In der Nacht des 12. (2022)

ERMITTELN À LA MÖBIUS

7/10


indernachtdes12© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2022

REGIE: DOMINIK MOLL

BUCH: DOMINIK MOLL, GILLES MARCHAND

CAST: BASTIEN BOUILLON, BOULI LANNERS, THÉO CHOLBI, JOHANN DIONNET, PAULINE SERIEYS, LULA COTTON-FRAPIER, JULIEN FRISON, CHARLINE PAUL, MATTHIEU ROZÉ U. A. 

LÄNGE: 1 STD 55 MIN


Die Zeiten sind anscheinend vorbei, in welchen sich Drehbuchautoren im Schreiben ihrer Krimi-Plots stets nach der Lauflänge ihrer Serien-Episoden richten mussten. Zugegeben: viele davon haben angesichts ihrer Plausibilität gleich vorweg die Flinte ins Korn geworfen. Andere, die vielleicht mehr Zeit für ihren Fall hatten, strapazierten das Sitzfleisch so mancher Zuschauer. Der Zufall wurde ausgereizt, das Glück des Ermittlers hielt sein Publikum oftmals für dumm. Im True Crime, dem Subgenre des Thrillers, lassen sich Fälle auf wesentliche Wendepunkte reduzieren oder Zeitsprünge wagen, welche die ganze Spannung aber auseinanderreißen können. So gesehen zuletzt in Boston Strangler, einem Versuch, den berüchtigten Mordfall aus den 60ern als Fakten-Entertainment zu verkaufen. Doch man muss als Filmemacher weder das eine noch das andere tun. Man kann Fiktives mit Dokumentarischem kombinieren und das Verhalten der Kriminologen in den Mittelpunkt stellen, die zunehmend daran verzweifeln, nichts zu Ende bringen zu können.

Dominik Moll, der seit jeher mit dem Mysteriösen liebäugelt und mich mit dem an David Lynch-Werke erinnernden Lemming so richtig beeindruckt hat, konnte letztes Jahr mit In der Nacht des 12. beeindruckende Besucherzahlen schreiben sowie den französischen Filmpreis César fast so oft einheimsen wie die beiden Daniels mit ihrer Multiversum-Oper. Molls Anti-Krimi, wie ich ihn bezeichnen würde, hat sein interessiertes Publikum nicht für dumm verkauft. Hat Erwartungshaltungen unterwandert und sich davor gescheut, sich allen anzubiedern. Wie er das geschafft hat? Er hat sein Werk nicht einem filmischen Zeitfenster angepasst, sondern dieses einfach ignoriert. Ist der Fall nicht gelöst, endet das Ganze ungelöst. Wie bei Eduard Zimmermann und seinem (längst nicht mehr von ihm gehosteten) Dauerbrenner Aktenzeichen XY. Das Mysteriöse, Ungeklärte blieb das Geheimnis eines Erfolges. Niemand will in Wahrheit wirklich wissen, wer‘s war, außer bei Agatha Christie vielleicht. Doch jeder will wissen, wer es hätte sein können. Filme wie diese sind ein Rätsel, welches seine Aufgaben stellt und den Zuseher selbst ermitteln lässt. Ein interaktives Mitarbeiten setzt ein. Und das macht Spaß. Auch wenn ein Fall wie dieser wirklich nicht dazu einlädt, beschwingt ans Recherchieren zu gehen.

Was In der Nacht des 12. In Grenoble geschieht, ist schließlich so grausam wie gespenstisch. Eine junge Frau namens Clara, gerade mal 21 Jahre alt, wird auf dem Nachhauseweg überfallen, mit Benzin übergossen und angezündet. Sie erliegt ihren Verbrennungen – tags darauf findet man die teils verkohlten Überreste in der Wiese nahe eines Sportplatzes. Polizeibeamter Yohan und sein älterer Kollege Marceau beginnen zu ermitteln. Das Ganze fängt natürlich damit an, den geschockten Eltern vom Ableben ihrer Tochter zu erzählen – harter Tobak. Als nächstes muss Claras Vertraute Nanie, die als letzte das Opfer lebend gesehen hat, einige Fragen beantworten, auch sie am Boden zerstört. Und so geht es weiter. Es stellt sich heraus, dass die junge, durchaus promiskuitive und gar nicht an feste Liaisonen interessierte Frau so manche Beziehungen hinter sich gehabt hat – mit den unterschiedlichsten Typen, die letztendlich alle, auf gewisse Weise, verdächtig sein könnten. Außer jene, die ein Alibi haben. Aber auch da heißt es zu hinterfragen.

Man folgt den beiden Ermittlern, die selbst so ihre privaten Probleme haben, kreuz und quer durch die Provinz. Dabei nimmt sich Moll genug Zeit für all seine Figuren, um in wenigen Minuten von jedem hier einen plausiblen Steckbrief zu zeichnen. Der eine: gewalttätig, der andere: opportunistisch. Der dritte wiederum: trotzt dem System. Welches Verhaltensmuster also ist die beste Voraussetzung dafür, einen Mord zu begehen? Vor allem einen auf diese Art? In der Nacht des 12. wird immer mysteriöser. Puzzleteile passen nicht ganz zusammen, andere versprechen, die richtige Spur zu ergänzen. Und dann bringt man sich als Publikum selbst ins Spiel. Überlegt, rätselt. Und dennoch quält es einen nicht, am Ende nichts zu wissen. Es muss nicht alles gesagt, nicht alles auserzählt sein. Dominik Moll hält nicht viel von bewährten Mustern des Genres. Er will das Thema neu andenken – und findet die Lösung, in dem er einfach loslässt.

In der Nacht des 12. (2022)

Boston Strangler (2023)

EIN KILLER FÜR DIE ZEITUNG

5/10


BOSTON STRANGLER© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

BUCH / REGIE: MATT RUSKIN

CAST: KEIRA KNIGHTLEY, CARRIE COON, CHRIS COOPER, ALESSANDRO NIVOLA, RORY COCHRANE, DAVID DASTMALCHIAN, PETER GERETY, ROBERT JOHN BURKE, MORGAN SPECTOR U. A. 

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


True Crime ist im Thrillergenre nicht immer besser, denn dabei müssen sich alle, die am Drehbuch beteiligt sind, an die Fakten halten. Sonst wäre es schließlich kein True Crime, sondern nur irgendeine Kriminalgeschichte, die sich ausgewählte authentische Aspekte zum Würzen der eigenen fiktiven Geschichte herauspickt. Boston Strangler von Matt Ruskin will nicht improvisieren oder dazuerfinden, sondern Fakten liefern. Um aber mehr als nur die Eckpunkte der Geschichte abzuhandeln, engagiert er Keira Knightley, eine wunderbare und hochbegabte Schauspielerin, die aber wider Erwarten selbst hier, in diesem trockenen Umfeld aus abgewohntem 60er-Jahre-Flair, Wählscheibentelefon und bekritzelten Notizblöcken nicht mehr in ihre Rolle investiert als Matt Ruskin selbst schon aus der Biografie von Reporterin Loretta McLaughlin extrahiert hat. Gemeinsam mit Kollegin Jean Cole ist sie dem vermeintlichen Serienkiller, der für die alle nach dem gleichen Schema abgelaufenen Frauenmorde verantwortlich gewesen sein muss, auf der Spur. Im Boston der damaligen Zeit haben diese Gräueltaten wohl keine weibliche Seele in Ruhe schlafen lassen – Mitschuld hatten da auch die Medien, die dieses Thema am liebsten täglich zur Schlagzeile machten. Maßgeblich daran beteiligt waren da auch die eben erwähnten Investigativ-Journalistinnen, von denen nur eine wirklich Praxis besaß, während die andere nur wirklich gut schreiben konnte. Diese andere, McLaughlin, packt der journalistische Ehrgeiz und sie entpuppt sich als Naturtalent. Nach und nach kommen – auch dank mitteilsamer Polizei – so einige obskure Gestalten in Frage. Manche haben ein Alibi, manche nicht. Und irgendwie laufen die Ermittlungen alle auf einen gemeinsamen Nenner zusammen, welcher in einer Nervenklinik zu finden ist, in der alle Verdächtigen zumindest für eine kurze Zeitspanne gemeinsam einsaßen.

Den Film The Boston Strangler gab’s schon einmal, nämlich 1968. Inszeniert wurde dieser von Vielfilmer Richard Fleischer, mit Tony Curtis als Killer, Henry Fonda und George Kennedy in weiteren Rollen. Das Thema ist das gleiche – Der Würger von Boston. Nur: Dieser Film stellt die Ermittlungen der Kriminalpolizei in den Vordergrund, nicht die unterstützende Arbeit der Zeitung. Bei Raskin ist es genau umgekehrt – und natürlich zeitgemäßer. Denn es sind nicht Männer, die die Sache aufklären, sondern eben Frauen mit Mut, Durchhaltevermögen und Selbstbewusstsein. Und dennoch springt der entscheidende Funke in diesem Film nicht über.

Wir haben das Problem, um jeden Preis True Crime sein zu wollen. Und so bewegt sich das Kriminal- und Reportage-Drama von einem Namen zum nächsten, es werden Schauplätze aufgesucht und Leute interviewt. Klar, das gehört alles zum Plot und auch zur Story, doch wäre ein Film wie dieser als Reportage in einem Fachjournal besser aufgehoben gewesen als bei Keira Knightley im zugeknöpften Sixties-Look, die ihre Rolle wie schon erwähnt nicht entwickeln kann. Ebenso setzt Boston Strangler weder auf eine spielerische Herangehensweise noch lockert er seine Aktenparade mit interessanten und von mir aus auch spekulativen psychologischen Interpretationen auf, die das lahmende Drama erfrischt hätten. Wäre es dann kein True Crime mehr? Dem Willen zu diesem Wagnis hatte ich nachgegeben, denn sonst bleibt angesichts dieser pragmatischen Nummer, angereichert mit halbherzigen Einblicken ins Privatleben der Protagonistin, das freie Spiel kreativer Kräfte bei einem Fall fiktiver Natur weitaus attraktiver.

Boston Strangler (2023)

Maigret (2022)

DIE MÄDCHEN UND DER KOMMISSAR

6,5/10


Maigret et la jeune morte© 2022 Pascal Chantier / Ciné@/F comme Film


LAND / JAHR: FRANKREICH, BELGIEN 2022

REGIE: PATRICE LECONTE

BUCH: PATRICE LECONTE, JÉRÔME TONNERRE, NACH DEM ROMAN VON GEORGES SIMENON

CAST: GÉRARD DEPARDIEU, JADE LABESTE, MÉLANIE BERNIER, AURORE CLÉMENT, CLARA ANTOONS, ÉLIZABETH BOURGINE, ANDRÉ WILMS, PASCAL ELSO U. A.

LÄNGE: 1 STD 28 MIN


Als hätte der österreichische Künstler Gottfried Kumpf den Geist eines ikonischen Polizeiermittlers entworfen, gegossen aus Messing, mit Hut und Mantel, und vielleicht einer Pfeife; die Hände in den Manteltaschen, vor sich hin sinnierend, mit melancholischem Blick. So sieht Gérard Depardieu schließlich aus, wie ein Fels in der Brandung, still im Denken, grübelnd, behutsam. Nicht nur Kumpf hätte an dieser Figur herumgewerkt haben können, sondern auch einer wie Friedrich Dürrenmatt, der mit seinem Kommissär Bärlach einen ähnlichen Kapazunder mit tief ins Privatleben eindringenden Fällen hadern hat lassen. Jules Maigret ist im ähnlich. Georges Simenons Paradeermittler Frankreichs ist wie der Bulle von Tölz an der Seine, nur weniger kauzig, dafür introvertiert und wortkarg. Gérard Depardieu gibt diesem Mann ein eigenes Gesicht, und das, obwohl wir das Konterfei des Stars zur Genüge kennen. Er ist der Paradeschauspieler Frankreichs, somit ist es naheliegend, dass dieser auch mal in eine Rolle schlüpft, die vor ihm bereits Jean Gabin, Heinz Rühmann oder gar Rowan Atkinson innehatten.

Und so schiebt sich der selten lächelnde Mann durch ein Paris jenseits touristischer Attraktionen. Wir sehen maximal den Invalidendom als Kulisse eines Filmstudios. Sonst aber fällt die Metropole der Liebe einem scheinbar letzten Herbst anheim. Der Asphalt ist grau, das Gemüt des kriminologischen Denkers ebenso. Es fällt ihm schwer, sich noch nach Dienstschluss an einen neuen Tatort zu quälen, doch er ist pflichtbewusst und hat eine Mission. Vor ihm liegt eine junge Tote ohne Identität, Messerstiche zieren Brust- und Bauchbereich, das Abendkleid ist rot von Blut. Kommissar Maigret geht fortan den kleinsten Hinweisen nach, die wie Brotkrumen in der Stadt verteilt sind. Erschwerend kommt hinzu, dass die Identität des Opfers lange Zeit unklar bleibt. Doch wie sich nach und nach das Gesamtbild eines Motivs ergibt, bringt Patrice Leconte (u. a. Die Verlobung des Monsieur Hire) angenehm entschleunigt und präzise auf die Leinwand. Wenn auch diese Episode so scheint, als wäre sie nur eine x-beliebige aus einer ganzen Reihe bereits abgedrehter Reihenkrimis.

Zum Glück arbeitet Gérard Depardieu dagegen, und zwar mit einer gewissen Ehrfurcht vor einer Kultfigur, die man nicht so ohne weiteres uminterpretieren kann. Sein Maigret ist keiner, der über den Fällen steht, sondern einer, der nichts dagegen hat, befangen zu sein, weil ihn irgendetwas an seine eigene Biografie erinnert. Mit sichtbarer Lust an der Reduktion lässt Depardieu so ziemlich offen, ob der Art und Weise seiner Arbeit geplantes Kalkül oder intuitive Herangehensweise zugrundeliegt. Diese Unklarheit bereichert Maigret um eine geheimnisvolle Komponente, wenn er fast schon eins werdend mit der urbanen Kulisse über den Bürgersteig wandelt – wie ein Geist, wie eine nicht immer moralische, vielleicht doppelbödige, aber gerechte Institution. Warum Leconte gerade diesen Roman als Vorlage gewählt hat, nämlich Simenons Maigret und die junge Tote, ist vielleicht damit zu erklären, da dieser aufgrund eines recht schlichten Plots eben die Möglichkeit bietet, aus diesem herbstkalten Krimi voller Melancholie viel eher das Psychogramm eines Auserwählten zu kreieren.

Maigret (2022)

Catch the Fair One – Von der Beute zum Raubtier (2021)

DEN ABSCHAUM AUF DIE MATTE SCHICKEN

7/10


catchthefairone© 2021 Drop Out Cinema


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: JOSEF KUBOTA WLADYKA

CAST: KALI REIS, TIFFANY CHU, MICHAEL DRAYER, DANIEL HENSHALL, KIMBERLEY GUERRERO, LISA EMERY, KEVIN DUNN, ISABELLE CHESTER U. A.

LÄNGE: 1 STD 25 MIN


Redest du mit mir? Kann es sein, dass du mich meinst? Die Szene, in welcher Robert de Niro, bereits mit kampfestauglichem Irokesenschnitt vor dem Spiegel sein Vokabular für den Ernstfall probt, hat Filmgeschichte geschrieben: Taxi Driver ist ein dreckiges, düsteres Meisterwerk, in welchem ein Mann von der Straße dem urbanen Abschaum den Kampf ansagt. Einige Jahrzehnte später ist Joaquin Phoenix in A Beautiful Day auf ähnlichen Spuren unterwegs, wieder geht es um Mädchenhandel, Zwangsprostitution und sexuellen Missbrauch. Ekelhafter kann’s kaum werden. In diesen Abgrund taucht der ohnehin selbst höchst traumatisierte Kämpfer, um ein junges Mädchen zu befreien.

Im düsteren, sehr physischen Thriller von Josef Kubota Wladyka (u. a. The Terror, Manos Sucias) knöpft sich diesmal eine junge Frau in ähnlicher Manier das organisierte Verbrechen vor. Auch sie arbeitet im Alleingang, auch sie versucht, komplett ohne Starthilfe und aus eigener Motivation heraus, wirklich üblen Gesellen den Garaus zu machen, obwohl dies lediglich Kollateralschäden sein werden, während Ex-Junkie und Profiboxerin Kaylee nur ein Ziel verfolgt: ihre jüngere Schwester aus den Fängen illegaler Zuhälter zu befreien. War „Taxi Driver“ Travis Bickle nur Chauffeur fürs Fußvolk ohne spezielle Skills, ist Kaylee bis in die Fingerspitzen durchtrainiert; ihr Körper ist gestählt, ihre Zähigkeit sagenhaft. Gute Voraussetzungen also, heil aus dieser Mission wieder herauszukommen. Nur: so ganz allein? Wenn das Credo eines Kreuzzuges wie dieser und jener von Bickle den eigenen höchsten Zielen entspricht, wirkt der Wille wie Wunder. Und so forscht Kaylee erstmal nach, lässt sich in das verbrecherische Milieu einschleusen und gibt selbst vor, von der Straße weg entführt worden zu sein. Das Ganze wird natürlich sehr bald unschön. Drogen sind im Spiel, Gewalt und sexuelle Nötigung. Die Hoffnung, ihre geliebte Schwester wiederzufinden, stirbt zwar zuletzt, aber die Agonie dieses Umstands hat bereits eingesetzt.

In grobkörnigen, finsteren Bildern legt es Catch the Fair One – Von der Beute zum Raubtier unbedingt darauf an, als pessimistischer Film Noir den Geboten hollywood’scher Thriller-Stereotypen nur mehr Verachtung zu schenken. Sieht man Kali Reis – gepierct, tätowiert und muskelbepackt – zum ersten Mal, ist das die Personifikation grimmiger Entschlossenheit. Die tatsächliche Profi-Boxerin ist Weltmeisterin in zwei Gewichtsklassen und hat auch fürs Schauspiel so einiges übrig, denn ihre Performance kann sich sehen lassen. Dabei braucht sie gar nicht viel um den heißen Brei reden, da reichen Blicke und ihr ganzes Gehabe, um die seelische wie körperliche Anspannung beinahe mitzuempfinden. Mit animalischer Wucht und der Bereitschaft, selbst Schmerzen zu ertragen, gehört der Film ganz ihr.

Auf eine komplexe Storyline darf man aber nicht hoffen. Und die wäre auch fehl am Platz oder würde den Thriller ausbremsen. Wo Taxi Driver oder A Beautiful Day noch mehrere Sidestories am Laufen hatten, rückt hier der Fokus nicht von seiner mit Respekt betrachteten Nemesis des Schmerzes ab. Und so geradlinig und effizient, wie es klingt, ist der knapp 80 Minuten lange Film dann auch. Erfrischend ist der Mut, die nicht aufgrund von Moral angetriebene Anti-Heldin in einer ungerechten Welt auszusetzen, die auch nicht besser wird, wenn die Bösen ihre Rechnung mit Blut bezahlen. Gewalt dreht sich hier nur in einer Spirale, die alle mitnimmt. Das ist kompromisslos, aber in letzter Instanz erfreulich ungefällig.

Catch the Fair One – Von der Beute zum Raubtier (2021)

The Stranger

DER AUSTRALISCHE FREUND

6/10


thestranger© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: AUSTRALIEN 2022

BUCH / REGIE: THOMAS M. WRIGHT

CAST: JOEL EDGERTON, SEAN HARRIS, EWEN LESLIE, KAMERON HOOD, JADA ALBERTS, STEVE MOUZAKIS, MIKE FOENANDER, FLETCHER HUMPHRYS U. A. 

LÄNGE: 1 STD 57 MIN


Was heuer auf den Filmfestspielen so präsentiert wurde, lässt sich oftmals und gar nicht mal so sehr verspätet auf Netflix finden. Da spart man sich das mühsame Kartenkaufen, vor allem bei Filmen, die sowieso nie das Licht der großen Leinwand erblicken würden und sonst sang und klanglos in den lichtlosen Archiven der Kinogeschichte verschwinden würden. Dabei hätte man vielleicht Lust auf einen neuen Film mit Joel Edgerton, einem charismatischen und stets opaken Darsteller, dessen wahre Gesinnung erst immer gegen Ende seiner Filme zum Vorschein kommt. Edgerton ist ein Kaliber, und auch wenn The Stranger die Finsternis der Filmarchive vielleicht ganz guttun würde – ihm beim Ermitteln zuzusehen, inmitten eines Australiens, das sich ausnahmsweise mal von einer Seite zeigt, die wir nicht aus Bildbänden und Reisemagazinen kennen, hat schon was für sich. Noch dazu, wenn er sich mit einem nicht weniger mysteriösen Charakter herumschlagen muss, der, auf eindringliche Weise von Sean Harris verkörpert, die ganzen dunklen Schatten einer australischen Jetztzeit mit sich herumträgt, ohne es zu wissen. Wie ein Wirt einen Virus birgt, dabei aber selbst nicht erkrankt und nur den ganzen Mist an die anderen abgibt, freilich, ohne vorsätzlich gehandelt zu haben.

Das Fremdenverkehrsamt hat für The Stranger sicherlich keinen Cent locker gemacht. Man könnte meinen, irgendwo sonst auf den gemäßigten Graden dieser Welt unterwegs zu sein. Australien wird hier austauschbar, protzt nicht mit Stränden, Wäldern und artenreichen Wüsten, sondern mit Staub, Einöde und urbaner Verbauung. Ein Bus fährt anfangs durch die kontinentale Nacht, mittendrin eben Sean Harris als einer mit stechendem Blick. Man nennt ihn Henry, und dieser Henry reist von Queensland in den Westen, um Vergangenes hinter sich zu lassen. Paul (Joel Edgerton) ist ebenfalls Fahrgast, und am Ende der Reise angekommen, tun sie sich zusammen. Der eine braucht ein Auto, der andere einen Job. Eine Hand wäscht die andere, beide arbeiten für Australiens Unterwelt, die für zahlungskräftige Kunden falsche Papiere ausstellt, und bald wird aus Teamgeist sowas wie Freundschaft. Was Henry aber nicht weiß: Paul ist als Ermittler undercover unterwegs, um den seltsamen Freund genauer unter die Lupe zu nehmen, gilt der doch als Hauptverdächtiger in einem Fall von Kindesentführung und vermutlich Mord. Keine leichte Sache, das Ganze, denn Henry ist verschwiegen wie ein Grab und gibt keinerlei Hinweise darauf, mit dieser grauenhaften Sache überhaupt etwas zu tun zu haben.

Engagement im Investigieren ist eine Sache. Verbissenheit eine andere. Und so nimmt diese ungesunde Beziehung zwischen den beiden verkappten Männern unangenehme Ausmaße an, die The Stranger auch unangenehm für den Zuschauer werden lassen. In fröstelnder Nüchternheit und traumartiger Herumspinnerei entwickelt Thomas M. Wright eine auf den wahren Fall des 2003 verschwundenen Daniel Morcombe beruhenden Mystery-Thriller, bei welchem lange Zeit völlig unklar zu sein scheint, wessen Identität plausibel genug erscheint, um sie als wahr aufzufassen. Welche Vergangenheit gehört wohl wem? Manchmal scheint es, als würden Sean Harris und Edgerton die Rollen tauschen. Als hätte letzterer das ganze schon mal erlebt, und als wäre Harris nur ein Hirngespinst? The Stranger spielt mit dem Fremdartigen und Dunklen wie David Lynch, hat mitunter auch den Hang zum spukhaften Horror, der sich in Visionen manifestiert. Unwohlsein ist also Wrights oberste Devise in einem Werk, das genauso gut von David Michôd sein könnte, der mit dem postapokalyptischen Streifen The Rover zumindest noch die astralische Wüste als pittoreske Kulisse hochfuhr, wenn schon der Plot genauso finster war. Harris und Edgerton faszinieren – begegnen möchte man aber keinem von beiden, zu unberechenbar wäre die soziale Interaktion. Die beiden scheinen festzustecken in einem Katz- und Mausspiel auf engstem Raum, das Erwin Schrödinger wohl gerne in seiner Kiste veranstaltet hätte. Denn auch bei The Stranger ist das Licht, das auf den Film fällt, so schwach, dass es den Zustand der beiden Protagonisten nicht offenbaren kann. In dieser Atmosphäre ist der Thriller durchaus gelungen. Andererseits bleibt dieser ein sperriges, seltsames Ding. Und im Keller des Unterbewusstseins, da rumort es.

The Stranger

Decision to Leave

DAS HERZ, EINE MÖRDERGRUBE

7,5/10


decisiontoleave© 2022 Bac Films


LAND / JAHR: SÜDKOREA 2022

REGIE: PARK CHAN-WOOK

BUCH: PARK CHAN-WOOK, JEONG SEO-KYEONG

CAST: PARK HAE-IL, TANG WEI, LEE JUNG-HYUN, GO KYUNG-PYO, PARK YONG-WOO, JUNG YI-SEO U. A. 

LÄNGE: 2 STD 18 MIN


Die Rache-Trilogie des südkoreanischen Regie-Visionärs Park Chan-Wook möchte ich allen Filmfreundinnen und Freunden ans Herz legen – wenn diese sowieso nicht schon als selbstverständliches Must-See auf der Watchlist stehen oder gestanden haben. Lady Vengeance, Sympathy for Mr. Vengeance und natürlich Oldboy: Großes Kino ohne Mainstream-Kompromisse, selbstbewusst bis in den letzten Spot und nicht darauf angewiesen, um jeden Preis gefallen zu müssen. Park Chan-Wooks Filme halten eben dadurch, dass sie ihrem Konzept so sehr treu bleiben, Ablehnung jedweder Art sehr gut aus. Man muss manch verstörenden Stilbruch, manch Gewalteruption oder groteskes Intermezzo nicht unbedingt verstehen, man wird aber nicht umhinkommen, die virtuose Regieführung des Meisters zu bemerken. Seine Filme sind gehaltvoll und komplex, das ist nichts für zwischendurch. Und manchmal auch ein Schlag in die Magengrube. Wer aber dennoch mit Park Chan-Wook vertraut werden und das koreanische Kino abseits kommerzieller Berechenbarkeit erfahren will, sollte mit Decision to Leave beginnen, seinem neuesten Werk, das eben bei den Filmfestspielen der Viennale läuft. Hier lässt sich ein moderater Einstieg in die vertrackte Gedankenwelt eines Künstlers finden, der mit mächtigen menschlichen Gefühlswelten hart ins Gericht geht, ist es nun Rache oder Liebe.

Die Liebe hält bei Decision to Leave auf Umwegen Einzug, dabei fällt das heikle Wort so gut wie kaum, und auch das leidenschaftliche Empfinden einer Zuneigung findet nur im Ermitteln eines Mordfalls seine Legitimität. Denn Detektiv Hae-joon muss Song Seo, die Witwe eines beim Klettern verunglückten älteren Koreaners einvernehmen, die ob des Verlustes ihres Ehemannes nicht so wirklich Tränen vergießt, gerne mal im Verhörraum die edelsten Sushis des Viertels verdrückt und Hae-joon sowieso schöne Augen macht. Unter Mordverdacht steht die Dame nicht wirklich, doch ihre Rolle in diesem mysteriösen Fall bleibt lange im Dunkeln. Während dieser Zeit des Investigierens kommen sich die beiden näher, auf romantische Weise, doch kommt es nie zu Intimitäten. Als der Fall geklärt scheint, endet diese Art der Zweisamkeit abrupt. Doch nicht für lange.

Der Plot klingt jetzt nicht nach einem umwerfend komplexen Filmdrama. Eine Kriminalromanze eben. Oder doch mehr? Natürlich. Es wäre nicht Park Chan-Wook, würde er das Konzept des Film Noir nicht auf eine Weise wiederbeleben und in erweiterter Form neu interpretieren. Ich denke da an die frühen Dashiell Hammett– oder Raymond Chandler-Krimis mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall. Ausgetüftelte Werke, die mit voller Konzentration gesichtet werden sollten, denn wenn auch nur einer der vielen ins Spiel gebrachten Namen nicht im Gedächtnis bleiben, stürzt das ganze filigrane Krimi-Konstrukt in sich zusammen. Aufpassen und mitdenken muss man auch bei Decision to Leave. Und hier gestaltet sich die Erarbeitung des Films noch schwieriger, denn asiatische Gesichter scheinen uns ohnehin ähnlicher als die unsrigen, und bei koreanischen Namen klingt der eine wie der andere. Hat man diese Hürde überwunden und all die Namen und Personen erscheinen vertraut, eröffnet sich ein neues Fenster mit Ausblick auf ein sehnsuchtsvolles Kriminaldrama, auf Landschaften und Meeresküsten Südkoreas, wo die Brandung tost oder der Schnee leise zwischen den Föhren fällt. Park Chan-Wooks Film widmet sich stark wie selten zuvor seinem Land und seinen Leuten, blickt in die Ferne und in eine stets offene Mördergrube namens Herz. Dort folgt eine radikale Entscheidung der anderen, und wir wissen, dass Chan-Wooks Filme keine Kompromisse eingehen. Auch hier nicht – auch in Decision to Leave ist die letzte Konsequenz eine radikale und entsteht aus dem verrückten Entschluss, sich lebenslang an die große Liebe zu binden. Die letzte Entscheidung wird zu einem künstlerischen Akt, einer Art Manifest. Bis dahin weiß das manchmal gar urkomische, locker dahinerzählte und dann wieder getragene Filmpuzzle all seine vielen Details so zu ordnen, dass sich am Ende ein schillerndes, großes Ganzes ergibt. Einen eingefleischten, satten Film Noir, der die volle Aufmerksamkeit verdient.

Decision to Leave

The Outfit – Verbrechen nach Maß

TOTE TRAGEN SCHICKE SAKKOS

5/10


theoutfit© 2022 Focus Features, LLC.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: GRAHAM MOORE

CAST: MARK RYLANCE, ZOEY DEUTCH, DYLAN O’BRIEN, JOHNNY FLYNN, SIMON RUSSELL BEALE, NIKKI AMUKA-BIRD U. A.

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Für Graham Moore ist der unsichtbare Faden wohl jener Handlungsstrang, der sich jenseits des Offensichtlichen durch die Minuten eines Films schlängelt, und nicht jener Zwirn, den Daniel Day Lewis in gleichnamigem Film von Paul Thomas Anderson seinen stofflichen Kunststücken zur Vollendung eingenäht hat. Für Graham Moore ist The Outfit – Verbrechen nach Maß sein Debüt in Sachen Regie, nach dem er recht erfolgreich das Drehbuch zu The Imitation Game von Morten Tyldum verfasst hat. Wir wissen: Benedict Cumberbatch hat hier dem Mathematiker Alan Turing ein Denkmal gesetzt. Jetzt borgt sich Moore aus Spielbergs Lieblingsensemble Mark Rylance, den ehemaligen Mastermind hinter Ready Player One oder dem Spion aus The Bridge of Spies. Rylance spielt gerne unterschätzbare Charaktere, die leise auftreten, sich vielleicht auch menschenscheu und eremitisch geben. Die den Kopf gesenkt halten und eine falsche oder wahre Bescheidenheit leben, so genau weiß man das nie. Rylance aber hat Charakter, ein distinguiertes Auftreten und fällt niemals mit der Tür ins Haus. Das war auch schon bei Yoda so: Deswegen war der mächtigste aller Jedi auch der kleinste und lernresistenteste, wenn es darum ging, ordentlich Basic zu beherrschen.

Rylance als Herrenschneider Leonard Burling spricht allerdings ein astreines und gewähltes Englisch. Konzentriert sich auf das, was er am besten kann, um die Perfektion mit Nadel und Faden zu gewährleisten. Betreibt einen kleinen Laden im tief verschneiten Chicago und tut so, als wüsste er nicht, dass hier tagein, tagaus finstere Handlanger nicht nur der irischen Mafia Burlings Werkstatt als Drehscheibe für geheime Informationen verwenden. Dort hängt in einer Ecke ein unscheinbarer Briefkasten, und die verbrechenswilligen Herren in Mantel und Fedora schneien hier schneeflockennass in die heiligen Hallen des Meisters, um ihr Geschäft am Laufen zu halten. Eines Tages landet ein Brief der geheimnisvollen und alles umspannenden Organisation The Outfit in besagtem Kästchen – mit brisanten Details. Später dann wird Richie, der Filius von Gangsterboss Boyle, angeschossen in die Schneiderei gebracht – ein Angriff der Gegenpartei, die wissen wollen, dass einer in diesem ganzen Gefüge der Unterwelt ein Verräter sein muss und dem FBI mithilfe von Tonbandaufzeichnungen allerlei Brisantes zukommen lassen will. Diese Aufnahmen dürfen nicht in falsche Hände geraten, denn geplaudert wird in diesen scheinbar tauben vier Wänden immerhin auch genug.

Wer jetzt schon anhand des recht konstruierten Plots das Interesse an dem piekfein ausgestatteten Kammerspiel verloren hat: vorzuwerfen wäre es ihm nicht. Die ebenfalls von Graham Moore ersonnene Geschichte, die sich auf Elemente eines True Story-Berichts beziehen, eifert etwas bemüht den Gangsterfilmen der Schwarzen Serie nach und transportiert seine Hommage in eine Zwei-Zimmer-Boutique, in welcher sich im Laufe von 106 Minuten die verschiedensten Gesellen – vom tumben, gewaltbereiten Handlanger bis zum Obermafiosi, der seinen Sohn sucht – einfinden werden. Das Kammerspiel dürfte Moore womöglich schon seit Sichtung des Hitchcock-Klassikers Cocktail für eine Leiche beeindruckt haben: so manchen Suspense entdeckt man auch in The Outfit – wenn man genau danach sucht. Also irgendwo zwischen angeschossenen Gangstern, verbotenen Liebschaften und gezogenen Pistolen, die auf was weiß ich auf wen gerichtet sind. Inmitten dieses Kommens und Gehens arbeitet sich Mark Rylance als argloses und scheinbar devotes Scheuklappen-Schneiderlein durch allerlei Schnittmuster zur zentralen Figur heran, die langmächtig über Schein und Sein philosophiert und maßgeschneiderte Herrenanzüge mit determiniertem Karma gleichsetzt.     

The Outfit – Verbrechen nach Maß will als opulenter Einakter auf engstem Raum funktionieren und seine Wendungen wie Stecktücher in Sakkos platzieren. Durch diese Ordnungsliebe verzichtet der Thriller aber auf das Plötzliche und Unerwartete.

The Outfit – Verbrechen nach Maß

The Black Phone

WENN DIE TOTEN ZWEIMAL KLINGEN

7/10


The Black Phone
© 2022 UNIVERSAL STUDIOS. All Rights Reserved.

LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: SCOTT DERRICKSON, NACH EINER KURZGESCHICHTE VON JOE HILL

CAST: ETHAN HAWKE, MASON THAMES, JEREMY DAVIES, JAMES RANSONE, MADELEINE MCGRAW U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Wenn Jugendliche im Schulterschluss gegen das Böse kämpfen, kommt einem derzeit natürlich sofort Stranger Things in den Sinn. Wenn nicht Stranger Things, dann zumindest Stephen Kings Es. Der Manifestation panischer Ängste in Gestalt eines zähnefletschenden Clowns konnte Bill Skarsgård unter der Regie von Andrés Musschietti neues Grauen einhauchen, allerdings trieb das Böse hier auf keinem Boden der Tatsachen sein Unwesen, sondern im Genre des phantastischen Horrors. Dort stehen seit jeher unbedarfte, von den Härten des realen Leben noch weitgehend verschonte Kids im Fokus der dunklen Mächte. Denn: Irgendwann zieht irgendwo immer etwas Paranormales ein Kind auf die andere Seite.

Scott Derrickson lässt das Phantastische außen vor. Er probiert es von der anderen Seite. Und krempelt die gesetzte Ordnung von Metaphysischem und Irdischem ordentlich um. Sein Psychothriller The Black Phone zeigt das Böse in Gestalt eines maskierten Mannes, der für jede Situation die richtige Visage hat. In diesem Thriller, der Ende der Siebziger in irgendeiner Kleinstadt spielt (wo sonst?), treibt dieser Grabber sein Unwesen. Ein finsterer Geselle mit schwarzem Lieferwagen, der Kinder, vornehmlich Buben, von der Straße wegzerrt und schwarze Luftballone am Tatort hinterlässt. Ein Psychopath mit System. So wie Kindermörder M aus Fritz Langs gleichnamigem Klassiker. Eines Tages trifft es den jungen Finney, der ohnehin eine schwere Kindheit mit sich herumschleppen muss. Die Mutter verstorben, der Vater Alkoholiker, in der Schule mobben die Halbstarken. Einzig Schwester Gwen, die in ihren Träumen in die Zukunft sieht, gibt ihm Halt. Als sich Finney jedoch im Keller des bösen Mannes auf sich allein gestellt sieht, läutet ein kaputtes, schwarzes Telefon. Am Apparat: Das Jenseits. Es gilt: Kein Anschiss unter dieser Nummer. 

Klingt extrem gruselig. Ist es aber nur manchmal. Denn, wie schon gesagt, dreht Derrickson den Spieß um. Aus einem paranormalen Horrorfilm im Gewand eines Krimis wird ein durchwegs düsterer, in schmutzig-rostigen Brauntönen gefilmter Entführungsfall, der in seiner desillusionierenden Machart an David Finchers Zodiac erinnert, allerdings durchsetzt mit paranormalen Elementen. Peter Jacksons Jenseits-Thriller In meinem Himmel mit Saoirse Ronan kommt ebenfalls hin, nur bleibt von bunten Seifenblasen und einer CGI-Wunderwelt nichts mehr übrig. Derrickson macht auf Aktenzeichen XY ungelöst, bleibt puristisch, ungeschönt und karg. Ethan Hawke, dessen Verhalten mit keinerlei psychologischen Erklärungen untermauert wird und der als finsteres wie plakatives Abziehbild eines vorsätzlichen, allerdings auch recht generischen Verbrechers seine wohl böseste Rolle verkörpert, kaspert bedrohlich durchs Halbdunkel. Ein gesichtsloses Schreckgespenst, vor welchem Kinder wie vorm schwarzen Mann händeringend vor die Knie gehen oder sich hinter dem Rockzipfel der Mutter verstecken, wäre sie hier.

Doch all diese Gestalten, bösen Männer und Psychopathen, die sollen zum Teufel gehen. Das ist dort, wo die Geister in diesem Film nicht sind. Wenn Finney seine Tipps von all jenen erhält, die der Grabber über die Klinge springen ließ, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man Finney und seine Schwester, die durch ihre Träume versucht, ihren Bruder zu finden, im Stillen anfeuert. Dabei zeigt Derrickson viel Mitgefühl für seine Protagonisten und entwirft mit ruhiger Hand ein Szenario des morbiden, leisen Schreckens hinter und vor verschlossenen Türen – aber auch einen so beharrlichen wie berührenden Siegeszug der Verlorenen, die nicht umsonst gestorben sein wollen.

Kinder sind zäh. Lassen sich kaum unterkriegen oder brechen. Sind resilienter als Erwachsene und greifen auf ein Spektrum helfender Imaginationen zurück, die entweder eine ganz neue, irreale Welt erzeugen – oder mit einer existierenden, verborgenen Dimension in Verbindung treten. Und: Sie haben einen langen Atem. Alles Dinge, womit das Böse nicht rechnen will. Und zwar aus reiner Überheblichkeit.

The Black Phone

My Son

VOM VATER, DER NIE DA WAR

6/10


myson© 2021 Metropolitan Film Export


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN, DEUTSCHLAND 2021

BUCH / REGIE: CHRISTIAN CARION

CAST: JAMES MCAVOY, CLAIRE FOY, TOM CULLEN, GARY LEWIS, MICHAEL MORELAND U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Wie hieß die deutsche Comedyserie doch gleich? Ach ja, willkommen in der Schillerstraße! Sämtliche Spaßmacher, von Cordula Stratmann über Ralf Schmitz bis Dirk Bach durften da auf Anweisung eines Moderators zu teilweise wirklich absurden Regieanweisungen ihren Text und ihr Schauspiel improvisieren. Aber Achtung: das ganze musste in den Kontext passen. Gerne lässt sich sowas auf rustikalen Sommerbühnen auch als Stegreif bezeichnen. Kein Text also, dafür aber den roten Faden wie auch immer im Blick behaltend.

Jung-Professor-Xavier und Shyamalan-Psychopath James McAvoy hatte da eine ähnliche Herausforderung angenommen, nur gibt’s bei ihm rein gar nichts zu lachen. Er übernimmt die Rolle eines desperaten, jedoch bei seinem Nachwuchs recht wenig präsent gewesenen Familienvaters im Thrillerdrama My Son, dem Remake eines französischen Originals aus dem Jahre 2017 unter der Regie von Christian Carion. Den Herrn kennt man womöglich aufgrund seines Weltkriegsdramas Merry Christmas mit Diane Kruger und Daniel Brühl. Mit My Son wird vielleicht deshalb im selben Atemzug miterwähnt werden, weil er James McAvoy drehbuchtechnisch von der Leine gelassen hat. Wüsste man diesen Umstand aber nicht, würde man auch nicht zwingend auf die Idee kommen, dass hier irgendetwas anders wäre. Zumindest nicht so sehr anders.

Die überschaubare Story hat Carion selbst verfasst und lässt sich auch in zwei Sätzen problemlos umschreiben: Der elfjährige Sohn eines getrennt lebenden Ehepaares – Clair Foy und eben James McAvoy – verschwindet während eines Aufenthalts in einem Feriencamp irgendwo in den schottischen Highlands scheinbar spurlos. Alles sieht nach Kidnapping aus, die Eltern sind verzweifelt, beteiligen sich an Suchaktionen und gehen der Sache gar selbst nach. Auf diesem Wege geht der Vater eine Spur zu weit, als er den neuen Lover seiner Ex verdächtigt und mit dieser Einschätzung nicht hinterm Berg hält. Seltsamerweise macht auch die Polizei einen Rückzieher, was bedeutet, dass Mama und Papa auf sich allein gestellt sind. Die große Spurensuche hebt an, was den recht eifrig aufspielenden James McAvoy immer mehr aus der Reserve lockt.

Allerdings ist dann, wenn es wirklich spannend wird, keine Zeit mehr dafür, große Worte zu finden. Gegen Ende gelingt My Son zumindest über mehrere Minuten hinweg, das Katz- und Mausspiel eines Films wie Don’t Breathe nachzuahmen und für flachatmende Spannung zu sorgen, die gänzlich ohne Worte auskommt, da alles andere als Schleichen und Schweigen in Momenten wie diesen wirklich nicht gefragt ist. Zu diesem Herzstück des soliden Kriminaldramas kommt man als Zuseher allerdings auf Umwegen, und da ich vorhin schon bemerkt habe, dass zwar alles an diesem Film ganz normal erscheint, aber irgendetwas doch nicht stimmt, dann liegt das womöglich an McAvoy höchstpersönlich, der sich anfangs bemüht, aus der hirneigenen Improvisationsmühle einen schlagfertigen verbalen Support zu leisten. Wird schon, denkt man sich, und da wartet man und sieht zu, wie er mit kleinen, situationsangepassten Floskeln seine Rolle auf die Spur bringt. Ja klar, es wird schon. Claire Foy und all die anderen beteiligten Rollen hätten ja auch improvisieren können – wie wäre der Film dann wohl geworden? Vielleicht hätte sich McAvoy nicht so im Stich gelassen gefühlt, so ganz ohne Skript. Dann hätten sich wohl alle wohl gegenseitig etwas besser gepusht. Und vielleicht wären ihnen dann auch ein paar Hänger in Sachen Plausibilität aufgefallen. Wenn sie dann noch die Freiheit gehabt hätten, auch den Plot entsprechend umzukrempeln, wär‘s womöglich zu viel der Anarchie, aber reizvoller gewesen.

My Son

Windfall

ALL WE CAN DO IS SIT AND WAIT

4/10


windfall© 2022 Netflix


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: CHARLIE MCDOWELL

SCRIPT: CHARLIE MCDOWELL, JASON SEGEL, JUSTIN LADER

CAST: JASON SEGEL, LILY COLLINS, JESSE PLEMONS, OMAR LEYVA

LÄNGE: 1 STD 32 MIN


Ein Bungalow wie auf Ibiza. Fehlt nur noch die Nichte des Oligarchen. Und ein paar Blaue. Aber heute gibt’s die nicht. Heute scheint es ein heißer Tag an irgendeinem Wochenende irgendwo in Kalifornien zu sein. Ich muss zugeben: ein adrettes Setting für das, was sich hier gleich abspielen wird. Nämlich Suspense der alten Schule. Das zumindest vermittelt mir das bewusst im Stile der 50er Jahre gehaltene Intro, begleitet durch einen pompösen Score, der scheinbar einen Film Noir verspricht. Vielleicht so etwas, wie es vor kurzem Guillermo del Toro fabriziert hat. Ganz klar scheint sich Windfall (was so viel bedeutet wie Glücksfall oder Fallobst – ich denke, man darf sich das aussuchen) der Versatzstücke eines mysteriösen Kammerspiels zu bedienen, das von Leidenschaften, Intrigen und verschütteten Geheimnissen handelt. Mit dabei: ein illustrer Cast. Ex-HIMYM-Knallcharge Jason Segel als Tagedieb im wahrsten Sinne des Wortes, die zarte Lily Collins und der in welchen Rollen auch immer stets souveräne und undurchschaubare Jesse Plemons. Er und Lily Collins geben ein steinreiches Ehepaar, da Plemons sowas wie den im Geld schwimmenden CEO einer einflussreichen Firma darstellt, die sich mit dem einen oder anderen Patent womöglich gesundgestoßen hat. Aus Lust und Laune und gegen ihre Agenda beschließen beide, eingangs erwähnte Villa aufzusuchen, um mal auszuspannen von dem ganzen Dasein als Kapitalsieger. Die Rosen für die Gattin hat die Dienerschaft allerdings vergessen, was den CEO bereits sauer aufstößt. Noch unangenehmer wird’s, als Collins einen Einbrecher inflagranti erwischt. Der wollte gerade gehen, doch plötzlich haben wir eine waschechte Home-Invasion mit zwei Geiseln, die nichts lieber sehen würden, als dass der lange Lulatsch von dannen zieht, von mir aus auch mit dem Geld aus der Kaffeekassa, was immerhin mehrere tausend Dollar ausmacht. Als Jason Segels Gelegenheitsbandit bereits wieder ins Auto steigt, wird ihm klar, dass er und sein fahrbarer Untersatz die ganze Zeit überwacht wurden. Also wieder zurück durch den Orangenhain, um die reichen Herrschaften dazu zu bringen, die Aufnahmen zu löschen.

Und dann sitzen sie alle drei herum. Der Täter und die Opfer, an einem glutheißen Nachmittag auf der Veranda. Und warten. Auf noch mehr Geld, damit Segel untertauchen kann. Es vergeht der Tag, es wird Nacht, dann wird es wieder Tag. Das Ensemble sitzt, steht und liegt immer noch herum, und was sie von sich geben, hat weder immens viel zu bedeuten noch bringt es die Handlung voran. Regisseur Charlie McDowell lässt den Boliden im Leerlauf tuckern – ein gurgelnder Klang, aber nichts, womit sich demnächst von A nach B kommen lässt. Sehr bald frönt das ironische Krimidrama einem Müßiggang, der, durch das Warten und Harren auf jenen Moment, in der die angespannten Sommertage zu einem Ende kommen, alles andere als erquickend ist. Wir kennen dieses Gefühl – wenn der Flieger sich verspätet oder das Computerprogramm gerade nicht hochfährt. Währenddessen lassen sich auch andere Dinge tun, nämlich Konversation betreiben oder ein Buch lesen. Doch das ist nur zu Überbrückung, weil man ja schließlich etwas ganz anderes machen möchte und alle Ambitionen auf dieses eine Ziel gerichtet sind. Insofern steckt Windfall so lange in einer enervierenden Zwischendimension, bis am Ende die Freiheit wie ein ersehnter Tropfen Wasser auf die trockenen Lippen perlt. Aus diesem Blickwinkel lässt sich der müde Krimi als Gleichnis für eine Potenzierung für etwas sehnlichst Erwünschtes betrachten, das man am Ende doppelt oder dreifach erfüllt haben will. Aber seht selbst. Oder besser: wartet bis zum Schluss.

Windfall