Der Graf von Monte Christo (2024)

WER ZU SPÄT KOMMT, BESTRAFT DIE ANDEREN

7,5/10


© 2024 Panda Lichtspiele


LAND / JAHR: FRANKREICH 2024

REGIE: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE

DREHBUCH: MATTHIEU DELAPORTE, ALEXANDRE DE LA PATELLIÈRE, NACH DEM ROMAN VON ALEXANDRE DUMAS

CAST: PIERRE NINEY, ANAÏS DEMOUSTIER, BASTIEN BOUILLON, ANAMARIA VARTOLOMEI, LAURENT LAFITTE, PIERFRANCESCO FAVINO, PATRICK MILLE, VASSILI SCHNEIDER, JULIEN DE SAINT JEAN U. A.

LÄNGE: 2 STD 58 MIN


Verrat, Befreiung, Selbstfindung und Rache: Den Roman von Alexandre Dumas dem Älteren, der ungefähr in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wurde, mag man fast schon als zweite Bibel ansehen für jene, die weniger das große Abenteuer suchen als vielmehr kurz davor stehen, angesichts prekärer Umstände aufzugeben. In Der Graf von Monte Christo steckt die ganze Wut eines Übervorteilten und Verratenen, steckt eine Welt voll der Ungerechtigkeiten – wohl kaum einem anderen literarischen Werk wohnt so sehr die Sehnsucht nach Gerechtigkeit inne, die nicht Rache genannt werden will. Rache ist viel zu plump für diesen Grafen, sie verbrennt viel zu schnell. Schließlich hätte man sie alle auch zur Strecke bringen können, diese falschen Freunde und korrupten Machtmenschen, die völlig skrupellos und bar jeder Moral die Unliebsamen und Schwachen aus dem Weg räumen. Doch der Graf hat anderes vor. Was wäre gewesen, hätte es in dieser Geschichte die Insel Monte Christo gar nicht gegeben? Hätte der frischgebacken Kapitän Edmond Dantès, der vom Nebenbuhler und besten Freund aufs Kreuz gelegt wird, jemals aus eigener Kraft diese Genugtuung erlangen können, die er letztendlich erlangen wird?

Gefühlt jeder kennt die Geschichte des Gefangenen, der sich mithilfe eines weisen italienischen Geistlichen zum Intellektuellen mausert, um dann dank glücklicher Zufälle aus seiner Isolation zu entkommen. Abbé Faria, so hieß der geheimnisvolle Häftling und Mentor Edmonds, erzählt dem um seine Existenz Gebrachten von einer geheimnisvollen Insel, von den letzten Templern und einem unermesslichen Schatz tief im Berg. Märchenhafter kann das Ganze kaum sein. Und dennoch ist es nicht mehr als ein Jackpot, ein gewaltiges Glück, so viel kann einer in einem Leben gar nicht verwerten, es sei denn, genauso viel Pech im Vorhinein hält die Balance. Mit dieser Balance kann Edmond leben und plant von langer Hand die große, schleichende Vergeltung, um all jenen das Herz zu brechen, die sein Schicksal verschuldet haben.

Und Frankreich, das feiert die letzten Jahre schon die Wiederauferstehung des französisch-klassischen Literaturfilms, der Bezug nimmt auf all die ikonischen Werke jenes Mannes, der schon Die drei Musketiere für ewig ins kulturgeschichtliche Erbe Europas hat eingehen lassen. Was für das DC- und Marvel-Universum James Gunn, sind in der alten Welt Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière. Sie sind es, die Dumas‘ Musketier-Klassiker in formschöne zwei Teile verpackt haben, die wiederum von Martin Bourboulon 2023 dynamisch und erdig verfilmt wurden – Romain Duris, Vincent Cassel oder Francois Civil sind nur einige aus dem illustren Cast. (Nebenbei bemerkt: Delaporte und Patellière sind auch die Schöpfer der Erfolgskomödie Der Vorname) Und jetzt das – jetzt gibt es das wohl komplexeste Ensemblestück in einer dreistündigen, hochkomprimierten Deluxe-Fassung; in opulenter, aber niemals zu pompöser Ausstattung. In atemberaubenden Kostümen und mit einer ganzen Reihe an Schauspielerinnen und Schauspielern, die man allesamt bereits von irgendwoher aus anderen Filmen kennt – nur welche genau, das weiß man nicht. Die Gesichter sind aber vertraut, meist hinter Bärten verborgen oder im historischen Kontext aufgedonnert. Bei Anaïs Demoustiers liebreizendem Lächeln könnte man sich, sofern gesichtet, an Der Sommer mit Anaïs erinnern. Anamaria Vartolomei kennt man aus dem Venedig-Gewinner 2012 – Das Ereignis. Laurent Lafitte und Pierfrancesco Favino – Italiens gegenwärtig wohl bekanntestes Schauspielergesicht im regulären Dienst – sind sowohl Nemesis als auch Schutzengel. Und Pierre Niney? Er (u. a. die Hauptrolle in Francois Ozons Frantz) wagt die „Mission Impossible“ dank einer raffinierten Masken-Technologie, die, würde man es realistisch betrachten, zur damaligen Zeit niemals so funktioniert hätte. Wie Der Graf von Monte Christo es hinbekommt, sich täuschend echt zu verwandeln, ist fast schon ein phantastisches Element in einem ohnehin schon sehr hochidealisierten moralistischen Epos, für welches man ein gewisses Maß an Unmöglichkeit als plausibel ansehen sollte. Dann, nur dann gelingt diese wuchtige Oper der Manipulation anderer Leute, deren wunde Punkte zur Zielscheibe werden.

Es wäre aufgrund der Fülle an Handlung das Konzept einer Miniserie deutlich entspannter gewesen, doch das Schicksal der Drei Musketiere, von welchen der zweiteTeil sang- und klanglos in der Versenkung verschwand, wollte keiner nochmal wiederholen. Drei Stunden lassen sich also zwar nicht immer bequem, aber auf hohem Level und ohne Leerlauf als packendes Epos verknuspern, aufgeladen mit hochdramatischem Score, begleitet von einer virtuoser Kamera und in atemlosem Stakkato. Dass dabei die Übersicht etwas abhandenkommt, bleibt den vielen französischen Namen geschuldet und hängt von der Geistesgegenwart des Zusehers ab, jeden auch noch so beiläufig ausgesprochenen Namen sofort seinem Konterfei zuzuordnen. Das braucht Anlaufzeit.

Zu guter Letzt: Dass es Der Graf von Monte Christo in einer noch längeren Fassung geben könnte, scheint möglich, sind doch manche Figuren, vorrangig jene der angeblichen Patentochter des Grafen, dargestellt von Vartolomei, scheinbar grundlos mit im Spiel. Man fragt sich lange, was sie hier zu suchen hat, am Ende bleiben Delaporte und Patellière die Antwort darauf nicht schuldig, wenn auch etwas spät.

Der Graf von Monte Christo (2024)

In der Nacht des 12. (2022)

ERMITTELN À LA MÖBIUS

7/10


indernachtdes12© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2022

REGIE: DOMINIK MOLL

BUCH: DOMINIK MOLL, GILLES MARCHAND

CAST: BASTIEN BOUILLON, BOULI LANNERS, THÉO CHOLBI, JOHANN DIONNET, PAULINE SERIEYS, LULA COTTON-FRAPIER, JULIEN FRISON, CHARLINE PAUL, MATTHIEU ROZÉ U. A. 

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Die Zeiten sind anscheinend vorbei, in welchen sich Drehbuchautoren im Schreiben ihrer Krimi-Plots stets nach der Lauflänge ihrer Serien-Episoden richten mussten. Zugegeben: viele davon haben angesichts ihrer Plausibilität gleich vorweg die Flinte ins Korn geworfen. Andere, die vielleicht mehr Zeit für ihren Fall hatten, strapazierten das Sitzfleisch so mancher Zuschauer. Der Zufall wurde ausgereizt, das Glück des Ermittlers hielt sein Publikum oftmals für dumm. Im True Crime, dem Subgenre des Thrillers, lassen sich Fälle auf wesentliche Wendepunkte reduzieren oder Zeitsprünge wagen, welche die ganze Spannung aber auseinanderreißen können. So gesehen zuletzt in Boston Strangler, einem Versuch, den berüchtigten Mordfall aus den 60ern als Fakten-Entertainment zu verkaufen. Doch man muss als Filmemacher weder das eine noch das andere tun. Man kann Fiktives mit Dokumentarischem kombinieren und das Verhalten der Kriminologen in den Mittelpunkt stellen, die zunehmend daran verzweifeln, nichts zu Ende bringen zu können.

Dominik Moll, der seit jeher mit dem Mysteriösen liebäugelt und mich mit dem an David Lynch-Werke erinnernden Lemming so richtig beeindruckt hat, konnte letztes Jahr mit In der Nacht des 12. beeindruckende Besucherzahlen schreiben sowie den französischen Filmpreis César fast so oft einheimsen wie die beiden Daniels mit ihrer Multiversum-Oper. Molls Anti-Krimi, wie ich ihn bezeichnen würde, hat sein interessiertes Publikum nicht für dumm verkauft. Hat Erwartungshaltungen unterwandert und sich davor gescheut, sich allen anzubiedern. Wie er das geschafft hat? Er hat sein Werk nicht einem filmischen Zeitfenster angepasst, sondern dieses einfach ignoriert. Ist der Fall nicht gelöst, endet das Ganze ungelöst. Wie bei Eduard Zimmermann und seinem (längst nicht mehr von ihm gehosteten) Dauerbrenner Aktenzeichen XY. Das Mysteriöse, Ungeklärte blieb das Geheimnis eines Erfolges. Niemand will in Wahrheit wirklich wissen, wer‘s war, außer bei Agatha Christie vielleicht. Doch jeder will wissen, wer es hätte sein können. Filme wie diese sind ein Rätsel, welches seine Aufgaben stellt und den Zuseher selbst ermitteln lässt. Ein interaktives Mitarbeiten setzt ein. Und das macht Spaß. Auch wenn ein Fall wie dieser wirklich nicht dazu einlädt, beschwingt ans Recherchieren zu gehen.

Was In der Nacht des 12. In Grenoble geschieht, ist schließlich so grausam wie gespenstisch. Eine junge Frau namens Clara, gerade mal 21 Jahre alt, wird auf dem Nachhauseweg überfallen, mit Benzin übergossen und angezündet. Sie erliegt ihren Verbrennungen – tags darauf findet man die teils verkohlten Überreste in der Wiese nahe eines Sportplatzes. Polizeibeamter Yohan und sein älterer Kollege Marceau beginnen zu ermitteln. Das Ganze fängt natürlich damit an, den geschockten Eltern vom Ableben ihrer Tochter zu erzählen – harter Tobak. Als nächstes muss Claras Vertraute Nanie, die als letzte das Opfer lebend gesehen hat, einige Fragen beantworten, auch sie am Boden zerstört. Und so geht es weiter. Es stellt sich heraus, dass die junge, durchaus promiskuitive und gar nicht an feste Liaisonen interessierte Frau so manche Beziehungen hinter sich gehabt hat – mit den unterschiedlichsten Typen, die letztendlich alle, auf gewisse Weise, verdächtig sein könnten. Außer jene, die ein Alibi haben. Aber auch da heißt es zu hinterfragen.

Man folgt den beiden Ermittlern, die selbst so ihre privaten Probleme haben, kreuz und quer durch die Provinz. Dabei nimmt sich Moll genug Zeit für all seine Figuren, um in wenigen Minuten von jedem hier einen plausiblen Steckbrief zu zeichnen. Der eine: gewalttätig, der andere: opportunistisch. Der dritte wiederum: trotzt dem System. Welches Verhaltensmuster also ist die beste Voraussetzung dafür, einen Mord zu begehen? Vor allem einen auf diese Art? In der Nacht des 12. wird immer mysteriöser. Puzzleteile passen nicht ganz zusammen, andere versprechen, die richtige Spur zu ergänzen. Und dann bringt man sich als Publikum selbst ins Spiel. Überlegt, rätselt. Und dennoch quält es einen nicht, am Ende nichts zu wissen. Es muss nicht alles gesagt, nicht alles auserzählt sein. Dominik Moll hält nicht viel von bewährten Mustern des Genres. Er will das Thema neu andenken – und findet die Lösung, in dem er einfach loslässt.

In der Nacht des 12. (2022)

Der geheime Roman des Monsieur Pick

ZU GUT VERFASST, UM WAHR ZU SEIN

7/10

 

dergeheimeromanpick© 2019 Neue Visionen

 

LAND: FRANKREICH 2019

REGIE: RÉMI BEZANÇON

CAST: FABRICE LUCHINI, CAMILLE COTTIN, ALICE ISAAZ, BASTIEN BOUILLON, JOSIANE STOLÉRU, HANNA SCHYGULLA U. A.

 

Abgelehnt! Und wieder: Abgelehnt! Kein Schreiberling, der so eine Abfuhr zum eigenen Werk nicht irgendwann mal ertragen hat müssen, da nehme ich mich gar nicht aus. Die meisten der Verlage antworten gar nicht, da landet das Script in der Rundablage, aus der es nicht mehr herauskommen will. Wenige antworten dann doch, mit einem Standardsatz auf dem firmeneigenen Briefpapier, mit Floskeln wie: und viel Erfolg weiterhin! Ganz wenige schreiben, dass das Werk durchaus gewinnende Ansätze haben könnte, allein das Genre ist keines, womit sich das Haus identifizieren kann. Also bitte, dann doch lieber on Demand. Aber wer macht dann die Werbung?

Über diese postalischen oder telefonischen Körbe, die künstlerische Karrieren im Keim ersticken, hat sich der französische Filmemacher Rémi Bezançon (u. a. Cest la vie – So sind wir, so ist das Leben) so seine Gedanken gemacht. Was, wenn all diese Verlage in ihrer Beurteilung literarischer Qualitäten doch nicht so unfehlbar sind? Wie lässt sich das am Klügsten entlarven? Mit einer ganz eigenen Bibliothek, nämlich jener der abgelehnten Werke. Die gibt es, irgendwo in der Bretagne, im Hinterzimmer einer Provinzbücherei, also zumindest gibt es die in der investigativen Literaturkomödie Der geheime Roman des Monsieur Pick. Da kann man als Normalsterblicher oder auch als Verlagsagent einfach hingehen und sich durch obskure Titel ackern – um vielleicht doch auf ein unerkanntes Juwel zu stoßen. Genau das ist der ehrgeizigen Verlegerin Daphné passiert, die anscheinend den Roman des Jahrzehnts entdeckt, verfasst von einem gewissen Monsieur Henri Pick, der allerdings nicht mehr unter den Lebenden weilt und von dem selbst die eigenen Hinterbliebenen verblüffte Gesichter machen ob der Erkenntnis, dass der Hingeschiedene schriftstellerische Ambitionen gehabt hätte. Der war doch Pizzabäcker, wann hätte der denn schreiben sollen? Doch anscheinend ist das passiert, und der veröffentlichte Roman macht Henri Pick posthum zum großen Faktor X der Literaturszene. Nur einer kann das nicht ganz glauben – Literatur- und Fernsehkritiker Rouche, welcher dem Bestseller-Phänomen auf eigen Faust auf den Grund gehen will.

Marcel Reich-Ranicki hätte womöglich seine Freude an diesem Film gehabt, der auch so etwas Ähnliches wie das literarische Quartett als Startschuss für die folgenden Nachforschungen hernimmt. Fabrice Luchini ist zwar längst nicht so verschroben wie Reich-Ranicki es war, dafür aber ist sein Literatur-Ermittler zwischen Anchorman der Kultur und skeptischem Intellektuellen mit ausreichend Sinn für Polemik eine liebevoll distinguierte Erscheinung. Höflichkeit kommt vor dem Rauswurf, Beharrlichkeit vor dem Erkennen plausibler Ungereimtheiten. Das geheime Buch des Monsieur Pick ist ein pointierter Bücherkrimi gar nicht mal ohne Todesfall, ein triezender, durchaus subversiver Angriff auf Medien und inszenierte Hypes, jedoch immer vorwiegend zuvorkommend, wie ein taktischer Journalist, der sein Gegenüber diskret zu manipulieren weiß.

Leider nur gelingt Regisseur Bezançon nicht der eleganteste Absprung vom Elfenbeinturm moderner Mythenbildung, das Ende wirkt übers Knie gebrochen, als hätte man die vorletzten, nicht die letzten Seiten eines guten Buches aus einer Gier nach einem guten Ende heraus übersprungen. Dennoch – das französische Kino hat mit diesem Werk wiedermal was feingeistig Komödiantisches auf Lager, dass seinen Witz aus den Worten zieht und dem Beachtung schenkt, was zwischen den Zeilen verweilt.

Der geheime Roman des Monsieur Pick