Air – Der große Wurf (2023)

GEHEILIGT WERDE DAS TESTIMONIAL

7/10


Air Jordan© 2023 Amazon Studios / Ana Carballosa


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: BEN AFFLECK

BUCH: ALEX CONVERY

CAST: MATT DAMON, BEN AFFLECK, JASON BATEMAN, CHRIS MESSINA, VIOLA DAVIS, CHRIS TUCKER, MARLON WAYANS, JULIUS TENNON, BARBARA SUKOWA, GUSTAF SKARSGÅRD U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Kam eigentlich nur mir der Umgang mit der Person Michael Jordan in diesem Film höchst irritierend vor, oder ging es Euch vielleicht genauso? Wie Ben Affleck tunlichst versucht hat, den wohl besten Basketballspieler aller Zeiten zu anonymisieren, ist nichts, was so nebenbei geschieht. Ganz deutlich und sichtlich bemüht wird Jordan in der Schlüsselszene rund um das erste Treffen mit ihm und den Verantwortlichen bei Nike aus dem Bild gedrängt, bevor jener Schauspieler, der die Sportikone verkörpert hat, berzweifelt versucht hat, sein Gesicht von der Kamera abzuwenden, um das leidlich interessante Interieur des Konferenzraumes zu begutachten. Ich kenne solche Maßnahmen eigentlich nur aus einer ganzen Reihe älterer Historienfilme, deren Timeline sich mit derer von Jesus kreuzen. Da ließ man das Konterfei des Heilands außen vor, um religiöse Befindlichkeiten nicht zu kompromittieren. Mittlerweile hat dieser ein Gesicht – Michael Jordan indes nicht. Woran kann das liegen? Und wie sehr hatte der Star wohl Mitspracherecht bei diesem Film, der sich doch nur von Anfang bis Ende um ihn dreht? Hat er auch hier Prozente am Umsatz eingefordert? Wollte er nicht, dass man ihn durch eine andere Person interpretiert? Oder ging es eher darum, den Fokus auf Jordans Eltern durch nichts anderes, schon gar nicht durch den Sohnemann selbst, abzulenken, der wiederum außer einem „Hallo“ keinerlei Worte von sich gibt, geschweige denn sich dazu äußert, wie es wohl wäre, mit Nike zu kooperieren. Das kann nicht so gewesen sein – oder doch?

Dieser Aspekt des Films Air – Der große Wurf ist seltsam. Doch zum Glück haben wir auf der anderen Seite einen Matt Damon, der wieder mal zeigt, was in ihm steckt – unter anderem auch ein waschbärbäuchiger Talentscout mit Sinn für Marketing und dem Mut, Regeln zu brechen. Denn nur so lässt sich Pioniergeist umsetzen. Damon ist Sonny Vaccaro, der gemeinsam mit Marketingleiter Rob Strasser darüber nachgrübelt, wie man den Marktanteil Nikes von 17% im Verkaufsranking von Sportschuhen erhöhen und wie man Nike aus der Nische für ungeliebte Wirtschafts-Mauerblümchen hervorholen könnte. Da helfen kleine B-, C- oder D-Sportler – sondern nur einer, der bereits 1984 als Korb-Wunder galt: Michael Jordan, damals blutjunge achtzehn Jahre alt und vielversprechend. Leider mischen beim Rummel ums beste Angebot auch adidas und Converse mit, die deutlich bessere Chancen haben, den Zuschlag zu erhalten. Doch sie haben die Rechnung ohne Sonny Vaccaro gemacht, der so dreist genug ist, Jordans Agenten zu umgehen und direkt bei den Eltern des NBA-Talents aufzuschlagen. Das ist der Anfang eines Marketing-Märchens als True Story.

Und auch obwohl ich mit Basketball überhaupt nichts am Hut habe außer schmähliche Erinnerungen im Schulturnsaal, mich Markenware überhaupt nicht triggert und Schuhe so lange langweilig sind, bis man sie trägt, war die Exklusiv-Premiere auf amazon prime trotzdem Grund genug, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Vielleicht auch deswegen, weil Tetris, der letzte Behind the Scenes-Wirtschaftsfilm, alle Stückchen spielen hat lassen. Könnte das mit Air – Der große Wurf nicht auch so gelungen sein? Nicht ganz so gut, aber eigentlich: ja.

Ben Afflecks Markengeschichte ist kein Fachchinesisch für Interessensgruppen mit Vorabwissen (naja, vielleicht anfangs, wenn es um all die anderen Basketballer dieser Welt geht), sondern eine launige Dornröschen-Variation darüber, wie man Testimonials und wandelnde Werbeträger wachküsst, ohne sie auszuverkaufen. Allein schon aufgrund von Matt Damons kauzigem Spiel macht der Film Spaß. Affleck selbst, Justin Bateman und Chris Tucker beleben den Film aber ebenso – und nichts davon atmet den Turnsaal-Mief eines ungelüfteten Papierkram-Faktenchecks.

Air – Der große Wurf (2023)

Der geheime Roman des Monsieur Pick

ZU GUT VERFASST, UM WAHR ZU SEIN

7/10

 

dergeheimeromanpick© 2019 Neue Visionen

 

LAND: FRANKREICH 2019

REGIE: RÉMI BEZANÇON

CAST: FABRICE LUCHINI, CAMILLE COTTIN, ALICE ISAAZ, BASTIEN BOUILLON, JOSIANE STOLÉRU, HANNA SCHYGULLA U. A.

 

Abgelehnt! Und wieder: Abgelehnt! Kein Schreiberling, der so eine Abfuhr zum eigenen Werk nicht irgendwann mal ertragen hat müssen, da nehme ich mich gar nicht aus. Die meisten der Verlage antworten gar nicht, da landet das Script in der Rundablage, aus der es nicht mehr herauskommen will. Wenige antworten dann doch, mit einem Standardsatz auf dem firmeneigenen Briefpapier, mit Floskeln wie: und viel Erfolg weiterhin! Ganz wenige schreiben, dass das Werk durchaus gewinnende Ansätze haben könnte, allein das Genre ist keines, womit sich das Haus identifizieren kann. Also bitte, dann doch lieber on Demand. Aber wer macht dann die Werbung?

Über diese postalischen oder telefonischen Körbe, die künstlerische Karrieren im Keim ersticken, hat sich der französische Filmemacher Rémi Bezançon (u. a. Cest la vie – So sind wir, so ist das Leben) so seine Gedanken gemacht. Was, wenn all diese Verlage in ihrer Beurteilung literarischer Qualitäten doch nicht so unfehlbar sind? Wie lässt sich das am Klügsten entlarven? Mit einer ganz eigenen Bibliothek, nämlich jener der abgelehnten Werke. Die gibt es, irgendwo in der Bretagne, im Hinterzimmer einer Provinzbücherei, also zumindest gibt es die in der investigativen Literaturkomödie Der geheime Roman des Monsieur Pick. Da kann man als Normalsterblicher oder auch als Verlagsagent einfach hingehen und sich durch obskure Titel ackern – um vielleicht doch auf ein unerkanntes Juwel zu stoßen. Genau das ist der ehrgeizigen Verlegerin Daphné passiert, die anscheinend den Roman des Jahrzehnts entdeckt, verfasst von einem gewissen Monsieur Henri Pick, der allerdings nicht mehr unter den Lebenden weilt und von dem selbst die eigenen Hinterbliebenen verblüffte Gesichter machen ob der Erkenntnis, dass der Hingeschiedene schriftstellerische Ambitionen gehabt hätte. Der war doch Pizzabäcker, wann hätte der denn schreiben sollen? Doch anscheinend ist das passiert, und der veröffentlichte Roman macht Henri Pick posthum zum großen Faktor X der Literaturszene. Nur einer kann das nicht ganz glauben – Literatur- und Fernsehkritiker Rouche, welcher dem Bestseller-Phänomen auf eigen Faust auf den Grund gehen will.

Marcel Reich-Ranicki hätte womöglich seine Freude an diesem Film gehabt, der auch so etwas Ähnliches wie das literarische Quartett als Startschuss für die folgenden Nachforschungen hernimmt. Fabrice Luchini ist zwar längst nicht so verschroben wie Reich-Ranicki es war, dafür aber ist sein Literatur-Ermittler zwischen Anchorman der Kultur und skeptischem Intellektuellen mit ausreichend Sinn für Polemik eine liebevoll distinguierte Erscheinung. Höflichkeit kommt vor dem Rauswurf, Beharrlichkeit vor dem Erkennen plausibler Ungereimtheiten. Das geheime Buch des Monsieur Pick ist ein pointierter Bücherkrimi gar nicht mal ohne Todesfall, ein triezender, durchaus subversiver Angriff auf Medien und inszenierte Hypes, jedoch immer vorwiegend zuvorkommend, wie ein taktischer Journalist, der sein Gegenüber diskret zu manipulieren weiß.

Leider nur gelingt Regisseur Bezançon nicht der eleganteste Absprung vom Elfenbeinturm moderner Mythenbildung, das Ende wirkt übers Knie gebrochen, als hätte man die vorletzten, nicht die letzten Seiten eines guten Buches aus einer Gier nach einem guten Ende heraus übersprungen. Dennoch – das französische Kino hat mit diesem Werk wiedermal was feingeistig Komödiantisches auf Lager, dass seinen Witz aus den Worten zieht und dem Beachtung schenkt, was zwischen den Zeilen verweilt.

Der geheime Roman des Monsieur Pick

Three Billboards outside Ebbing, Missouri

DEN TEUFEL AN DIE PLAKATWAND MALEN

7/10

 

threebillboards© 2017 Twentieth Century Fox

 

LAND: USA 2017

BUCH & REGIE: MARTIN MCDONAGH

MIT FRANCES MCDORMAND, SAM ROCKWELL, WOODY HARRELSON, ABBIE CORNISH, PETER DINKLAGE U. A.

 

Das erste Mal, als ich mit dem Dramatiker Martin McDonagh in Berührung kam, war die Aufführung seines Theaterstücks Der Leutnant von Inishmore im Wiener Akademietheater. Raues, blutiges Theater aus der irischen Unterwelt. Kein angenehmes Stück Bühnenspiel. Aber intensiv und einprägsam. Aber das ist schon Jahre her. Dass McDonagh auch auf Kino macht, bewies er dann mit Brügge sehen…und sterben?. Ein schwarzhumoriger Krachten-Thriller vor malerischen Fachwerkbauten. Sehenswert ja, aber nicht weltbewegend. Mit dem im Vorfeld hochgelobten Oscar-Kandidaten Three Billboards outside Ebbing, Missouri hat der Ire wohl sein inhaltlich komplexestes und vielschichtigstes Werk auf die Leinwand gewuchtet. Doch wie viel davon ist wirklich von Martin McDonagh? Viel eher lässt sich dieses Werk als Teil der Arbeiten seines älteren Bruders John Michael McDonagh sehen. Der hat sich im Gegensatz zu Martin immer wieder mal mit weitaus schwierigeren, vor allem ethischen Themen auseinandergesetzt. Ganz besonders in seinem letzten Film Calvary – Am Sonntag bist du tot. Ein Film um Glaube und Kirche, Vergebung und Verantwortung. Beeindruckend, bleischwer und metaphorisch. Three Billboards outside Ebbing, Missouri kippt in ein ähnliches Fahrwasser. Kann sein, dass das Kleinstadtdrama durchaus von John Michael´s Herangehensweise an gesellschaftskritische Stoffe beeinflusst worden ist. Wenn ja, war das mit Sicherheit kein Fehler.


Three Billboards otside Ebbing, Missouri könnte an einem Ort spielen, den sich Stephen King ausgedacht hat. Dieses fiktive Ebbing ist eine bigotte, spießige Kleinstadt – erzkonservativ und hinterwäldlerisch. Eine Keimzelle für Mord und Totschlag, für Rassenhass und sozialem Mobbing. Nichts für ungut, aber in Ebbing ist so ziemlich alles irgendwie mit Vorsicht zu genießen. Und dann ist da ein Mord passiert, die Vergewaltigung und Verbrennung eines Mädchens, direkt unter den Billboards, welche die Abzweigung nach Ebbing säumen – und zum Streitfall werden. Denn die trauernde Mutter des Teenies, die verschafft sich mit diesen drei Plakatwänden sowohl mediales Gehör als auch genug Feinde. Und entfacht eine Spirale der Gewalt und der Gegengewalt, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint.

McDonagh der Jüngere liefert eine fulminante Geschichte, das Zerrbild eines schwelenden Mikrokosmos aus Hass und Wut, aus Genugtuung und Trauer. Und sie klingt so bizarr, dass es tatsächlich so passieren hätte können, was ich anfangs sogar noch gedacht habe. Doch 
Three Billboards otside Ebbing, Missouri ist eine fiktive, rabenschwarze Farce, die vor allem darstellerisch in noch tiefere Schwärze trifft als es die Story ohnehin schon tut. Und damit meine ich in erster Linie nicht mal Frances McDormand, von der man sowieso keine schlechte Arbeit erwartet. Nein – es ist das Schauspiel des Sam Rockwell, die nachhaltig beeindruckt und im Gedächtnis bleibt. Seine Wandlung vom niederträchtigen, hasserfüllten Saulus zum Paulus ist ein grandioser künstlerischer Kraftakt. Die veranschaulichte Kleinkariertheit, Impulshaftigkeit und Verletzlichkeit des latent rassistischen Polizisten Dixon und seine stete Metamorphose erinnert flüchtig an die Paraderolle Harvey Keitel´s in Bad Lieutenant. Ihm zur Seite natürlich der von mir sehr geschätzte Woody Harrelson als Mentor und Dixon´s Vaterersatz. All diese Figuren geben McDonagh´s Parabel der Vergebung eine raue, derbe, knochenharte Intensität, die den Wunsch nach dem inneren Frieden eines jeden einzelnen oder jeder einzelne zu einem zynischen Kreuzweg werden lässt. Das abrupte Ende aber wird den gierenden Gerechtigkeitssinn des Publikums erstmal wenig befriedigen. Später jedoch entfalten die letzten Worte seinen ganzen entlarvenden Zweck. Fast schon als Selbsttest für das Publikum, wie bei Helmut Qualtinger´s Die Hinrichtung.

Die Spirale der Gewalt zu durchbrechen verlangt unendliche, fast schon übermenschliche Größe. Im Angesicht emotionaler Belastung einen Schritt zurück zu treten, damit die Faust ins Leere fährt. Nur, um zu einer für alle erträglichen Ordnung zurückzufinden – das ist die Essenz dieser kraftvollen Ballade, die sich manchmal so traurig anfühlt wie Manchester by the Sea, und manchmal so absichtlich dick aufträgt wie ein Film der Coen´s. Selbstjustiz ist auch keine Lösung, die Hilfe des Feindes vielleicht. Ein Impuls, der neu ist – und Three Billboards outside Ebbing, Missouri zu einer faszinierend trotzigen Odyssee ins Innere verschütterter Menschlichkeit werden lässt.

Three Billboards outside Ebbing, Missouri