Taktik (2022)

DAS BÖSE FÜR DUMM VERKAUFEN

7/10


taktik2© 2022 Einhorn Film


LAND / JAHR: ÖSTERREICH 2022

BUCH / REGIE / PRODUKTION: HANS-GÜNTHER BÜCKING, MARION MITTERHAMMER

KAMERA: HANS-GÜNTHER BÜCKING

CAST: HARALD KRASSNITZER, SIMON HATZL, MARION MITTERHAMMER, MICHAEL THOMAS, ANOUSHIRAVAN MOHSENI, MICHOU FRIESZ, BOJANA GOLENAC, DANIELA GOLPASHIN, FLORIAN SCHEUBA U. A. 

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Hätte Karl Markovics in Elisabeth Scharangs Aufarbeitungs-Justizdrama Franz Fuchs – Ein Patriot nicht diesen Briefbomber gespielt – die Rolle hätte auch Harald Krassnitzer übernehmen können. Doch mittlerweile braucht man dieser möglichen Alternativbesetzung nicht nachweinen, mittlerweile hat der österreichische Tatort-Kommissar eine ganz andere Rolle zu seiner schauspielerischen Sternstunde gemacht, nämlich jene des Schwerverbrechers und erfahrenen Geiselnehmers Aloysius Steindl. Wie jetzt? Krassnitzer wechselt die Seiten und macht auf schlimmen Finger? Stimmt – und das Beste dabei: es gelingt ihm prächtig. Förderlich mag sein, dass die Figur des Kriminellen keinen Charakter vom Reißbrett aufpickt, sondern einen letztjährig verstorbenen Bankräuber und Mörder, dem nicht nur ein tatsächlicher Ausbruch aus dem Gefängnis im niederösterreichischen Stein beinahe gelungen wäre, sondern welcher vor allem durch eine Geiselnahme im Lebensmittelladen der Haftanstalt Karlau unrühmliche Bekanntheit erlangt hat. Die Rede ist von Adolf Schandl, der im November 1996 beschloss, mit zwei weiteren Mithäftlingen – einem Zuhälter (Seidl-Liebling Michael Thomas schüttelt den ekelhaften Superprolet nur so aus dem Ärmel) und einem palästinensischen Terroristen aus dem Libanon – unter Geiselnahme unbefristeten Freigang zu erpressen. Das hätte mit selbstgebastelten Bomben geschehen sollen, die in PET-Flaschen an drei Frauen geschnallt waren, die sich leider Gottes zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten. Würde man in Kürze aber rund 8 Millionen Schilling und einen Flucht-Helikopter sein eigen nennen dürfen, hätten die Damen natürlich nichts zu befürchten. Der Umstand, dass Verbrecher oftmals nicht wenig Eitelkeit besitzen, kommt dem Verhandler Eduard Hamedl zugute, im Film dargestellt von Simon Hatzl und unter neuem Namen Fredi Hollerer. Der legt eine spezielle Art von Taktik an den Tag und lässt den Kopf der Bande glauben, wirklich bewundert zu werden. Hollerer selbst nimmt dabei eine Rolle ein, die bereits Inspektor Columbo stets erfolgreich praktiziert hat. Nämlich jene, selbst unterschätzt zu werden, damit sich manch Täter in Sicherheit wiegt. Kurz: Er markiert den naiven Idioten. Und Aloysius Steindl, der wird ihm auf den Leim gehen.

Wie Harald Krassnitzer die Führung behält und sich von Hatzl umschmeicheln lässt, ist großes Kino. Im erdfarbenen Retro-Look, Schnauzbart und Krankenkassenbrille erscheint dieser Steindl als redseliger Opa von nebenan, hat’s aber faustdick hinter den Ohren und gewährt nicht selten Einblicke in eine kranke, psychopathische Seele, die zu allem möglich wäre – würde man sie provozieren oder in eine Ecke drängen. Der von seinen Kollegen völlig unverstandene Hollerer tut genau das nicht – und zögert durch sein einlullendes Gerede die von den Verbrechern erpressten zwei Stunden immer weiter hinaus. In der Enge der kleinen Greißlerei hingegen zieht im Vakuum zwischen Macht und Ohnmacht die aus der Langeweile des Wartens und aufgestauten Aggressionen geborene Willkür seine chaotischen Bahnen und offenbart sich in körperlichen wie psychischen Erniedrigungen der Geiseln, die ähnlich zum Handkuss kommen wie seinerzeit manch Strafgefangener in Abu Ghraib. Diese Damen aber, man möchte es fast nicht glauben, haben trotz sichtbarem Grenzgang einen fast längeren Atem als die Verbrecher selbst. In der Erduldung liegt ihre Kraft, während die bösen Buben langsam ihre Kraft verlieren. Und dennoch bleibt nichts an dem Film so faszinierend wie die taktische Zermürbung Harald Krassnitzers, der bis zuletzt nicht merkt, wie sehr er manipuliert wird, da die Überhöhung des eigenen Ichs blind macht für psychologische Kriegsführung. Dass die Polizeikollegen Hollerers das selbst nicht überreißen, ist weniger glaubhaft, denn man muss nicht vom Fach sein, um Simon Hatzls siebensüße Tarnung nicht zu verstehen.

Taktik, auf Basis wahrer Ereignisse geschrieben und inszeniert vom Ehepaar Hans-Günther Bücking und Marion Mitterhammer, die auch die weibliche Hauptrolle spielt und die sich als Greißlerin Gabi Pichler fast schon vor Angst übergeben muss (verstörend mitanzusehen), hat als Kammerspiel ganz besondere Dialogmomente zu verbuchen, bleibt spannend und fällt fast in die Kategorie Telefonfilm, wie No Turning Back, Nicht auflegen! oder The Guilty welche sind. Der periphere dramaturgische Zusatz wie zum Beispiel Florian Scheubas halbgares Cameo fällt für das Kernstück des Films dabei kaum unterstützend ins Gewicht. Doch zum Glück hat der eigentliche Nervenkrieg sowieso keine dringende Verwendung dafür.

Taktik (2022)

Der denkwürdige Fall des Mr Poe

VERRÄTERISCHE HERZEN UND BLASSBLAUE AUGEN

4,5/10


The Pale Blue Eye© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: SCOTT COOPER

BUCH: SCOTT COOPER, NACH EINEM ROMAN VON LOUIS BAYARD

CAST: CHRISTIAN BALE, HARRY MELLING, GILLIAN ANDERSON, LUCY BOYNTON, CHARLOTTE GAINSBOURG, TOBY JONES, TIMOTHY SPALL, HARRY LAWTEY, ROBERT DUVALL U. A.

LÄNGE: 2 STD 8 MIN


„Wer auch immer dieser armen Seele das Herz entwendet hat, es muss ein Poet gewesen sein.“ Ungefähr so ähnlich erklingen Edgar Allan Poes erste Hinweise, die er für den längst außer Dienst befindlichen Polizeiinspektor Augustus Landor bereithält. Ein Herz hat mehr Bedeutung als nur die eines kräftigen Muskels, der das Blut durch die Venen pumpt. Ein Herz ist dem Organischen längst erhaben, es geht mit Kummer, Seele und dem Intuitiven einher. Augustus zeigt sich interessiert, wenn auch etwas skeptisch. Und dann ist da bald diese Verbundenheit unter dem Deckmantel der geheimen Ermittlung. Und ehrlich gesagt: Mit wem würde man nicht lieber Gräueltaten wie diese unter die Lupe nehmen als mit einem, der später für seine Schauerromane und Gruselgeschichten berühmt sein wird, die wie beim späteren P.H. Lovecraft tief in die Dimensionen der Angst, Paranoia und Panik eintauchen?

Scott Cooper, zuletzt mit dem mythologischen Horrorstreifen Antlers unterwegs, der sich mit der legendären Gestalt des Wendigo beschäftigt, hat nun dem Roman The Pale Blue Eye von Louis Bayard atmosphärische, schaurig-romantische Winterbilder verpasst. Schon zu Beginn müht sich ein recht mitgenommener und zerzauster Christian Bale mit schwarzem Mantel und Zylinder durch den Schnee. Nicht weit davon entfernt könnte Sleepy Hollow liegen. Wir schreiben das Jahr 1830, es ist das Zeitalter des Okkulten und einer ausgeprägten Neugier für das Jenseits sowie allen Entitäten, die es bis in unsere Welt schaffen. Es müsste mehr vorhanden sein als das, was sich sehen und hören lässt. Und auch Edgar Allan Poe, damals noch Kadett an einer Militärakademie, kann sich mit diesen Vermutungen in Bezug aufs Transzendente ganz gut anfreunden. Ein obskurer Selbstmord wie jener des Kollegen Fry kommt da ganz gelegen. Der wird nämlich eines Nachts an einem Baum erhängt aufgefunden, dabei wurde ihm postmortal das Herz entfernt. Wer macht denn sowas, stellt sich Landor die Frage. Poe hilft ihm, diese zu beantworten.

Wie Harry Melling, ehemaliges Ekelpaket Dudley Dursley aus den Harry Potter-Filmen und diesem Image längste Zeit entwachsen, die Figur des versponnenen und psychisch höchst labilen Sonderlings anlegt, ist das einzige Denkwürdige an einem Historienkrimi, der viel zu oft an seiner eigenen Inszenierung ermüdet. Die Gestalt des werdenden Poeten allerdings, in Filmen sehr selten bis gar noch nie verkörpert, gelingt Melling ausgezeichnet. Sowohl in überhöhter Exaltiertheit und wortgewandt als auch verängstigt und mit starker Affinität zum Morbiden – der in seiner Rolle geschickt balancierende Schauspieler mit den markanten Gesichtszügen hat überdies mit dem historischen Poe so ziemliche Ähnlichkeiten, mit Ausnahme des späteren Schnauzers. Es wäre im Nachhinein besser gewesen, man hätte eine tatsächlichen Biographie von Poe verfolgt statt nur eine fiktive, sich dahinschleppende Kriminalgeschichte mit vielen verheizten Gaststars, die zu viele Biographien in den Vordergrund stellt und auch dem Kommissar – routiniert und mitunter manchmal gelangweilt dargestellt von Christian Bale – eine vergangene Tragödie an den Leib schreibt, mit der er hadern muss. Und wir mit ihm.

Der denkwürdige Fall des Mr Poe scheint, die einzelnen Elemente für sich genommen, anfangs durchaus reizvoll, hat aber in Summe zu viele Leerläufe, um nur auf Atmosphäre setzen zu können. Die wäre ja prinzipiell vorhanden, auch das ganze Setting stimmt. Doch letzten Endes schwelgt Cooper in gepflegter Langeweile, und der Zuseher blickt genauso übernachtig durch die Wäsche wie Bales Figur das manchmal tut.

Der denkwürdige Fall des Mr Poe

Amsterdam

DREI MUSKETIERE GEGEN DEN FASCHISMUS

7/10


AMSTERDAM© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: DAVID O. RUSSELL

CAST: CHRISTIAN BALE, JOHN DAVID WASHINGTON, MARGOT ROBBIE, ZOE SALDANA, RAMI MALEK, ANYA TAYLOR-JOY, MICHAEL SHANNON, MIKE MYERS, CHRIS ROCK, ROBERT DE NIRO, MATTHIAS SCHOENAERTS, ANDREA RISEBOROUGH, TAYLOR SWIFT, TIMOTHY OLYPHANT, ALESSANDRO NIVOLA U. A.

LÄNGE: 2 STD 14 MIN


Angekündigt war David O. Russells stargespickter Historienfilm bereits diesen Spätsommer in unseren Wiener Kinos. Angesichts der Fülle an bekannten Gesichtern wäre Amsterdam sowieso ein Must-See gewesen. Schon allein Christian Bale als ausgemergelter Veteran des ersten Weltkriegs mit Glasauge hätte ein Kinoticket wert sein sollen. Und dann versprach der knappe Einblick sogar noch Margot Robbie und den für mich einzig wahren James Bond-Nachfolger, nämlich John David Washington. Michael Shannon hätte sich die Ehre gegeben, Anya Taylor-Joy, Zoe Saldana und der wie immer hinter seinem Make Up verborgene Mike Myers. Nicht zu vergessen: Altstar Robert de Niro, diesmal nicht als Dirty Grandpa. Kurzum: Amerikas Stars in einer uramerikanischen Nachkriegssatire rund um eine politische Verschwörung, die in Ansätzen tatsächlich so stattgefunden haben soll. Man möchte sich kaum vorstellen, hätten diese Revoluzzer es geschafft, nach dem Vorbild Nazi-Deutschlands und des faschistoiden Italiens unter Mussolini eine ähnlich radikale Diktatur zu errichten. Doch die Geschichte hat uns gelehrt: So kam es nicht. Genauso wenig wie die Auswertung des epischen, prall ausgestatteten Schinkens für die Leinwand.

Grottenschlecht sollen die Kritiken für Amsterdam vorab gewesen sein. Niemand jenseits des Atlantiks hätte sich daraufhin für den Film interessiert. Da hatten sogar all die bekannten Gesichter den Karren keinen Zoll weit aus dem Schlamm hieven können. Amsterdam wurde zum teuren Murks – und verschwand auf Nimmerwiedersehen von den Programmagenden der europäischen Kinos. Einige Monate später dann das: Russels Streifen erscheint als Streaming-Perle auf Disney+. Für all jene, die sich gerne selbst ein Bild von einem Film machen wollen, der keine Chance aufs Überleben hat und womöglich bei den diesjährigen goldenen Himbeeren abstauben wird müssen, allein schon aufgrund des von der Publicity gesteuerten, wenig schmeichelnden Richtungsdrangs. Die eigene Meinung, die hätte ich mir so oder so bilden wollen. Natürlich auch im Kino. Jetzt eben in den eigenen vier Wänden, mit Ausblick auf ein braun getünchtes Babylon New York der Dreißigerjahre, voller Untergrund, Intrigen und Bündnisse, deren Reichweiten aufgrund bedachter Vernetzung bis in alle Kreise langt. Dabei passiert es, dass der eine oder die andere, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder nachkriegerischer Verschwörungen gerät, wiederum andere, die in ihrer Moral und sozialer Verantwortung dank ihres Korsetts noch aufrecht stehen können, hellhörig werden lässt. Einer dieser Veteranen ist Burt Berendsen, ein knorriger Arzt mit Glasauge und besagter Leibesstütze, der gemeinsam mit seinem Buddy aus dem Krieg, Advokat Harold Woodman, Versehrten sowohl rechtlich als auch medizinisch unter die Arme greift. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: Einer dieser Fälle, die Obduktion eines plötzlich verstorbenen Armeegenerals Bill Meekins, wird zutage bringen, dass es sich hierbei um Giftmord gehandelt hat. Als die Tochter des Verblichenen kurz davorsteht, die Sache öffentlich zu machen, stirbt auch sie. Berendsen und Woodman sind von da an auf der Flucht, wird doch ihnen die Straftat in die Schuhe geschoben. Und während sie so durch die dunklen Gassen einer vergangenen Großstadt koffern, versuchen sie gleichermaßen, sich zu rehabilitieren. Dabei kommt ihnen das Auftauchen jener Vertrauten und Freundin gelegen, die sich damals, mit den beiden, in Amsterdam Marke Drei Musketiere auf eine lebenslange Zweckgemeinschaft eingeschworen hat.

Amsterdam ist ein Film, der diesen feisten Abwärtsdaumen nicht verdient hat und maßlos unterschätzt wird. Vielleicht deshalb, weil er seine Story relativ langsam erzählt und seinen Schwerpunkt weniger auf das Aufdecken der faschistoiden Machenschaften legt, sondern vielmehr auf die besondere Freundschaft dreier grundverschiedener Lebenskünstler, die mit Rückblenden aus dem Ersten Weltkrieg auf die Entstehung selbiger eingeht. Die kleinen, feinen Szenen, geschmackvoll ausgestattet und getextet, ufern nie in pathetische Dramatik aus. Es werden selten Leute auf offener Straße erschossen, wie in Sergio Leones Es war einmal in Amerika. Es geht nicht um Rache und Eifersucht und Missgunst, die sich in emotionalen Showdowns entlädt. Amsterdam hat das alles gar nicht. Das originell konzipierte Werk bleibt augenzwinkernd, jovial und ironisch. Und genießt dabei die Performance von Christian Bale in jeder Einstellung, der den hilfsbereiten, selbstlosen und gutmütigen Kriegsheimkehrer mit einnehmender Sympathie verkörpert. Diese Figur hat Tiefe, Licht und Schatten gleichermaßen. Ist so greifbar wie das Absonderliche eines eigenen, verschrobenen Onkels, der aber trotz seines Auftretens scharfsinnig wie kaum ein anderer bleibt. Fast schon wie die Gestalt eines gewitzten Inspektor Columbo, der für Bales Figur ein Bruder im Geiste des Glasauges bleibt. Dabei bieten Washington und Margot eine nicht weniger formidable Rückendeckung.

Amsterdam atmet die Aufbruchsstimmung und die Umbruchsstimmung des frühen 20. Jahrhunderts, wie die Sky-Hitserie Babylon Berlin. Ein neuer Krieg war da kaum noch denkbar, fast unmöglich. In dieser Erschöpfung findet Amsterdam auch seine entspannte, allerdings dialoglastige Kraft, und es mag fast sein, dass dieses an ein posthum entdecktes Werk Billy Wilders erinnernde Schaulaufen den Film über seine Erzählstränge stolpern lässt. Trotz der Wortgewalt und der scheinbar vielen, gedehnten Szenen gelingt O. Russell, die Übersicht zu bewahren. Ist man mal mittendrin, in dieser Amsterdam-Verschwörung, bleibt man gerne dran – bis zum mit Spannung erwarteten Finale, das einen Staatenbund vor dem Sturz in den Abgrund bewahren wird. Andernorts hat man, wie wir längst wissen, weniger Glück gehabt.

Amsterdam

End of the Road

THE QUEEN IS NOT AMUSED

3,5/10


endoftheroad© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: MILLICENT SHELTON

BUCH: CHRISTOPHER J. MOORE, DAVID LOUGHERY

CAST: QUEEN LATIFAH, BEAU BRIDGES, LUDACRIS, MYCHALA LEE, SHAUN DIXON, JESSE LUKEN, FRANCES LEE MCCAIN, TABATHA SHAUN U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Wenn man in den USA Überland unterwegs ist und dabei in einem Motel übernachten muss, gilt als erste Regel: Mische dich niemals – ich wiederhole: niemals – in Angelegenheiten der Zimmernachbarn ein. Auch wenn sich diese lautstark zu irgendwelchen Handgemengen hinreissen lassen, die noch dazu das Ableben eines der Streitenden nach sich ziehen. Die zweite Regel besagt: Auch wenn es den Anschein hat, dass die Querelen nebenan nun vorbei sind und dort niemand mehr aufzufinden ist: Gehe niemals dort hinein und schnüffle am Tatort rum. Und die dritte Regel – obwohl man davon ausgehen sollte, dass niemand so bescheuert sein sollte, diese wirklich und wahrhaftig zu brechen: Nimm, nachdem du Regel zwei schon gebrochen hast und sowieso alles egal ist, zumindest nichts mit, was nicht dir gehört. Auch – oder gerade, wenn es Millionen an Dollars sind, die in einer Tasche unterm Waschbecken ihrer Abholung harren. Diese Millionen lässt niemand so einfach stehen. Schon gar nicht jemand, der den Vorbesitzer dieses Trageutensils in die ewigen Jagdgründe geschickt hat.

Nun, so viel bei Verstand sollte zumindest jeder sein, der bis zehn zählen kann. Ist er aber nicht. Da gibt es den naiven Reggie (Rapper Chris „Ludacris“ Bridges), ein Ex-Knastbruder, der gemeinsam mit seiner älteren Schwester Brenda (Queen Latifah), seiner Nichte und seinem Neffen unterwegs ist zu deren Mutter, um neu anzufangen. Die Fahrt ist lang, und ohne Sleepover wird’s nicht gehen. Und siehe da: Die Nacht bringt eingangs erwähnte Unruhen mit sich. Und siehe da: der naive Reggie bricht Regel Nummer drei und schnappt sich, ohne dass die anderen es wissen, die Tasche voller Geld. Was folgt, sind Komplikationen, die entstehen, wenn man sich unter den Nagel reisst, was einem nicht gehört. Bares in Taschen ist meist unrechtmäßiges Eigentum von Verbrechern, die auch nicht zögern, Gewalt anzuwenden. In End of the Road kommt es, wie es kommen muss. Zum Glück aber haben sie einen kauzigen Sheriff in Gestalt von Beau Bridges an ihrer Seite, den genauso gut Clint Eastwood oder gar Liam Neeson hätten spielen können. Behäbig, jovial, und im Bilde, wenn es um gesetzliche Schieflagen geht.

Um diese flüchtenden und jagenden Figuren weht der Staub eines unerbittlichen New Mexiko. Die Einschicht und Isolation dieses Landstriches, der Hang zur Anarchie, die Gesetzlosigkeit, wie sie schon Steven Spielberg in seinem Duell bestens beschrieb, und die schon der Roadmovie-Thriller Joyride knackig formuliert hat, trägt auch in End of the Road von Millicent Shelton dazu bei, die Anzahl an Möglichkeiten, um aus dieser Sache schadlos herauszukommen, drastisch zu reduzieren. Wäre Queen Latifah nicht, die als Big Mama ordentlich auf den Putz haut und auch gleich einem ganzen Dutzend stiernackiger Nazis zeigt, wo die mütterlichen Instinkte herkommen, wäre der auf Netflix erschienene Durchreise-Thriller ein dramaturgischer Kolbenreiber mitten auf dem Highway.

Doch es kommt kein Hitcher, es kommt kein Truck, es kommt, wie man befürchtet hat, dass es nicht kommen soll. End of the Road bedient sich stereotypischen Story-Twists, die so abgenützt sind, dass sie jeglichen Suspense vermissen lassen. Die so konstruiert sind, dass sich selbst Millicent Shelton (die leider nicht das Script selbst schrieb) am Ende gar nicht mehr bemüht, ihren Film sorgfältig auszuerzählen. Und Queen Latifah? Nun, sie tut, was eine verzweifelte Mutter eben tut, um es allen recht zu machen. Selbst ihrem trotteligen jüngeren Bruder, den man eigentlich durch Sonne und Mond schießen sollte.

End of the Road

Lou

ALWAYS TAKE THE WEATHER WITH YOU

5/10


Lou© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: ANNA FOERSTER

BUCH: MAGGIE COHN, JACK STANLEY

CAST: ALLISON JANNEY, JURNEE SMOLLETT, LOGAN MARSHALL-GREEN, RIDLEY ASHA BATEMAN, MATT CRAVEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 49 MIN


Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung. Wenn’s mal regnet, dann hat das durchaus auch was für sich. Ganz besonders, wenn man durch den Wald wandert, selbst gar nicht mal so nass wird aufgrund eines dichten Blätterdachs und sich vom Geräusch der aufklatschenden Regentropfen auf allerlei Blattwerk einlullen lassen kann. Doof nur, wenn man für all das keine Zeit hat und einen Kidnapper erwischen muss, der gerade zum ungastlichsten Sauwetter, das man sich nur vorstellen kann, die Nachbarstochter entführt. Gut, dass man selbst das Richtige gelernt hat – nämlich allerlei Methoden, wie unliebsame Gesellen aus dem Weg geräumt werden können. Dieser jemand mit solchen Skills ist Allison Janney. Sie gibt Lou, eine eigenbrötlerische und recht unfreundliche Person, die sich scheinbar nur um ihren eigenen Kram kümmert und für sonst niemanden irgendein höfliches Wort auf den Lippen trägt. Wenn Mutter und Tochter, die bei ihr auf ihrem Grundstück zur Untermiete leben, dann nicht rechtzeitig das Geld rüberwachsen lassen, kann’s schon mal ruppig werden. Bei Kidnapping hört sich der Spaß jedoch auf, und in eben jener verregneten Nacht klopft es an Lous Tür – gerade dann, wenn diese ihrem Leben ein Ende setzen will. Die Dame mag zwar unfreundlich sein, aber nicht herzlos und macht sich mit der verzweifelten Mutter auf die Suche nach deren Ex, der, angeblich verblichen, von den Toten wieder auferstanden zu sein scheint und sein väterliches Recht fordert.

In dieser nasskalten Botanik auf Orcas Island im äußersten Nordwesten der USA ernennt Anna Foerster (Westworld, Underworld: Blood Wars) Allison Janney zum weiblichen Liam Neeson. Als jemand, der nichts mehr von der Welt wissen will, ein Leben gelebt hat und auch alles bereut, was so passiert ist, scheint die Figur der Lou perfekt in dieses Bild der einsamen Frau fürs Grobe zu passen, die durchtrainierten männlichen Bösewichten nicht nur das Wasser, sondern auch die zur Waffe umfunktionierte Konservendose reichen kann. Da staunt man nicht schlecht über die gute Knochendichte von Janneys Antiheldin, die sich auch nach mehrmaligem Herumschleudern aus den Trümmern stemmt und immer noch Kraft genug hat, um sich aus kniffligen Situation rauszumorden. Jurnee Smollet kann da nur groß staunen und bibbern vor lauter herbstlicher Kälte. Irgendwann hört aber auch der Regen auf, und auf Regen folgt zwar kein Sonnenschein, aber eine etwas gemäßigtere Witterung. Und mit der gemäßigten Witterung geht auch dem Survivalabenteuer die Luft aus. Die Challenge durchs regennasse Unterholz, die das schlechte Wetter als erschwerende Komponente freudig mit einbezogen hat, kann den Ausnahmezustand später nicht mehr aufrechterhalten. Was bleibt, ist ein Thriller von der Stange, der gerade durch seine bemühten Story Twists auf matschigem Untergrund die Balance verliert. Zumindest wollten die beiden Skriptautorinnen und -autoren einer gewissen Routine entkommen; einem gewissen Schlendrian, der in gefühlt jedem zweiten Actionthriller mittlerweile für Langeweile sorgt. Gut, kann man so sehen. Wirkt zwar etwas konstruiert, aber zumindest spielt die Komponente eines Familiendramas erst gegen Ende ihre verdeckten Karten aus. Erwartet hätte man solche Offenbarungen letztlich nicht. Und sie wären auch nicht notwendig gewesen, hätte die gnadenlose Natur wohl etwas ausdauernder mit der Peitsche geknallt. Im Regen ist alles den gleichen Erschwernissen unterworfen – da hätte man viel mehr daraus machen können, anstatt einen Kreis zu schließen, der gar nicht hätte geschlossen werden müssen.

Lou

I Came By

IM SCHATTEN DES ESTABLISHMENTS

6,5/10


ICameBy© 2022 Netflix Österreich


LAND / JAHR: GROSSBRITANNIEN 2022

BUCH / REGIE: BABAK ANVARI

CAST: HUGH BONNEVILLE, GEORGE MACKAY, PERCELLE ASCOTT, KELLY MACDONALD, ANTONIO AAKEEL, VARADA SETHU U. A.

LÄNGE: 1 STD 50 MIN


Anarcho-Sprayer sind die Erzeuger oft unliebsamer Hinterlassenschaften auf Wänden des öffentlichen Raumes, meist sind es Gang- und Clan-Symbole, manchmal einfach nur ein Pimmel oder unfertiges, wirres Zickzack an Linien, die, wäre man vermutlich nicht erwischt worden, ein Schriftbild abgegeben hätten, das durchaus einen Hingucker wert gewesen wäre. Dann gibt es die Graffiti-Künstler, die Street Art auf ein neues, bereicherndes Level heben – egal, ob in einer Nacht- und Nebelaktion fabriziert oder von liberalen Bezirksvorstehern in Auftrag gegeben. Berühmtester X-Faktor: Banksy. Doch wie wäre es, würden militante-Graffiti-Schreiberlinge einfach in Wohnungen des Establishments einsteigen, um ihre Botschaften zu hinterlassen, die mitunter wäre: Ich war hier, auf gut Englisch: I Came by. Gut, das ist weniger aussagekräftig als Die fetten Jahre sind vorbei, so gesehen in gleichnamigem Film mit Daniel Brühl. Im Suspense-Thriller des britisch-iranischen Autorenfilmers Babak Anvari (u. a. Under the Shadows od. Wounds mit Armie Hammer) schleicht sich der dreiundzwanzigjährige Toby (George MacKay, u. a. 1917) in die Anwesen reicher Bonzen, um diesen mit dem ewig gleichen Schriftzug ihre Verletzbarkeit unter die Nase zu reiben – ihren Tanz auf Messer Schneide, von der man leicht abrutschen kann und in die Arme eines weniger begünstigten Mobs zu gelangen, der die neue Revolution gegen die Kluft in der Gesellschaft anführt. So könnte man es also sehen, braucht dafür aber die Muße, das Ganze entsprechend zu interpretieren.

Wie auch immer – bei einem dieser Einbrüche gelangt Toby im Alleingang in das stattliche Herrenhaus eines pensionierten, allerdings immer noch recht einflussreichen Richters, der im Keller seines Hauses Dinge treibt, die rechtschaffene Menschen wohl schockieren würden. In Panik versetzt, versucht der junge Anarchist, seinen besten Freund dazu zu überreden, im dabei zu helfen, dem distinguierten älteren Herren das Handwerk zu legen. Doch daraus wird nichts: Jay, ehemals straffällig, will sich nicht wieder auf die schiefe Bahn bringen lassen, wird er doch bald Vater. Ein schwerer, aber nachvollziehbarer Fehler: Toby verschwindet spurlos, also muss seine verzweifelte Mutter ran, die über einen längeren Zeitraum versucht, das Geheimnis des verdächtigen Akademikers zu lüften.

Ein Mann, dessen verbrecherisches Tun man nicht beweisen kann, der aber garantiert Dreck am Stecken hat: Eine Art Suspense, die wir von Alfred Hitchcock kennen – bravourös umgesetzt in Das Fenster zum Hof. Bei I Came By wird die vage Vermutung schon bald durch die Gewissheit von Seiten des Zuschauers ersetzt – und dieser staunt nicht schlecht, wenn einer wie Hugh Bonneville, bekannt als Earl of Crawley aus der beliebten Fernsehserie Downton Abbey, trotz seines gefälligen Gehabes und jovialen Schmunzelns dieses auch tragen kann, um das Grauen im Verborgenen anzukündigen. Der elegante Brite gibt alles, um seinen House am Eaton Place-Charme abzulegen und kurvt in Gefilden herum, die ihm genauso gut zu Gesicht stehen. Mit diesem chamäloiden Farbwechsel, den auch Anthony Hopkins beherrscht, könnte Bonneville mit Leichtigkeit Rollen wie die des Hannibal Lecter besetzen. Der akkurate Finsterling, dem man auf den Leim geht, steht dem Briten also genauso gut wie der adelige Patriarch, der sich im goldgelben Licht vergangener Tage sonnt. Dank seiner Ambivalenz trägt der Schauspieler eine Bedrohung in den Film, die bis zuletzt nicht nachlässt. Im Gegenteil: Babak Anvari verzichtet darauf, einen Thriller zu erzählen, der bewährten Muster folgt. Viel mehr gelingt es ihm, die formelhafte Gunst für die Guten in die Kraft des Zufalls und der kompromisslosen Konsequenz zu sublimieren.

Durch weitgehenden Verzicht auf lang ausholende Erklärungen und der Chance, dem Zuseher vieles seinen Vermutungen zu überlassen, bleibt I Came By kaum abgelenkt auf der richtigen Spur, manchmal aber auf Kosten einer plausiblen Logik, die gerade in kleinen Szenen wie dem Knarren von Dielenböden oder lautstarkem Rumoren im Keller jene Konsequenz, die im Plot liegt, nicht übernehmen kann. Das ärgert zwar ein bisschen, andererseits aber ist die Absicht, als Thriller ganz woanders abzubiegen, lobenswert genug, um den Film dennoch zu empfehlen.

I Came By

The Black Phone

WENN DIE TOTEN ZWEIMAL KLINGEN

7/10


The Black Phone
© 2022 UNIVERSAL STUDIOS. All Rights Reserved.

LAND / JAHR: USA 2022

BUCH / REGIE: SCOTT DERRICKSON, NACH EINER KURZGESCHICHTE VON JOE HILL

CAST: ETHAN HAWKE, MASON THAMES, JEREMY DAVIES, JAMES RANSONE, MADELEINE MCGRAW U. A. 

LÄNGE: 1 STD 44 MIN


Wenn Jugendliche im Schulterschluss gegen das Böse kämpfen, kommt einem derzeit natürlich sofort Stranger Things in den Sinn. Wenn nicht Stranger Things, dann zumindest Stephen Kings Es. Der Manifestation panischer Ängste in Gestalt eines zähnefletschenden Clowns konnte Bill Skarsgård unter der Regie von Andrés Musschietti neues Grauen einhauchen, allerdings trieb das Böse hier auf keinem Boden der Tatsachen sein Unwesen, sondern im Genre des phantastischen Horrors. Dort stehen seit jeher unbedarfte, von den Härten des realen Leben noch weitgehend verschonte Kids im Fokus der dunklen Mächte. Denn: Irgendwann zieht irgendwo immer etwas Paranormales ein Kind auf die andere Seite.

Scott Derrickson lässt das Phantastische außen vor. Er probiert es von der anderen Seite. Und krempelt die gesetzte Ordnung von Metaphysischem und Irdischem ordentlich um. Sein Psychothriller The Black Phone zeigt das Böse in Gestalt eines maskierten Mannes, der für jede Situation die richtige Visage hat. In diesem Thriller, der Ende der Siebziger in irgendeiner Kleinstadt spielt (wo sonst?), treibt dieser Grabber sein Unwesen. Ein finsterer Geselle mit schwarzem Lieferwagen, der Kinder, vornehmlich Buben, von der Straße wegzerrt und schwarze Luftballone am Tatort hinterlässt. Ein Psychopath mit System. So wie Kindermörder M aus Fritz Langs gleichnamigem Klassiker. Eines Tages trifft es den jungen Finney, der ohnehin eine schwere Kindheit mit sich herumschleppen muss. Die Mutter verstorben, der Vater Alkoholiker, in der Schule mobben die Halbstarken. Einzig Schwester Gwen, die in ihren Träumen in die Zukunft sieht, gibt ihm Halt. Als sich Finney jedoch im Keller des bösen Mannes auf sich allein gestellt sieht, läutet ein kaputtes, schwarzes Telefon. Am Apparat: Das Jenseits. Es gilt: Kein Anschiss unter dieser Nummer. 

Klingt extrem gruselig. Ist es aber nur manchmal. Denn, wie schon gesagt, dreht Derrickson den Spieß um. Aus einem paranormalen Horrorfilm im Gewand eines Krimis wird ein durchwegs düsterer, in schmutzig-rostigen Brauntönen gefilmter Entführungsfall, der in seiner desillusionierenden Machart an David Finchers Zodiac erinnert, allerdings durchsetzt mit paranormalen Elementen. Peter Jacksons Jenseits-Thriller In meinem Himmel mit Saoirse Ronan kommt ebenfalls hin, nur bleibt von bunten Seifenblasen und einer CGI-Wunderwelt nichts mehr übrig. Derrickson macht auf Aktenzeichen XY ungelöst, bleibt puristisch, ungeschönt und karg. Ethan Hawke, dessen Verhalten mit keinerlei psychologischen Erklärungen untermauert wird und der als finsteres wie plakatives Abziehbild eines vorsätzlichen, allerdings auch recht generischen Verbrechers seine wohl böseste Rolle verkörpert, kaspert bedrohlich durchs Halbdunkel. Ein gesichtsloses Schreckgespenst, vor welchem Kinder wie vorm schwarzen Mann händeringend vor die Knie gehen oder sich hinter dem Rockzipfel der Mutter verstecken, wäre sie hier.

Doch all diese Gestalten, bösen Männer und Psychopathen, die sollen zum Teufel gehen. Das ist dort, wo die Geister in diesem Film nicht sind. Wenn Finney seine Tipps von all jenen erhält, die der Grabber über die Klinge springen ließ, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man Finney und seine Schwester, die durch ihre Träume versucht, ihren Bruder zu finden, im Stillen anfeuert. Dabei zeigt Derrickson viel Mitgefühl für seine Protagonisten und entwirft mit ruhiger Hand ein Szenario des morbiden, leisen Schreckens hinter und vor verschlossenen Türen – aber auch einen so beharrlichen wie berührenden Siegeszug der Verlorenen, die nicht umsonst gestorben sein wollen.

Kinder sind zäh. Lassen sich kaum unterkriegen oder brechen. Sind resilienter als Erwachsene und greifen auf ein Spektrum helfender Imaginationen zurück, die entweder eine ganz neue, irreale Welt erzeugen – oder mit einer existierenden, verborgenen Dimension in Verbindung treten. Und: Sie haben einen langen Atem. Alles Dinge, womit das Böse nicht rechnen will. Und zwar aus reiner Überheblichkeit.

The Black Phone

My Son

VOM VATER, DER NIE DA WAR

6/10


myson© 2021 Metropolitan Film Export


LAND / JAHR: USA, GROSSBRITANNIEN, DEUTSCHLAND 2021

BUCH / REGIE: CHRISTIAN CARION

CAST: JAMES MCAVOY, CLAIRE FOY, TOM CULLEN, GARY LEWIS, MICHAEL MORELAND U. A.

LÄNGE: 1 STD 36 MIN


Wie hieß die deutsche Comedyserie doch gleich? Ach ja, willkommen in der Schillerstraße! Sämtliche Spaßmacher, von Cordula Stratmann über Ralf Schmitz bis Dirk Bach durften da auf Anweisung eines Moderators zu teilweise wirklich absurden Regieanweisungen ihren Text und ihr Schauspiel improvisieren. Aber Achtung: das ganze musste in den Kontext passen. Gerne lässt sich sowas auf rustikalen Sommerbühnen auch als Stegreif bezeichnen. Kein Text also, dafür aber den roten Faden wie auch immer im Blick behaltend.

Jung-Professor-Xavier und Shyamalan-Psychopath James McAvoy hatte da eine ähnliche Herausforderung angenommen, nur gibt’s bei ihm rein gar nichts zu lachen. Er übernimmt die Rolle eines desperaten, jedoch bei seinem Nachwuchs recht wenig präsent gewesenen Familienvaters im Thrillerdrama My Son, dem Remake eines französischen Originals aus dem Jahre 2017 unter der Regie von Christian Carion. Den Herrn kennt man womöglich aufgrund seines Weltkriegsdramas Merry Christmas mit Diane Kruger und Daniel Brühl. Mit My Son wird vielleicht deshalb im selben Atemzug miterwähnt werden, weil er James McAvoy drehbuchtechnisch von der Leine gelassen hat. Wüsste man diesen Umstand aber nicht, würde man auch nicht zwingend auf die Idee kommen, dass hier irgendetwas anders wäre. Zumindest nicht so sehr anders.

Die überschaubare Story hat Carion selbst verfasst und lässt sich auch in zwei Sätzen problemlos umschreiben: Der elfjährige Sohn eines getrennt lebenden Ehepaares – Clair Foy und eben James McAvoy – verschwindet während eines Aufenthalts in einem Feriencamp irgendwo in den schottischen Highlands scheinbar spurlos. Alles sieht nach Kidnapping aus, die Eltern sind verzweifelt, beteiligen sich an Suchaktionen und gehen der Sache gar selbst nach. Auf diesem Wege geht der Vater eine Spur zu weit, als er den neuen Lover seiner Ex verdächtigt und mit dieser Einschätzung nicht hinterm Berg hält. Seltsamerweise macht auch die Polizei einen Rückzieher, was bedeutet, dass Mama und Papa auf sich allein gestellt sind. Die große Spurensuche hebt an, was den recht eifrig aufspielenden James McAvoy immer mehr aus der Reserve lockt.

Allerdings ist dann, wenn es wirklich spannend wird, keine Zeit mehr dafür, große Worte zu finden. Gegen Ende gelingt My Son zumindest über mehrere Minuten hinweg, das Katz- und Mausspiel eines Films wie Don’t Breathe nachzuahmen und für flachatmende Spannung zu sorgen, die gänzlich ohne Worte auskommt, da alles andere als Schleichen und Schweigen in Momenten wie diesen wirklich nicht gefragt ist. Zu diesem Herzstück des soliden Kriminaldramas kommt man als Zuseher allerdings auf Umwegen, und da ich vorhin schon bemerkt habe, dass zwar alles an diesem Film ganz normal erscheint, aber irgendetwas doch nicht stimmt, dann liegt das womöglich an McAvoy höchstpersönlich, der sich anfangs bemüht, aus der hirneigenen Improvisationsmühle einen schlagfertigen verbalen Support zu leisten. Wird schon, denkt man sich, und da wartet man und sieht zu, wie er mit kleinen, situationsangepassten Floskeln seine Rolle auf die Spur bringt. Ja klar, es wird schon. Claire Foy und all die anderen beteiligten Rollen hätten ja auch improvisieren können – wie wäre der Film dann wohl geworden? Vielleicht hätte sich McAvoy nicht so im Stich gelassen gefühlt, so ganz ohne Skript. Dann hätten sich wohl alle wohl gegenseitig etwas besser gepusht. Und vielleicht wären ihnen dann auch ein paar Hänger in Sachen Plausibilität aufgefallen. Wenn sie dann noch die Freiheit gehabt hätten, auch den Plot entsprechend umzukrempeln, wär‘s womöglich zu viel der Anarchie, aber reizvoller gewesen.

My Son

Das Fenster zum Hof

DIE WIEGE DER SUSPENSE

9/10


fensterzumhof© 1954 Paramount Pictures


LAND / JAHR: USA 1954

REGIE: ALFRED HITCHCOCK

BUCH: JOHN MICHAEL HAYES

CAST: JAMES STEWART, GRACE KELLY, THELMA RITTER, WENDELL COREY, RAYMOND BURR, JUDITH EVELYN U. A.

LÄNGE: 1 STD 52 MIN


Alfred Hitchcock wäre stockbesoffen, würde er jedes Mal, wenn ein Film wieder mal Anleihen an seinen Klassiker nimmt, ein Schnapsglas leeren. Wie würde die Welt des Kinos aussehen, hätte es Das Fenster zum Hof, oder, im Original: Rear Window, nie gegeben? Deutlich ärmer, würde ich meinen. Zumindest ein Genre müsste sich mühsam dazu aufraffen, das Spannungsrad neu zu erfinden, während in diesem Universum der feiste Onkel mit dem Doppelkinn und dem Hang zum Cameo-Auftritt seinen Regie-Erben bereits jede Menge Perlen vor die Füße geworfen hat. Die Filmwelt dankt und ereifert sich dabei bis heute, psychisch labile oder viel zu neugierige Normalbürgerinnen und -bürger aus regennassen Fenstern blicken und Dinge beobachten zu lassen, die sie nicht sehen dürften. Denn zu viel Neugier verträgt sich nicht mit der Gesundheit, und wer überdies zu lange in den Abgrund stiert…. alles klar.

Dabei ist dieser James Stewart, der am Fenster sitzt und den ihm zu Füßen liegenden Hof als seine dauerlaufende Flimmerkiste betrachten mag, in keiner Weise psychisch labil. Der Hollywood-Gutmensch ist sogar ziemlich aufgeräumt und selbstbewusst, obwohl er im Rollstuhl sitzt und den ganzen Tag lang nicht viel anderes tun kann als durch das Objektiv seiner Kamera zu blicken und auf den Besuch seiner Geliebten Grace Kelly zu warten. Jawoll – Grace Kelly wirkt hier mit, die leider viel zu früh verstorbene und auch viel zu früh von den Leinwänden verschwundene Schönheit, von der Hitchcock sowieso allnächtlich geträumt haben muss. Das war so ein Faible mit diesen seinen „Blondinen“, über die der König der Suspense nur allzu gerne seinen Zepter erhoben hat.

Auf diese „Blondinen“ war aber Verlass. Egal ob Die Vögel, Vertigo oder Bei Anruf Mord: stets waren sie das ringende Zentrum oder ergiebiger Nebenpart, der den mitunter bedrohlichen Geschichten ausreichend Glamour verliehen hat. In Das Fenster zum Hof sind aber weder Grace Kelly noch James Stewart die Motivatoren einer beängstigenden Story, sondern die vielen kleinen Kniffe eines Professionisten, der weiß, auf welche Art und Weise sich das Kino im Kopf des Zusehers fortsetzen kann.

Die Präsentation des Offensichtlichen ist zumindest gegenwärtig und bei Produktionen, die im Box Office brillieren müssen, gang und gäbe. Das Publikum bekommt kredenzt, ohne sich weiter anstrengen zu müssen. Bei Suspense ist das anders: da gibt es kleine Pusher, visuelle Spitzen, raffinierte Reduktion. Der Zuseher ist voll dabei – weiß nur so viel wie James Stewart, rätselt herum – und fühlt ein dem kalten Schauer verwandtes Unbehagen, wenn in der dunklen Wohnung gegenüber ganz plötzlich ein knisternder, feuerroter Punkt erglüht. Das Anzünden einer Zigarette in der absoluten Finsternis, von welcher man ausgegangen ist, niemanden darin zu vermuten, feiert einen ganzen Film und seine Perfektion. Der einzige Blick nach draußen ist natürlich jener in den Hof und auf das Treiben der Parteien gegenüber, deren Leben bis ins kleinste Detail arrangiert sind – aber auch ein schmaler Streifen belebte Avenue, auf welcher sich abspielt, was Hitchcock will, das gesehen wird, in sekundenlangen Fluktuationen nur, aber maßgeblich für die Handlung. Wenn dann, gegen Ende, bedrohliche Schritte durchs Stiegenhaus schlurfen, würde James Stewart – und wir mit ihm – viel lieber aus dem Fenster springen, als sich einer diffusen Bedrohung auszusetzen, die sich sekündlich zuspitzt, und nur allein aufgrund eines akkuraten Sound-Designs stärker wirkt als all die CGI-Effekte eines ganzen Blockbusters.

Wer Das Fenster zum Hof noch nicht gesehen hat – unbedingt nachholen! In diesem Meisterwerk liegen all die lehrreichen Essenzen für einen vollkommenen Film.

Das Fenster zum Hof

No Exit

MITGEHANGEN, MITGEFANGEN

3,5/10


noexit© 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2022

REGIE: DAMIEN POWER

CAST: HAVANA ROSE LIU, DANNY RAMIREZ, DAVID RYSDAHL, DENNIS HAYSBERT, DALE DICKEY U. A. 

LÄNGE: 1 STD 35 MIN


Schneechaos ist das Beste, was einem Thriller passieren kann. Gut, manchmal reicht auch Regen und Gewitter, denn bei so mieser Witterung will keiner wirklich aus dem Trockenen. In Drew Goddards Bad Times at the El Royale hat’s zumindest geschüttet wie aus Schaffeln, was Chris Hemsworth mit seinen blanken Brustmuckis nicht sonderlich gestört hat. Denn das Wetter ist die Stimmungskanone schlechthin. Da rücken die verbliebenen Insassen zusammen, auch wenn sich diese untereinander fremd sind. Keine Ahnung, was der oder die Einzelne schließlich im Schilde führt oder welchen Rattenschwanz an Lebensbeichten herumgeschleppt werden muss. In Quentin Tarantinos Hateful Eight ist das Schneechaos, ähnlich wie in vorliegendem Film No Exit, der Schraubstock für eine angespannte Gesamtsituation, in der sich alle auf Augenhöhe begegnen müssen – das Katz- und Mausspiel, sofern es eines geben soll, kann beginnen. 

Und ja, auch bei diesem Direct-to-Disney+-Thriller stehen die Zeichen auf Sturm. Wir befinden uns irgendwo auf dem Weg nach Salt Lake City, das heißt: Ex-Junkie Darby tut das, sie ist mit dem Auto unterwegs und will zu ihrer im Sterben liegenden Mutter. Blöd nur, dass ein Blizzard die Straße unpassierbar macht. Zurück in die Reha will Darby auch nicht, also bleibt ihr nur die Touristeninfo am Rande eines Waldes, weitab jeglicher Kontrollinstanz. Natürlich ist sie in dieser wohlig eingerichteten, mit allerlei Nationalparkinfos ausgestatteten Zuflucht nicht allein. Vier weitere Individuen harren besseren Zeiten entgegen. Ein älteres Ehepaar und zwei Mittzwanziger, die unterschiedlicher nicht sein können. Der eine pennt, der andere blickt verstohlen um sich, wagt dabei aber nicht, jemandem ins Gesicht zu sehen. Doch so Freaks gibt’s immer, was soll da schon groß passieren. Der Breakfast Club für die Durchreise ist angerichtet, am besten, man verbringt die Zeit mit Kartenspielen – was die Anwesenden dann auch tun. Der Film wäre nicht aufregender als das Wetterpanorama geworden, wäre Darby nicht durch Zufall auf das entführte und gefesselte Mädchen in einem weißen Van gestoßen. Einer oder eine aus der Gruppe muss also Dreck am Stecken haben. Nur wer?

Wenn Darby ihr Geheimnis noch für sich behält und gute Miene zu bösem Spiel macht; wenn alle fünf um den Tisch sitzen und das dubiose Kartenspiel Bullshit spielen, dann hat das latent bedrohliche Kammerspiel durchaus seinen Reiz. Den es aber auch wieder schnell verliert, so nach dem Motto: wie gewonnen, so zerronnen. Denn sobald klar wird, wer hier nun perfide genug ist, um ein unschuldiges Mädchen zu entführen, sackt die Spannungskurve nach unten. Vielleicht aber helfen ein paar Story-Twists, denn viel mehr ist angesichts des begrenzten Settings ja vielleicht gar nicht möglich. Irrtum – gerade in solchen Situationen lässt sich die Unberechenbarkeit menschlichen Verhaltens ausreizen. Da wären aufgesetzte Wendungen wie diese hier, die offensichtlich nur dazu da sind, um kreatives Defizit zu kompensieren, gar nicht mal nötig. Man hätte den Faktor X noch durchaus weiter in die Spieldauer hineinnehmen können, doch die Mystery weicht einem trivialen Duell Gut gegen Böse, wobei hier niemand Wert legt auf plausible Charaktere, mit Ausnahme vielleicht von Havana Rose Liu, die als moralisches Zentrum ihre sozialen Defizite durch ritterliche Verzweiflungstaten ausgleicht. 

No Exit überrascht nicht, sondern bestätigt immer wieder die Vermutungen des Zuschauers. Der würde sowieso anders agieren, und das gleich zu Beginn. Doch da wäre aus Damien Powers Romanverfilmung ein Kurzfilm geworden. Na und? Vielleicht wäre der aber knackiger.

No Exit