gibt es aber nur für andere, wie zum Beispiel für die sagenhaft schöne Alba Baptista (Warrior Nun), denn alles kann Mrs. Harris auch nicht haben. Die Genügsamkeit im Träumen selbst ist schon mal ein guter Anfang, um von der Welt nicht allzu sehr enttäuscht zu werden, wenn manches nicht klappt. Dass Mrs. Harris und ein Kleid von Dior lediglich den Klassenkampf zu einem guten Ende bringen will, ist Grund genug, der so entrückten wie naiven Schicksalskomödie als neuen Trend im Kino eine Chance zu geben. Ein guter Mensch soll ja auch was davon haben, gut zu sein, oder nicht?

Mrs. Harris und ein Kleid von Dior

I Came By

IM SCHATTEN DES ESTABLISHMENTS

6,5/10


ICameBy© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

BUCH / REGIE: BABAK ANVARI

CAST: HUGH BONNEVILLE, GEORGE MACKAY, PERCELLE ASCOTT, KELLY MACDONALD, ANTONIO AAKEEL, VARADA SETHU U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Anarcho-Sprayer sind die Erzeuger oft unliebsamer Hinterlassenschaften auf Wänden des öffentlichen Raumes, meist sind es Gang- und Clan-Symbole, manchmal einfach nur ein Pimmel oder unfertiges, wirres Zickzack an Linien, die, wäre man vermutlich nicht erwischt worden, ein Schriftbild abgegeben hätten, das durchaus einen Hingucker wert gewesen wäre. Dann gibt es die Graffiti-Künstler, die Street Art auf ein neues, bereicherndes Level heben – egal, ob in einer Nacht- und Nebelaktion fabriziert oder von liberalen Bezirksvorstehern in Auftrag gegeben. Berühmtester X-Faktor: Banksy. Doch wie wäre es, würden militante-Graffiti-Schreiberlinge einfach in Wohnungen des Establishments einsteigen, um ihre Botschaften zu hinterlassen, die mitunter wäre: Ich war hier, auf gut Englisch: I Came by. Gut, das ist weniger aussagekräftig als Die fetten Jahre sind vorbei, so gesehen in gleichnamigem Film mit Daniel Brühl. Im Suspense-Thriller des britisch-iranischen Autorenfilmers Babak Anvari (u. a. Under the Shadows od. Wounds mit Armie Hammer) schleicht sich der dreiundzwanzigjährige Toby (George MacKay, u. a. 1917) in die Anwesen reicher Bonzen, um diesen mit dem ewig gleichen Schriftzug ihre Verletzbarkeit unter die Nase zu reiben – ihren Tanz auf Messer Schneide, von der man leicht abrutschen kann und in die Arme eines weniger begünstigten Mobs zu gelangen, der die neue Revolution gegen die Kluft in der Gesellschaft anführt. So könnte man es also sehen, braucht dafür aber die Muße, das Ganze entsprechend zu interpretieren.

Wie auch immer – bei einem dieser Einbrüche gelangt Toby im Alleingang in das stattliche Herrenhaus eines pensionierten, allerdings immer noch recht einflussreichen Richters, der im Keller seines Hauses Dinge treibt, die rechtschaffene Menschen wohl schockieren würden. In Panik versetzt, versucht der junge Anarchist, seinen besten Freund dazu zu überreden, im dabei zu helfen, dem distinguierten älteren Herren das Handwerk zu legen. Doch daraus wird nichts: Jay, ehemals straffällig, will sich nicht wieder auf die schiefe Bahn bringen lassen, wird er doch bald Vater. Ein schwerer, aber nachvollziehbarer Fehler: Toby verschwindet spurlos, also muss seine verzweifelte Mutter ran, die über einen längeren Zeitraum versucht, das Geheimnis des verdächtigen Akademikers zu lüften.

Ein Mann, dessen verbrecherisches Tun man nicht beweisen kann, der aber garantiert Dreck am Stecken hat: Eine Art Suspense, die wir von Alfred Hitchcock kennen – bravourös umgesetzt in Das Fenster zum Hof. Bei I Came By wird die vage Vermutung schon bald durch die Gewissheit von Seiten des Zuschauers ersetzt – und dieser staunt nicht schlecht, wenn einer wie Hugh Bonneville, bekannt als Earl of Crawley aus der beliebten Fernsehserie Downton Abbey, trotz seines gefälligen Gehabes und jovialen Schmunzelns dieses auch tragen kann, um das Grauen im Verborgenen anzukündigen. Der elegante Brite gibt alles, um seinen House am Eaton Place-Charme abzulegen und kurvt in Gefilden herum, die ihm genauso gut zu Gesicht stehen. Mit diesem chamäloiden Farbwechsel, den auch Anthony Hopkins beherrscht, könnte Bonneville mit Leichtigkeit Rollen wie die des Hannibal Lecter besetzen. Der akkurate Finsterling, dem man auf den Leim geht, steht dem Briten also genauso gut wie der adelige Patriarch, der sich im goldgelben Licht vergangener Tage sonnt. Dank seiner Ambivalenz trägt der Schauspieler eine Bedrohung in den Film, die bis zuletzt nicht nachlässt. Im Gegenteil: Babak Anvari verzichtet darauf, einen Thriller zu erzählen, der bewährten Muster folgt. Viel mehr gelingt es ihm, die formelhafte Gunst für die Guten in die Kraft des Zufalls und der kompromisslosen Konsequenz zu sublimieren.

Durch weitgehenden Verzicht auf lang ausholende Erklärungen und der Chance, dem Zuseher vieles seinen Vermutungen zu überlassen, bleibt I Came By kaum abgelenkt auf der richtigen Spur, manchmal aber auf Kosten einer plausiblen Logik, die gerade in kleinen Szenen wie dem Knarren von Dielenböden oder lautstarkem Rumoren im Keller jene Konsequenz, die im Plot liegt, nicht übernehmen kann. Das ärgert zwar ein bisschen, andererseits aber ist die Absicht, als Thriller ganz woanders abzubiegen, lobenswert genug, um den Film dennoch zu empfehlen.

I Came By

Der weiße Tiger

DAS GESETZ DES DSCHUNGELS

7/10


derweissetiger© 2021 Netflix


LAND / JAHR: INDIEN, USA 2021

REGIE: RAMIN BAHRANI

CAST: ADARSH GOURAV, RAJKUMMAR RAO, PRIYANKA CHOPRA JONAS, MANESH MANJREKAR, VIJAY MAURYA U. A. 

LÄNGE: 2 STD 7 MIN


Aus den Slums in den Olymp des Wohlstands – das ist etwas, das so gut wie nie funktioniert. Zumindest nicht auf rechtschaffenem Wege. Das funktioniert vielleicht einmal in hundert Jahren einer einzigen Person, die dann zufälligerweise alle Fragen in der Millionenshow beantworten kann. Wir alle kennen diesen Film: Slumdog Millionaire von Danny Boyle. Ein geschmeidige Erfolgsgeschichte, virtuos gefilmt, mit dem exotischen Touch von Bollywood. Der weiße Tiger, mit dem wir es hier zu tun haben, erzählt ähnliches: aus den Slums auf die Butterseite des Lebens, allerdings ohne Millionenshow und auch ohne Love Story. Hier funktioniert das anders. Statt dem großen Quiz gibt’s den Instinkt eines Raubtiers, der den Gesetzen des Dschungels folgt. Inder Balram (kraftvoll: Adarsh Gourav) ist so einer. Ein Slumdog – einer, der bei seiner Großmutter in einer Teeküche Kohle klopft, bis er die große Chance wittert – nämlich, für den Sohn des windigen Unterweltbosses namens Storch als Chauffeur zu arbeiten. Schnell das Kapital von Oma geliehen, dann nichts wie in die Großstadt und dem Patriarchen so lange auf den Wecker gefallen, bis dieser einwilligt. Balram, Angehöriger einer niederen Kaste, wird zum Diener. Scheißfreundlich und verständnisvoll. Devot bis zum Stiefellecken, doch mit eigenen Plänen im Hinterstübchen, die allerdings erst reifen müssen. Denn das Konstrukt Meister und Diener, das schreit danach, zu kippen, wenn man es lange genug überstrapaziert.

Der weiße Tiger ist eine chronologische Lebensgeschichte, die Balram einem chinesischen Politiker per E-Mail erzählt. Zu Beginn weiß man bereits: der Mann hat es irgendwie geschafft. Doch anders als in den Medien und in gefühlt allen publizierten Lebenshilfen scheint es nicht möglich, all die Träume allein nur durch guten Willen zu erreichen, ohne das Gesetz zu übertreten. Reich werden mit Klasse? Ist nicht. Stinkreich wird man nur auf Kosten anderer. Balram, der Entbehrungen müde, ist bereit dazu. Ein Antiheld, aber ein Held womöglich für viele, denen das obsolete Kastensystem und das enorme Gefälle zwischen Reich und Arm in den Fingern juckt. Diese gesellschaftliche Disharmonie in der wortwörtlich größten Demokratie der Welt weiß von Demokratie allerdings wenig. Ramin Bahrani, der mit dem Wirtschaftsdrama 99 Homes auf dem Schlachtfeld des Mammon Besitz und Enteignung gegeneinander ausgespielt hat, beschäftigt sich auch hier, mit diesem ausnahmslos indisch besetzten, durchaus epischen Kriminaldrama mit so leicht verschleißbaren Wörtern wie Erfolg und Ehrgeiz. Die Opferbereitschaft, die für gesteckte Ziele notwendig sind, betrifft meist nicht den, der diese erreichen will. So wirft sich Balram in das Abenteuer „bedeutender Mensch“, erduldet Erniedrigung und ekelhafte Armut. Bahrani fängt das alles in Bilder ein, die jenseits von Bollywood und dem gewissen gesättigten Zauber des Subkontinents in einer pragmatischen Nüchternheit erscheinen.

Der weiße Tiger ist durchaus ein Film, der fassungslos und trotzig macht. Der dazu anstiftet, Reichtum noch mehr abszulehnen als bisher. Slumdog Millionaire ist im Vergleich dazu ein ganz anderes Märchen. Nicht dieses hier. Denn dieses Märchen klingt wie die Realität, klingt weder wie Satire noch scheint es überzeichnet. Dieses Märchen ist dunkel und ernüchternd. Es ist die Geschichte eines Erfolges, die Indien gerade deshalb so von sozialen Werten befreit sehen will, weil sie das Land gleichermaßen schätzt. Fast schon scheint es Kritik aus Liebe zu einem Phänomen aus Aufschwung und sozialer Brutalität zu sein.

Der weiße Tiger

Ready or Not

BRAUT UND SPIELE

7/10

 

readyornot© 2019 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2019

REGIE: TYLER GILLETT, MATT BETTINELLI-OLPIN

CAST: SAMARA WEAVING, ADAM BRODY, HENRY CZERNY, ANDIE MCDOWELL, MARK O´BRIEN U. A. 

 

Komm lieber Mai und mache – der Monat der Vermählungen ist da! Im Mai besiegeln verliebte Paare gerne die Zweisamkeit vor Gott und Gemeinde, doch den Paaren sei ans Herz gelegt: mit der Partnerin oder dem Partner heiratet man die Verwandtschaft auch gleich mit. Die sind ungefähr so wie das Kleingedruckte bei einem Mobilfunkvertrag, die sippenhaftenden AGB sind mit dabei, aber so genau will man’s eh nicht wissen, denn die heiligen Zeiten, an denen man zusammentrifft, die sind verkraftbar. Ein genaueres Auge aufs Gegenüber des Sprösslings werfen die Schwiegereltern, daher zeigt man sich von seiner besten Seite und macht mal bei jedem Blödsinn mit, auch wenn man ihn nicht für sinnvoll erachtet. In Ready Or Not will zumindest mal die Dame nicht der Spielverderber sein. Nachher aber bitte Flitterwochen, und zwar nur zu zweit. Falsch gedacht, aus dem Spiel wird ernst. Zumindest für manche. Andere, die haben nach wie vor Spaß dran, denn es geht darum, die Braut zu finden und um die Ecke zu bringen. Search and Destroy, wie es so schön heißt. Was zur Hölle ist mit dieser Sippschaft nur los? Die werden doch wohl nicht mit Mr. Livingstone aus Jumanji abstammen, der in Joe Johnstons Original genauso Jagd auf Zweibeiner macht wie es hier die ganze Familie tut – bewaffnet mit altertümlichem Killergerät von Armbrust bis Henkersbeil. Wenn die Braut also bis Sonnenaufgang überlebt, hat sie gewonnen. Nur – sie darf das aus keinen Umständen. Warum, bleibt hier ein Geheimnis.

Das alte, holzgetäfelte, mit Antiquitäten vollgestopfte Gemäuer ist ein wunderbarer Schauplatz für einen blutigen Krimi wie diesen. Erinnert ein bisschen an Knives Out, und könnte somit auch das Ambiente für einen Agatha Christie-Krimi sein. Ein bisschen so wie ihr Werk Und dann gabs keines mehr, nur dass hier alles am Kopf steht. Eine ernste Angelegenheit ist Ready or Not zum Glück nicht. Diesen Umstand verschuldet großteils eine umwerfende Samara Weaving – als die Braut, die ums Überleben kämpft, lädt sie ihr Publikum ein zum Mitfiebern, und keine Sekunde lang würde man wollen, dass dem unschuldig zum Handkuss gekommenen Freiwild etwas zustößt. Die Braut, die hat die Pole Position. Und alle anderen sind fast schon übliche Verdächtige, die auf eine gewisse Weise auch nur Opfer sind, in einer verfahrenen, äußerst pikanten Situation, die höheren Mächten unterliegt. Wer kein Blut sehen kann, muss des Öfteren – und am Ende sehr oft – kurz mal wegsehen. Kreativ gestorben wird obendrein, allerdings ist das Ganze sehr überzeichnet und amüsiert sich über ein gewisses erbschaftssteuerfreies Establishment, dass seine Langeweile mit prestigeträchtigen Sinnlosigkeiten verplempert, wie zum Beispiel die Jagd auf Großwild, um nicht in Verruf zu geraten. Der Großpapa hat´s vorgemacht. Das obligate Foto mit erlegtem Wild ist da nicht weit.

Solche Menschenjagden hat das Kino prinzipiell schon des Öfteren gesehen. Und auch demnächst soll der ungesichtete Vorab-Skandalfilm The Hunt auch zum On-Demand-Abrufen sein. Van Damme oder Ice-T sind bereits vor einer ähnlichen The Rich Kill-Gesellschaft geflohen, dieses Machtspiel zwischen den Klassen bringt jetzt nicht erst seit Parasite auch Familien an den Rand ihrer althergebrachten Existenz. Ready or Not kokettiert verhalten mit alten Mythen, mit dem gesellschaftlichem Horror freundlich erzwungener Zerstreuungsabende auf dem Spielbrett, trägt natürlich immens dick auf und ist wenig zimperlich, taugt aber für eine perfid-spannende Scherzpartie, die an ausklingenden Polterabenden auf der Fernsehcouch des Trauzeugen vielleicht ein bisschen sauer aufstoßen könnte.

Ready or Not

Parasite

MIT BESTEN EMPFEHLUNGEN

7/10

 

parasite© 2019 Koch Films

 

LAND: SÜDKOREA 2019

REGIE: BONG JOON-HO

CAST: SONG KANG HO, LEE SUN KYUN, CHO YEO JEONG, CHOI WOO SHIK, PARK SO DAM, LEE JUNG EUN, CHANG HYAE JIN U. A.

 

„Ich kenn da wen, der kennt da wen…“ – diesen Postenschacher der jovial aushelfenden Art, sträflicherweise sowohl in der Politik als auch gern gesehen im Privatbereich, den kennen wir alle. Nichts geht über gute Beziehungen, und keiner braucht mehr die Gelben Seiten, wenn die Freunderlwirtschaft institutionalisiert werden würde. Die neureiche koreanische Familie Kim kann sich entspannt zurücklehnen – wie durch Zauberhand geben sich engelsgleiche Aushilfen in einem piekfeinen, architektonischen Juwel namens Zuhause die Klinke in die Hand – jeder und jede eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Scheint das verdächtig? Nicht für Familie Kim. Die hat andere Sorgen, ist vielbeschäftigt und merkt nicht mal, dass Englischlehrer, Kunsttherapeutin, Chauffeur und Haushaltshilfe letzten Endes alle eine Familie sind, die sich in den exorbitanten Reichtum ihrer eigenen Lottosieger-Spiegelbilder auf raffinierte Weise einschleicht. Home Invasion der kultivierten Art könnte man das nennen. Die andere, die Schleicherfamilie, die wohnt irgendwo in einer muffigen Kellerwohnung, die bei Starkregen schon mal überflutet wird. Aus der existenziellen Not machen die Vier eine Tugend im Eigeninteresse, erlernen ihren bis ins Detail durchkonzipierten, gesellschaftstauglicheren Avatar und suhlen sich bald wie die Made im Speck inmitten einer unglaublich netten, unglaublich arglosen Oberschicht, die alles hat, und vor allem das, was die anderen nicht haben.

Ob das auf die Dauer gut geht, beobachtet Südkoreas erster Palmengewinner auf seine typisch oszillierende, schwer einzuordnenden Art des – sagen wir mal so – komödiantischen Thrillers, der mit Szenen aufwartet, die in unschlagbar boulevardesker Theatralik griechischer Komödien frönt. Wobei Komödie fast schon ein zu sanftes Wort ist. Parasite ist eine Farce über das vermeintlich unverschämte Glück der Reichen, über das Fallen auf die Butterseite des Lebens und den Neid der kreativen Unterschicht, die lieber improvisiert, um ans Ziel zu kommen. Was ihr gelingt, zumindest temporär, was aber an den Skills liegt, die auch jenseits des kalkulierten Betrugs zu einem besseren Leben führen könnte. Diese Diskrepanz zwischen Arm und Reich, diese Klassengesellschaft in harten Gradationskurven, dieses Pyramidenspiel mit der gönnerhaften Attitüde jener Leute, die das Geld haben, um anschaffen zu können bis zu jenen, die als Plebejer die Infiltration proben, ist im Kino des Bong Joon-Ho kein unbekanntes Terrain, ganz im Gegenteil. Bereits in seiner dystopischen Railway-Parabel Snowpiercer durften sich Chris Evans und Co vom Proletariat bis an die Zugspitze des Establishments vorkämpfen. Krasser lassen sich die Tortenschichten der Gemeinschaft wohl kaum darstellen. Parasite erzählt ungefähr dasselbe, doch hier ist die Machtübernahme eine, die im Geheimen abläuft, wenngleich manche Konfrontation in bizarrem Handgemenge rund um Smartphones die Subtilität erstickt.

Bong Joon-Ho so gut aufgelegtes wie teilweise auch finsteres und zwischendurch sogar melancholisches Drama setzt vor allem in den ersten zwei Dritteln voll auf Zug, ist virtuos geschrieben und skizziert seine Figuren, die er nie wirklich lächerlich macht, mit Liebe zur subversiven Exzentrik. Aus manchen Bildern schwappt der gesellschaftskritische Sarkasmus wie das Abwasser aus der Klomuschel, stets aber ist die überzeichnete Bühnentragik inhärent, die sich aber selbst an gruseliger Absurdität, wenn es hinunter in den Keller geht, nicht die Finger verbrennt. Alles passt auf so typisch koreanische Art zusammen. Das sind Kompositionen, das bekommt das westliche Kino niemals hin. Parasite hängt aber gegen Ende etwas durch, weniger was die atemlose Virtuosität betrifft, sondern vielmehr die Erwartung einer radikalen Konsequenz dieser grotesken Geschichte. In unerwarteter Milde lässt Bong Joon-Ho die Moral obsiegen, kratzt die Kurve zu einem Lehrstück, in dem es keine Sieger gibt, sondern nur verloren werden kann, wenn die Missgunst von allen Seiten Gift und Galle spuckt.

Parasite

Zimmer mit Aussicht

FLANIEREN MIT MANIEREN

5/10

 

zimmermitaussicht© 1986 Kairos-Filmverleih

 

LAND: GROSSBRITANNIEN 1986

REGIE: JAMES IVORY

CAST: HELENA BONHAM-CARTER, MAGGIE SMITH, JULIAN SANDS, JUDI DENCH, DANIEL DAY-LEWIS U. A.

 

Es müssen nicht immer die neuesten Kino-Releases sein. Die sind in den Print- und Online-Medien ohnehin zahlreich vertreten. Was nicht heissen soll, ich spar mir von nun an meinen Senf. Doch wie wäre es trotzdem mal mit einem etwas reiferen Werk, das, sagen wir mal, rund 30 Jahre auf dem Buckel hat? Da gibt es eines, das kennen wahrscheinlich gar nicht mal so viele, und wäre dieses Werk nicht einer der Lieblingsfilme eines guten Freundes von mir, hätte ich mit Sicherheit vergessen, es auf die Watchlist zu setzen: Zimmer mit Aussicht.

Der zumindest für Pauschaurlauber höchst verlockende Titel steht für das bekannteste Frühwerk des amerikanischen Filmemachers James Ivory, der Zeit seines künstlerischen Schaffens eine ausgeprägte Vorliebe für britische Literatur an den Tag gelegt hat. Nicht zu glauben, dass Ivory eigentlich Amerikaner ist, so europäisch, wie er sich in seinen Filmen gibt. Ich kann mich auch noch sehr gut an die Oscarverleihung 1993 erinnern, als das distinguierte Meisterwerk Was vom Tage übrig blieb nach dem Roman des japanischstämmigen Briten Kazuo Ishiguro achtmal für den Goldjungen nominiert war und dann doch leer ausging. Der Film mit Emma Thompson und Anthony Hopkins in seiner wahrscheinlich besten Rolle ist eine Sternstunde der Schauspielkunst, aber auch der leisen, zarten Inszenierung. Für große Gefühle in kleinen Dosen war James Ivory stets ein Spezialist. Im Jahr davor wurde immerhin Wiedersehen in Howards End ausgiebigst prämiert – für Emma Thompson, Szenenbild und Drehbuch. Howards End war eine Verfilmung eines der Romane des Briten E. M. Forster – und nicht die erste. Zimmer mit Aussicht war 6 Jahre früher dran, und konnte bei den Oscars 1987 ebenfalls punkten, zumindest in den Nebenkategorien. Soviel also zu den Fakten, die in ihrer trockenen Aufzählung jetzt vielleicht ein bisschen für Langeweile gesorgt haben könnten, vor allem bei jenen, die ohnehin über James Ivorys Œuvre Bescheid wissen. Allerdings stimmt dieser kleine, recht langatmige Einblick bestens auf vorliegenden Film ein, der vorrangig eines ist: langatmig.

Dieser Müßiggang, um ein anderes Wort dafür zu finden, kann durchaus ein gepflegter sein. In Zimmer mit Aussicht sogar vom pedikürten Zeh in weißen Socken und Schnallenschuhen bishin zum Spitzenschirmchen, das unter der Sonne der Toskana vor allzu sengender Frühlingshitze schützen soll. Und diese Frisuren – das waren sicher Stunden beim Hairstylisten, der vor allem bei Helena Bonham-Carters sperriger Mähne ins Schwitzen gekommen sein muß. Die damals blutjunge Schauspielerin, gerade mal 19 Jahre alt, feierte mit Zimmer mit Aussicht ihr Kinodebüt. Ihr zur Seite als Anstandswauwau: die legendäre Maggie Smith, oscarnominiert und erschreckend etepetete, fast schon so wie in ihrer späteren Performance als Zauberin Minerva McGonagall, nur in Ivorys Sittenbild bereits schon pikiert, wenn Männer jungfräuliche Damen einfach so von der Seite her anquatschen. Eine zugeknöpfte Zeit, dieses anfängliche 20te Jahrhundert. Und ein Sittenbild, dass vor lauter Kostümen gar nicht mehr weiß, wo der Kleiderhaken hängt. Das künstlerische Florenz mit all seinen Meisterwerken der Renaissance und das dazugehörige flanierende, kunstbeflissene Klientel präsentiert eine Gesellschaft auf fein ziseliertem Silbertablett. Wenn dann die frühsommerlichen Wiesen mit all ihren Mohn- und sonstigen Blumen der Ort eines verstohlenen Kusses sind, werden die impressionistischen Bilder eines Auguste Renoir zum Leben erweckt. Da greift das weiß behandschuhte Filmteam tief in die Requisitenkiste und rückt akribisch ausgesuchte Locations wie handkolorierte Postkarten ins richtige Licht. Das ist natürlich geschmackvoll. Und nach wie vor langatmig.

Beworben wird Zimmer mit Aussicht als zauberhafter Film über die Macht der Gefühle, als große Liebesgeschichte. Das kommt meines Erachtens nicht wirklich hin. E. M. Forsters Roman mag da vielleicht anders ticken, mag da vielleicht die Gefühle von George und Lucy, der beiden Liebenden, die im Zentrum des Filmes stehen, besser umschreiben. In Ivorys Verfilmung ist die leidenschaftliche Liebe bar jeder Leidenschaft und maximal ein halbherziges Geplänkel. Julian Sands, der den liberalen Freigeist George spielt, fährt noch etwas mehr Drive auf, der ist aber mehr dem Anspruch seiner eigenen Quergedanken geschuldet als einer hingebungsvollen Schwärmerei. Und Bonham-Carter? Sie steckt mit ihrer Sehnsucht im besten Wortsinn noch in den Kinderschuhen. Für eine Liebesgeschichte mangelt es zwischen Florenz und der britischen Heimat zu sehr an empfundener Leidenschaft, da sind Hopkins und Thompson als emotional verschlossenes Hauspersonal im Vergleich dazu geradezu in euphorischer Ekstase. Rund um diesen gedehnten „Lamourhatscher“ schlägt ein edler Cast in nobel eingerichteten Zimmern, auf Wiesen und in Gärten eigentlich die Zeit tot, und stellt die Steifheit einer elitären Zwangsgesellschaft voller hemmender Etiketten lustvoll aufgedonnert zur Schau. Wenn schon kein Kuppler, dann ist James Ivory immerhin ein genauer Beobachter einer Zeit, die in strenger Pietäthaftigkeit Lyrik zitiert oder mit gespreizten Fingern Tee trinkt. Daniel Day-Lewis ist in Zimmer mit Aussicht noch der kurioseste Hingucker schlechthin – seine geckenhafte Performance eines fast schon asexuellen Feingeist-Faktotums wäre schon damals auszeichnungswürdig gewesen und fügt sich fabelhaft ein in das wortlastige, zögerliche und ewig flanierende Porträt eines verstockten Establishments.

Zimmer mit Aussicht