Piggy (2022)

DER FEIND MEINER FEINDINNEN

6,5/10


piggy© 2022 Alamode Filmdistribution Österreich


LAND / JAHR: SPANIEN, FRANKREICH 2022

BUCH / REGIE: CARLOTA PEREDA

CAST: LAURA GALÁN, RICHARD HOLMES, CARMEN MACHI, CLAUDIA SALAS, IRENE FERREIRO, CAMILLE AGUILAR, PILAR CASTRO, JOSÉ PASTOR U. A.

LÄNGE: 1 STD 30 MIN


Gibt es das tatsächlich noch, dass Menschen aufgrund ihrer körperlichen Beschaffenheit gehänselt, verspottet und gemobbt werden? Womöglich würden mir jetzt einige die Gegenfrage stellen, in welcher Welt ich denn lebe. Irgendwie aber denke ich mir, dass Dinge wie Übergewicht längst nicht mehr Grund dafür sind, Menschen auszugrenzen. Das mag naiv sein, ich geb’s zu. Umso erschreckender ist es, dass junge Frauen wie Saras Altersgenossinnen, die in einer spanischen Kleinstadt ihren Sommer herunterbiegen, ungebildet und gehässig genug sind, um den Sprung in eine moderne Welt der Toleranz nicht geschafft und diese auch nicht im Rahmen ihrer Erziehung mit auf den Weg bekommen zu haben. In manchen Teilen der Welt hängt man halt noch immer einige Jahrzehnte hinterher, so traurig es sein mag. In diese kummervolle Wolke, entstanden aus Ablehnung von außerhalb, hängt die Tochter eines Fleischers ihren Gedanken nach, hört Musik und träumt davon, dazuzugehören. In diesem Sommer aber, wo sie ihrem Vater stets zur Hand gehen muss und von ihrer Mutter permanent bevormundet wird, wird alles anders werden. In diesem Sommer wird Piggy, wie sie von den anderen beschimpft wird, über sich selbst hinauswachsen und allen zeigen, wo der Fleischhaken hängt.

Denn ein Psychopath treibt sein Unwesen, der scheinbar wahl- und ziellos mordet und eines heißen Badetages ganz zufällig auf Sara trifft, die gerade eine Kaskade an Beleidigungen und üble Quälereien über sich ergehen lassen muss. Anscheinend hat der tumbe Killer ein Herz für Außenseiter – und überhaupt für Sara, die es ihm angetan hat. Also tut er das, was das gehänselte Mädchen nicht zustande bringen kann: Er knöpft sich all die Mobberinnen vor, entführt sie und verfrachtet sie in seinen Lieferwagen. Als Sara des Verbrechens gewahr wird, entschließt sie sich, einerseits aus Angst und andererseits aus Genugtuung für erlittene Schmach, nichts zu tun. Eine stille Vereinbarung zwischen Killer und Gemobbter scheint besiegelt, denn der Feind meiner Feindinnen könnte ein Freund sein. Noch dazu ein Mann, der Sara erstmals das Gefühl gibt, als junge Frau wahrgenommen zu werden.

Die dramatische Konstellation des im letzten Jahr auf dem Wiener Slash Filmfestival präsentierten, spanischen Thrillers birgt schon eine groteske, knackige Prämisse. Während sich bei Steven Kings Carrie dank telekinetischer Fähigkeiten nämlicher Teenie aus eigener Kraft heraus zu wehren weiß, greift Sara auf ein menschliches Monster zurück, dass ihr Zärtlichkeit entgegenbringt und als Beschützer fungiert. Ob edler Ritter oder nicht – das Ideal vom Beistand einer Frau gegenüber stellt sich in Carlota Peredas Autorenfilm einem kritischen Diskurs über Rollenbilder und Verantwortung, über Gut und Böse und dem Recht auf Rache. Dabei fädelt sie ein Coming of Age-Drama unter das Thriller-Genre, dem Hauptdarstellerin Laura Galán ein ausdrucksstarkes Gesicht verleiht.

Während sich das moralische Dilemma einer sich längst als Frau verstanden werden wollenden Persönlichkeit ausweitet und einige interessante Impulse setzt, greift das übrige Szenario auf gängige Slasher-Versatzstücke zurück, die manchmal an M. Night Shyamalans Split erinnern oder in der klischeehaften Darstellung sämtlicher Provinzbürger münden. Diese Elemente holen einen dann doch nicht so ab wie die Killer-Mädchen-Konstellation, wobei am Ende aber die Erwartungen im blutigen Finale fast schon wieder unterlaufen werden. Wie sich Laura Galán als brachiale Naturgewalt durch die Grauzonen physischer wie psychischer Gewalt kämpft, um eine Richtung für sich selbst zu finden, lässt sich als spektakulärer Showdown bezeichnen. Piggy ist ein zwar simpel gestrickter und manchmal etwas unbeholfen inszenierter, aber letzten Endes durchdachter schräger Thriller, den wohl, würde Harris Glenn Milstead als Divine noch leben, John Waters (u. a. Female Trouble) zu seinen Bestzeiten des Undergroundkinos auch gerne inszeniert hätte. Nur fraglich, ob die zarte Selbstfindung Saras zugunsten schockierender Trash-Momente nicht auf der Strecke geblieben wäre.

Piggy (2022)

Der Sommer mit Anaïs

GELEGENHEIT MACHT LIEBE

7,5/10


sommermitanais© 2022 Filmladen


LAND / JAHR: FRANKREICH 2021

BUCH / REGIE: CHARLINE BOURGEOIS-TACQUET

CAST: ANAÏS DEMOUSTIER, VALERIA BRUNI TEDESCHI, DENIS PODALYDÈS, JEAN-CHARLES CLICHET, ANNIE MERCIER, ANNE CANOVAS, CHRISTOPHE MONTENEZ U. A. 

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Kann es nicht sein, dass wir den Schlimmsten Menschen der Welt bereits in der norwegischen Tragikomödie selben Titels gesehen haben? Möglich, doch vielleicht irren wir uns. Es ist zu vermuten, dass die von Renate Reinsve dargestellte Julie Aus Joachim Triers filmischem Gefühlschaos mit Anaïs Demoustier den Rang abgelaufen bekommt. Zumindest aber sind beide ungefähr gleich auf in ihrem Streben, sich nirgendwo festlegen und alles auskosten zu müssen, was das Leben eben so hergibt, dabei aber jedwede Bodenhaftung verlieren, die für innere Gelassenheit wohl wichtig wäre. Sowohl Julie als auch Anaïs sind Freigeister mit Körper und Seele, und Anaïs hat zum Beispiel gar kein Problem damit, eine ungeplante Schwangerschaft einfach abzubrechen, denn das würde ihr Leben unweigerlich in eine Richtung lotsen – für welche die experimentierfreudige Mittdreißigerin längst noch nicht bereit ist. Da gibt’s noch ganz andere Erfahrungen, die Frau machen muss. Zum Beispiel die einer Beziehung zu einem deutlich älteren Buchverleger (Denis Podalydès), der Anaïs gleich ganz für sich beanspruchen will, was diese natürlich wieder in eine Ecke drängt. Anaïs nimmt abermals Reißaus, es treibt sie hierhin, es treibt sie dorthin, und dann weckt die Ehefrau dieses älteren Ex, eine bekannte Schriftstellerin, ihr Interesse. Im Rahmen eines Literatursymposiums in einem Landhotel vergisst Anaïs ihre studentischen Pflichten und quartiert sich genau dort ein, wo die reifere Emilie (Valeria Bruni Tedeschi) ihre Vorträge hält. Langsam entsteht so etwas wie ein sommerlich leichter Flirt zwischen den beiden, die einerseits in ihrer Mentalität unterschiedlicher nicht sein können, andererseits aber vieles gemeinsam haben. Vielleicht auch die Lust am Abenteuer und am Unberechenbaren; an verspielten, ungebundenen Affären und vielsagenden, koketten Blicken.

So einen Augenaufschlag, verbunden mit gewinnendem Lächeln, weiß Anaïs Demoustier famos zu beherrschen. Die eindrucksvolle Schauspielerin wurde seinerzeit, nämlich 2003, von niemand anderem als Michael Haneke entdeckt, der sie 2003 für sein Endzeitdrama Wolfzeit besetzt hat. Jetzt, so viele Jahre und unzählige Filme später, darunter auch Werke von Quentin Dupieux, beeindruckt sie genauso Liebhaber der frankophonen Romantik wie Virginie Efira oder Juliette Binoche es tun. Mit klugem Wortwitz und kreativer Starrköpfigkeit, aber auch mit einer fast schon kindlichen Sehnsucht nach Nähe und dem Mysterium sich anbahnender Liebschaften in genau diesem Stadium verdreht sie selbst ihrem Publikum den Kopf.

Charline Bourgeois-Tacquet lässt sich von dieser Ausstrahlung nur so weit vereinnahmen, dass sie sich nicht mit der Kamera ausschließlich auf Anaïs Demoustier stürzt und alles andere drumherum vergisst, sondern immer noch mit einer zurückgelehnten Entspanntheit eine charmante zwischenmenschliche Konstellationen beobachten kann, die sich nicht auf Druck in irgendeiner aufgeräumten Message kanalisieren müssen. Es ist, als hätten die beiden Schauspielerinnen viel freie Hand gehabt, um manches zu improvisieren oder für anderes wiederum eigene Worte zu finden. Dieses leise und immer stilvolle Abenteuer unter französischer Sommersonne spart nicht mal Tragik ganz aus, weiß aber so gut damit umzugehen wie eben Joachim Trier. Es ist ein Genuss, den Sommer mit Anaïs zu verbringen, zumindest die paar strandwarmen Momente voller Understatements, deren dahingleitende Figuren sich nicht nur einander, sondern auch selbst überraschen. Das Genre des französischen Liebesfilms: stets darauf bedacht, Wirbelwinden wie Anaïs niemals die Chance zu nehmen, irgendwo und irgendwann alle Prinzipien über Bord zu werfen und jeden Moment neu anzufangen.

Der Sommer mit Anaïs

Alcarràs – Die letzte Ernte

DER BISS IN DEN SAUREN PFIRSICH

6,5/10


alcarras© 2022 Piffl Medien


LAND / JAHR: SPANIEN, ITALIEN 2022

BUCH / REGIE: CARLA SIMÓN

CAST: JORDI PUJOL DOLCET, ANNA OTIN, XÈNIA ROSET, ALBERT BOSCH, AINET JOUNOU, JOSEP ABAD, MONTSE ORÓ, CARLES CABÓS, BERTA PIPÓ U. A.

LÄNGE: 2 STD


Wir haben bereits September, das Ende des Sommers kündigt sich mit morgendlicher Frische und früher Dunkelheit an. Auch sehen die Kastanienbäume nicht mehr so aus, als hätten sie gerade die Zeit ihres Lebens. Der Herbst steht vor der Tür, ich freu mich drauf. Andere freuen sich weniger. So zum Beispiel jene Bauernfamilie aus Katalonien, die ihren letzten heißen Sommer inmitten früchtetragender Pfirsichbäume verleben muss, denn was nach der letzten Ernte mit all den Hektar Land hier passieren wird, gleicht einem Albtraum für jene, die schon seit Generationen, ähnlich wie die freudestrahlenden Bauern in der San Lucar-Werbung, handverlesene Landwirtschaft betreiben und die Nachhaltigkeit auf eine Weise leben wie sonst nur in den Ja natürlich!-Heftchen für die Kleinen. Man möchte es kaum glauben, aber dort, im glutheißen Alcarràs, wo jedes Tröpfchen Wasser wohldosiert sein muss und das rotgoldene Obst so behandelt wird, als wären es lebendige Wesen, scheint die Idylle eines Bauernlebens gerade im Sommer, wenn die kleinen Kinder ihre Abenteuer erleben und der Patriarch seinen Sohn einspannt, vollkommen.

Der Albtraum macht sich bereits auf der anderen Seite der Landstraße bemerkbar – es sind Solarpaneele, die, zu Plattformen zusammengesteckt, natürlich nachhaltigen und umweltfreundlichen Strom erzeugen sollen. Die Sonne scheint für alle und immer, teuer ist hier nur das Equipment. Bald soll es auch den Pfirsichbauern von Alcarràs so ergehen, denn das Land, auf welchem sie ihre Erträge sichern, gehört eigentlich einem reichen und in die Zukunft investierenden Grundbesitzer. Dessen Großvater aber habe zum Dank dafür, ihn während der Franco-Diktatur versteckt zu haben, besagter Familie den Boden unbefristet zur Verfügung gestellt. Blöd nur, dass es dafür keine Belege gibt, sondern nur einen feuchten Händedruck, der den Deal besiegelt haben soll. Opa ist verzweifelt, denn damals war das alles anders. Der Vater ackert sich zum Krüppel, und die Mutter versucht, die Idylle gerade noch zusammenzuhalten, während die Tochter ihrem Teenagerdasein frönt, mit allen Allüren. Für die ganz Kleinen ist alles ein Spiel, die verbringen den Sommer wie einen von damals – barfuß, schmutzig, im Geröll der Landschaft umhergeisternd und tote Kaninchen bergend, die eine Plage für den Bauern sind.

All diese Beobachtungen eines Sommers hat Carla Simón mit ihrem Langfilmdebüt auf ein atmosphärisch dichtes Familienportrait komprimiert, das in seiner Intensität russischen Gutshofdramen von Tschechow oder Tolstoi in nichts nachsteht. Mit der Sonne im Rücken oder aufs verschwitze Gesicht, feiern eine Vielzahl an Familienmitgliedern – vom sinnierenden Großvater bis zum kleinen Mädel, das ihren Cousins zeigt, wo s langgeht – die Anstrengung getaner Arbeit, den süßen Saft reifer Pfirsiche, der beim Reinbeißen über die Finger rinnt oder das entspannte Miteinander im kühlen Inneren des Hauses während der Siesta. In Alcarràs – Die letzte Ernte ist die Stimmung das Juwel des Films, und Simon hält sich wider Erwarten mit den Gedanken ans Ende einer Idylle nicht zu lange auf. Wie ein Damoklesschwert hängt die bittere Zukunft über dem Gut, doch das trübt den Sommer nur bedingt. Die Familie existiert in einem unverwundbaren Jetzt. Nur manchmal dringt die Wahrheit an den Tag, wenn Papa Quimet seine Tränen nicht mehr halten kann.

Wie Tschechow oder Tolstoi ist Alcarràs – Die letzte Ernte dann doch nicht geworden. Was fehlt, ist die Dysfunktionalität der Familie, der vergrabene Kummer, das Unverziehene. Simón lässt keine zwischenmenschliche Tragödie vom Stapel, sondern lobt letztendlich den Schulterschluss vor einer unausweichlichen Veränderung. Durch ihr weitgehendes Weglassen eines irreversiblen Dramas, das zum Drama des Wertverlustes noch hinzukommt, bleibt Alcarràs nur der Sommer in all seiner Expressivität, eingefangen in distanzlosen Bildern, die man fast schon riecht und schmeckt. Zwei Stunden Kino geraten dabei aber fast schon zu lang, das Ansehen alltäglicher Ereignisse und spanischer Dorffolklore erschöpft auf Dauer dann schon etwas, und man fragt sich, ob die Kritik an der Weltwirtschaft nicht etwas zu resignativ ausfällt. Im Gegensatz dazu hat der ebenfalls spanische Film El Olivo – Der Olivenbaum aus dem Jahr 2016 deutlich mehr zu sagen.

Alcarràs – Die letzte Ernte

Frau im Dunkeln

BEKENNTNISSE EINER RABENMUTTER

8/10


frauimdunkeln© 2021 Netflix


LAND / JAHR: GRIECHENLAND, USA, GROSSBRITANNIEN, ISRAEL 2020

BUCH / REGIE: MAGGIE GYLLENHAAL, NACH EINEM ROMAN VON ELENA FERRANTE

CAST: OLIVIA COLMAN, JESSIE BUCKLEY, DAKOTA JOHNSON, ED HARRIS, PETER SARSGAARD, PAUL MESCAL, ALBA ROHRWACHER, DAGMARA DOMIŃCZYK U. A.

LÄNGE: 2 STD 2 MIN


Am letzten Tag des alten Jahres hat Netflix für sein interessiertes Filmpublikum noch einen besonderen Leckerbissen aus dem Ärmel geschüttelt – das Spielfilmdebüt von Maggie Gyllenhaal, von welcher man ohnehin schon längere Zeit nichts mehr gehört hat, die sich aber mit der Verfilmung von Elena Ferrantes Roman The Lost Daughter umso wirkungsvoller zurückmeldet. Und beileibe ist der Stoff der italienischen Romanautorin keine gemähte Wiese. Nichts, was man so mir nichts dir nichts in Bilder packen und dazu noch ein ausgewogenes Skript verfassen kann. Frau im Dunkeln – so der deutsche Titel – lässt Oscarpreisträgerin Olivia Colman als Professorin während des Sommers Urlaub machen. Wie denn, das ist alles? Fast. Zumindest handlungstechnisch. Das meiste ist Selbstreflexion und Erinnerung, dazwischen die Konfrontation mit Menschen, die auf gewisse Weise begangene Fehler von Colmans Filmfigur aus der Verdrängung zurückführen. Das ist Urlaub, der nicht spur- und ereignislos vorübergeht. Das sind Ferien mit der längst überfälligen seelischen Reinigung.

Und so bezieht Leda Caruso ein großräumiges Appartement auf der griechischen Insel Spetses, und zwar ganz allein. Hausdiener Lyle (Ed Harris) sorgt manchmal für Abwechslung, auch dem Ferialjobber Will gefällt Ledas Gesellschaft. Weniger offenherzig ist allerdings die New Yorker Großfamilie rund um Jungmutter Nina (Dakota Johnson), die sich mit ihrer kleinen Tochter herumschlagen muss und die bereits unter Depressionen leidet, weil sie es dem Mädel einfach nicht recht machen kann. Da passiert es und das Kind verschwindet – Leda beteiligt sich an der Suche und findet sie. Doch damit nicht genug: dessen Lieblingspuppe verschwindet ebenfalls. Die hat sich Leda absichtlich unter den Nagel gerissen. Doch warum nur?

Warum nur? Das ist die große Frage in diesem Film. Und vor allem eine, die Leda selbst nicht beantworten kann. So sind nun mal Gefühlswelten, sie ordnen sich keinem rationalen Muster unter, sie generieren sich aus triggernden Momenten und Assoziationen, aus seltsamen Déjà-vus, die wie gerufen kommen und die Sache mit dem Zufall bemühen. In so einem Nebel aus Vergangenem und Gegenwärtigen lässt Colman als einsame Egoistin ihre Existenz als Mutter zweier Kinder Revue passieren – die Zeitebene wechselt, wir befinden uns rund zwei Jahrzehnte in der Vergangenheit, und Jessie Buckleys junge Leda könnte aufgrund ihres sprachlichen Talents und ihrer literarischen Abhandlungen alles erreichen. Einzig die Kinder nerven, später auch der eigene Ehemann, und so kehrt sie ihrer Familie den Rücken. Eine Rabenmutter, sagt sie selber von sich. Doch die Erkenntnis lässt auf sich warten, im Urlaub ist schließlich genug Zeit dafür, auch wenn sonst nichts zu tun ist.

Wer hätte gedacht, dass es Maggie Gyllenhaal dermaßen gelingt, so einem durchaus abstrakten und auch verschachtelten Stoff das richtige Tempo aufzuerlegen und ein ebensolches Team zusammenzustellen. Dazu gehört auch Kamerafrau Hélène Louvart, die aus dem dichten Stück Schauspielkino ein visuelles Erlebnis kreiert. Extreme Nahaufnahmen wechseln mit in sich ruhenden Arrangements aus Personen – diese Virtuosität erinnert nicht zufällig an den Film Glücklich wie Lazzarro. Dort bewies sich Louvart als Kreatorin einer mediterranen, impressionistischen Stimmung. Coleman und auch Dakota Johnson spiegeln diese mit Bravour. Nicht zu vergessen Jessie Buckley, die als junge Leda Caruso die Last des Mutterseins nicht mit ihrem Drang zur Selbstverwirklichung vereinbaren kann.

Frau im Dunkeln ist ein starker und hypnotisierender Film ohne Leerlauf und mit Bedacht gewählten Worten, die den Brocken an Drama nicht schwerer machen als er ist. Gyllenhaal schafft das Zusammenspiel gewissenhaft agierender Schauspielerinnen, die niemals, wie es scheint, unter den Druck einer egozentrischen Regie geraten, sondern den jeweils eigenen Subtext wirken lassen können. Was dabei rauskommt, ist packend – und auf unerwartete Weise schwerelos.

Frau im Dunkeln

Stunde der Angst

JENSEITS DER EIGENEN VIER WÄNDE

5/10


stundederangst© 2021 Koch Films


LAND / JAHR: USA 2019

REGIE: ALISTAIR BANKS GRIFFIN

CAST: NAOMI WATTS, JENNIFER EHLE, EMORY COHEN, KELVIN HARRISON JR., JEREMY BOBB U. A. 

LÄNGE: 1 STD 39 MIN


Mit Summer of Sam verbinde ich selbst nur den gleichnamigen Film von Spike Lee. Der allerdings auf wahren Begebenheiten beruht. Im August des Jahres 1977 war es an der US-Ostküste nämlich brüllend heiß. Und als ob die Hitze nicht schon hätte reichen müssen, lief da auch noch ein ziemlich unberechenbarer Serienkiller herum, der es auf Frauen abgesehen hat – dieser hieß Son of Sam. Und Naomi Watts, die passt da als Schriftstellerin June perfekt in dessen Beuteschema.

In Stunde der Angst (im Original viel treffender und weniger reißerisch: The Wolf Hour) leidet der Star aus King Kong oder Mulholland Drive an massiven psychischen Problemen. Und befindet sich an diesen eingangs erwähnten unsäglichen Hundstagen allein und verlassen in den vier Wänden ihrer verblichenen Oma, um… nun ja… was macht sie da genau – erstmal depressiv vor sich hinzudämmern, den Ventilator laufen zu lassen und viel zu rauchen. Den Fuß vor die Tür, den setzt sie nicht. Warum? Ein Trauma verfolgt sie, etwas scheint passiert zu sein, das mit ihrer Familiengeschichte zusammenhängt und sie deswegen so sehr lähmt. Besuch allerdings bekommt sie, die ehemalige Ikone der zeitgenössischen Literatur. Doch dieser Besuch ist temporär – kaum da, verschwindet er schon wieder. Und was seltsam und gleichsam erschreckend ist: Unbekannte machen sich den Scherz, die Fernsprechanlage zu quälen. Oder läuten da gar keine Unbekannten? Vielleicht ist es ja Sam?

Mit Naomi Watts in einem Film hat man schon einiges auf der Habenseite. Lässt sich sonst noch was dazu holen? Zumindest nichts, was einen waschechten Psychothriller ausmacht. Denn Stunde der Angst verkauft sich als solcher, ist aber keiner. Eine Mogelpackung der Verleiher, könnte man sagen. Doch wie sonst hätte sich das Werk gut bewerben können? Als Mystery-Drama vielleicht. Das Phantom an der Fernsprechanlage sorgt schon zumindest ansatzweise für ein mulmiges Gefühl. Denn was dieser Film ganz gut hinbekommt, ist Atmosphäre. Doch immer dann, wenn es ganz danach aussieht, dass die Lage eskalieren könnte, wird einem im besten Wortsinn die Tür vor der Nase zugeknallt. Zum Psychothriller kann sich Alistair Banks Griffins Film somit einfach nie hochschaukeln, dazu fehlt ihm die Beschleunigung. Das mag zwar einerseits enttäuschend sein, andererseits lässt sich zwischen all diesen Hitchcock-Versatzstücken (ich sage nur: Fenster zum Hof) ein Selbstfindungsdrama als sortiertes Kammerspiel zwischen staubigem Interieur entdecken. Wem gefällt, dass Naomi Watts sich selbst einem Lockdown unterzieht und wem der eigene reale noch nicht genug ist, kann sich ja filmtechnisch solidarisch zeigen. Sonst bleibt das, was sich aus diesem Prozedere des Aufraffens gewinnen lässt, eher überschaubar bis ernüchternd.

Stunde der Angst

Ein griechischer Sommer

FERIEN WIE DAMALS

6/10

 

Ein griechischer Sommer© 2012 obs/ZDF/LAURENT THURIN NAL

 

ORIGINALTITEL: NICOSTRATOS LE PÉLICAN

LAND: FRANKREICH, GRIECHENLAND 2012

REGIE: OLIVIER HORLAIT

CAST: EMIR KUSTURICA, THIBAULT LE GUELLEC, JADE-ROSE PARKER, FRANÇOIS-XAVIER DEMAISON U. A.

 

Die Ferien sind vorüber, die Schule hat begonnen. Kann sein, dass der sogenannte Altweibersommer zurückkehrt. Der erinnert dann noch mal an die schönen Stunden, die der mittjährliche Urlaub so mit sich brachte, abgesehen vom An- und Abreisestress, vom Ein- und Auspacken und vom Waschen der ganzen Urlaubswäsche. Aber das gehört schließlich dazu. Man würde es vermissen, hätte man nicht alle Hände voll zu tun, um durchschnittlich zwei Wochen irgendwo anders abzuhängen, ob in den Bergen oder am Meer, stets in Reichweite diverser mobiler Endgeräte. Dabei kann natürlich sein, dass, war man in den Bergen, in Balkonien oder im eigenen Land, das Meer immer noch Fokus diverser Sehnsüchte bleibt, so richtig Marke STS und im Sinne von Irgendwann bleib I dann dort, mit den Füßen im weißen Sand, eine Bottle Rotwein in der Hand und so weiter. Austropop-Kenner wissen, was ich meine, kaum ein Lied nährt mehr den Traum, auszusteigen als dieses. Bevor der Herbstalltag also einem Damoklesschwert gleich über uns hereinbricht, ließe sich unter Umständen mit vorliegendem Film der Sommer zumindest in den eigenen vier Wänden noch etwas hinauszögern. Ein griechischer Sommer ist genau das, was der Film beschreibt – eine strahlend schöne Jahreszeit irgendwo in der Ägäis, auf einer kleinen, unbekannten Insel voller pittoresker Küsten und verführerischen Lagunen, versteckt hinter strahlend blauem Meer.

Allerdings geht’s in dem französisch-griechischen Coming-of-Age-Filmchen weniger ums Urlaubmachen und Aussteigen, sondern um einen Vogel. Genauer gesagt um einen Pelikan, und der ins Deutsche übersetzte Titel Ein griechischer Sommer verbirgt im Gegensatz zum Originaltitel, was dahintersteckt. Diesen Pelikan, den findet der Halbwaise Yannis, der mit seinem griesgrämigen Fischervater irgendwo in einem einsamen Häuschen an der Küste lebt, bei einem Matrosen an Bord eines Frachtkahns. Allerdings ist der da noch ein kieliger Jungvogel – im Austausch gegen das Erbstück seiner Mutter kann er diesen aber freikaufen. Der Vater, der weiß natürlich nichts davon. Gut versteckt zieht Yannis den Vogel auf – bis die ganze Insel von der ornithologischen Sensation Wind bekommt.

Überraschend an diesem mediterranen Jugendfilm ist der Auftritt Emir Kusturicas. Der serbische Cannes-Gewinner und Autorenfilmer so schrill-schräger Kunststücke wie Underground oder Time of the Gypsies ist, wie ich zuletzt in On the Milky Road feststellen musste, alles andere als ein guter Schauspieler. In Ein griechischer Sommer schlägt er sich so halbwegs brauchbar mit seiner Rolle herum, sein verzotteltes Aussehen sorgt für mildernde Umstände. Was sonst noch zu sehen ist, passt auf eine Freilichtbühne neben obligatorischem Ausschank, wo es logischerweise auch Ouzo geben sollte. Denn so klischeehaft, wie das kleine Hafenstädtchen und seine aus der Zeit gefallenen Bürger, so kauzig ist das Ganze auch – erst vor einigen Jahren hat sich Christoph Maria Herbst in Highway to Hellas per Esel durch den mediterranen Karst geschleppt. Ähnlich geht es auch hier zu. Außer Fische fangen, dem Ausschenken von Rebensaft und dem Improvisieren mit dem wenigen, was da ist, bleibt nur noch, aufs Meer zu schauen und nichts zu tun. Und auch nichts zu erwarten. Wären da nicht die beiden Teenies Yannis, wie schon eingangs erwähnt, und Angeliki, dem Mädel vom Festland, Nichte des einzigen Barbesitzers der Insel und bald dicke Freundin des frisch gebackenen Vogelvaters. War das Tier anfangs noch eigenartig mechatronisch, ist es als adultes Federvieh ein tatsächlich dressiertes Unikum. Und wäre der Pelikan nicht, wäre der Film ein relativ belangloser Zwischenstopp in den blauweißen Farben von Griechenland, der wenig aufgeweckte Jugenderinnerungen hervorholt. Diese wiederum erinnern an einen ganz anderen Film, nämlich an Wie Brüder im Wind, in welchem ein Junge, der ebenfalls alleine mit seinem griesgrämigen Vater im unwirtlichen Gebirge haust, ein Adlerjunges findet – und großzieht. Im Grunde ist das die gleiche narrative Basis, nur mit weniger Personal. In Ein griechischer Sommer nimmt man die Metapher des Flüggewerdens allerdings leichter, humorvoller, weniger grüblerischer, aber auch leicht hysterischer. Das ist angenehm anders, und somit irgendwie noch eine kleine, filmische Auszeit vor dem Alltag.

Ein griechischer Sommer

303

LIEBE GEHT DURCH DEN WAGEN

5,5/10

 

303© 2018 Alamode

 

LAND: DEUTSCHLAND 2018

REGIE: HANS WEINGARTNER

CAST: MALA EMDE, ANTON SPIEKER, MARTIN NEUHAUS U. A.

 

Ab in den Süden! – Ich kann es kaum erwarten, bis Buddy vs. DJ the Wave wieder aus dem Radio scheppert, bis die Uhren endlich umgestellt sind und es langsam wieder nach Sommer riecht. Mit Ab in den Süden ist das Urlaubsfeeling in der Zielgeraden, da freut man sich, endlich ausbrechen und den ganzen Alltag hinter sich lassen zu dürfen. So wie die 24jährige Biologiestudentin Jule, die gerade ihre letzte Prüfung vor der große Pause versemmelt hat und sich nun mit einem Wohnmobil der Marke Mercedes Homer 303 aufmacht, ihren Freund zu besuchen, der in Portugal weilt und noch gar keine Ahnung davon hat, dass er womöglich Vater wird. Doch ganz sicher ist sich Jule da nicht – ob sie die Schwangerschaft nicht abbrechen soll? Kurz nach Berlin gabelt die junge Frau an einer Tankstelle den Tramper  Jan auf – ebenfalls Student, ebenfalls mit einem Projekt gescheitert, und eigentlich vaterlos. Sein unbekannter, biologischer Erzeuger, der weilt auch im Süden, und zwar in Spanien. Sommerferien sind also da, um das zu tun, was man irgendwie tun muss − wobei der Weg als Ziel eigentlich viel schöner ist als das, was wartet, wenn man ankommt.

Fatih Akin hat schon Anfang der 90er mit der Sommerkomödie Im Juli so ein launiges, verliebtes Roadmovie inszeniert, mit einer traumhaft quirligen Besetzung, und mit einer kurzweiligen Story, die nah an der hollywoodtauglichen Krimikomödie entlangflaniert. 25km/h, die Reise auf zwei Mofas Richtung Nordsee, war auch so ein Selbst- und Wiederfindungstrip. Und 303 – der liegt auch irgendwo auf dieser Schiene, nähert sich aber thematisch fast schon mehr den Dialogkomödien eines Richard Linklater an, insbesondere der Before-Trilogie, bestehend aus Sunrise, Sunset und Midnight. Ethan Hawke und Julie Delpy trafen sich da in Wien, Paris oder letztendlich in Griechenland, um einfach miteinander zu reden, Diskussionen vom Zaun zu brechen und an den Erkenntnissen zu wachsen. Das ist auch der Punkt, warum Linklaters Dialog-Trilogie in allen Teilen so gut funktioniert. Weil einfach die Chemie zwischen den beiden gestimmt hat – und beide auch bereit waren, ihren Standpunkt zu verändern, aus einem anderen Licht zu betrachten, sich selbst zu hinterfragen.

Die Chemie zwischen Mala Emde und Anton Spieker scheint erstmal auch zu stimmen. Beide Schauspieler lassen sich gut aufeinander ein, und sehr wahrscheinlich lief das Casting für diesen Film nicht getrennt voneinander ab, wie vielleicht bei Herzblatt. Die beiden mögen sich, das ist klar, zumindest nach dem zweiten Anlauf, denn beim ersten Mal hat Jan noch den Beifahrersitz räumen müssen, weil er bei Jule einen wunden Punkt getroffen hat. Gut aber, dass der Zufall es so wollte und beide wieder zusammengeführt hat. Und so tingeln sie quer durch Deutschland, Belgien, Frankreich und Spanien. Wir sehen, wie sie die offenen EU-Grenzen passieren, wenn der Kölner Dom oder rustikale französische Dörfer vorbeirauschen und das Meer zum Greifen nah ist. Während sie so von einer Landschaft in die nächste reisen, rund eine Woche lang, wird viel geredet, diskutiert und sinniert. Und genau darin liegt das Problem in diesem deutlich überlangen und auch viel zu langen Reisefilm vom Österreicher Hans Weingartner (Das weiße Rauschen, Die fetten Jahre sind vorbei). Sein mobiler Liebesfilm nimmt sich einerseits und vollkommen nachvollziehbar genügend Zeit, die Zuneigung der beiden füreinander langsam, aber stetig und glaubhaft wachsen zu lassen. Das ist das Kernstück, das tatsächlich auch so gemeinte Herzstück des Films – denn das Herz, das spielt hier eine große Rolle. Und was das Herz will, das, so wünscht man sich, soll es bei Jule und Jan auch bekommen. Andererseits aber sind die Dialoge nicht das, was sie sein sollten, da hätte Weingartner von Linklater mehr lernen sollen. Insbesondere bei den Gesprächen, die so aussehen sollen wie jene über Gott und die Welt. Wenn es um Suizid, Sexualität und Massenkonsum geht, wirken die Diskussionen so klischeehaft, vorbereitet und in den Mund gelegt wie durchkonzipiertes Schulfernsehen. Kann sein, dass Mala Emde und Anton Spieker hier aus dem Stegreif plaudern, aber wie Stegreif mutet das ganze nicht an. Eher wie eine Umfrage zu trendigen Jugendthemen. Da fehlt das Unmittelbare, das Aufgreifen des Gesprächs aus der Situation heraus. So hat man das Gefühl, einem Schulprojekt aus der Oberstufe beizuwohnen, das gerade mal ein Wochenende Zeit gehabt hat, sich stichwortartig die Fragen zu überlegen.

Liebens- und sehenswert sind die beiden ja trotzdem, und es sei ihnen das Glück in ihrem jungen Leben vergönnt, aber vielleicht bin ich diese Art der Twentysomething-Diskussionskultur schon durch und muss niemandem mehr meinen Standpunkt klarmachen. Weingartners Verliebte müssen das, und so ist sein Film auch durch den Eifer seiner populären, recht aufgepappten Topics ein reiner Jugendfilm, der weder überrascht, erstaunt oder Reibungsflächen bietet, der einfach nur  – und das kann er aber –- vom Gefühl einer Sommerliebe erzählt, und vom Alltag, den man gerne zurücklassen würde. Was aber nicht ganz klappt, denn die Hürden des Lebens sind mit dabei, wobei diese in 303 aber kleiner werden, sich anders verlagern oder von selbst lösen. Das ist wohl das, was das Reisen ausmacht – Distanz hinter sich und dem Status Quo zu bringen, während man sich neuen Horizonten auf der Landkarte und im Kopf zuwendet.

303

Der wunderbare Garten der Bella Brown

DU KANNST ES DIR VORSTELLEN, ALSO KANNST DU ES AUCH PFLANZEN

8/10

 

bellabrown© 2016 Luna Film

 

ORIGINAL: THIS BEAUTIFUL FANTASTIC

LAND: GROSSBRITANNIEN 2016

REGIE: SIMON ABOUD

MIT JESSICA BROWN FINDLAY, TOM WILKINSON, ANDREW SCOTT, JEREMY IRVINE U. A.

 

Wie sie alle aus den Baumärkten schlendern, mit Steigen voller Blumen in den Armen, mit Säcken voller Saatgut und Erde – der Frühling ist da, und all die Gartencenter und Gärtnereien klopfen sich frohlockend auf die grün beschürzten Schenkel. Wer einen Garten hat, geht in den Garten. Pflanzt, baut an, jätet. Begrünt, was noch zu bewältigen ist. Freut sich angesichts der Strelitzien, Forsythien, Schwertlilien, Primeln und wie sie sonst so alle heißen. Pflanzen gibt es überall en masse. Nur pflegen muss man sie. Hat man einen grünen Daumen, ist alles nur mehr eine gemähte Wiese. Hat man ihn nicht, darf der professionelle Gärtner ran, weil in der künstlich erschaffenen Natur zu sitzen in jedem Fall ein Schuss ins Grüne ist. Hat man aber weder ein Faible für private Parks Marke Schreber noch einen grünen Daumen, wird der Garten zur sprichwörtlichen „G´stettn“. Wenn man sich’s also nicht vorstellen kann, kann man es auch nicht pflanzen. Und Bella Brown, die kann es nicht. Will es nicht. Pflanzen und alles, was da so unkontrolliert wächst, ist der verschrobenen Eigenbrötlerin ein Gräuel. Wie vernichtend muss dann ein gepflegter Garten sein. Obwohl ein solcher ja schon wieder ein geordnetes Chaos darstellt. Um so weit zu kommen, muss das unkontrollierbare, wandelbare Durcheinander gebändigt werden. Irgendwann hat die neurotische Bibliothekarin keine andere Wahl mehr, als ihre grünen Hölle vor dem Haus in die Schranken zu weisen, will sie nicht delogiert werden. Also heißt es, sich seinen Dämonen zu stellen. Der Unmittelbarkeit, der Willkür des Lebens, aber auch seiner Pracht und seiner Verlockung.

Lang hat´s gedauert, aber England hat endlich das französische Kino entdeckt! Was so viel heißt wie: das Independentkino der britischen Insel ist mit Der wunderbare Garten der Bella Brown auf den Geschmack der duftenden, leichten, verspielten RomCom aus dem Nachbarland gestoßen. Und das, obwohl das britische Schauspiel-Urgestein Tom Wilkinson wie ein erhabener Dirigent das vorläufige Geschehen dominiert. Allerdings ist ihm die Rolle des resoluten wie reichen Seniors auf den Leib geschrieben – und hat im Film auch schon seine verknöcherte Notwendigkeit. Man erkennt aber gleich – Wilkinson´s Rolle soll sich noch gehörig wandeln. Mit ihr auch jene von Jessica Brown Findlay, die mit ihrer femininen Antwort auf Bill Murray aus Was ist mit Bob? und Jack Nicholson in Besser geht’s nicht so herrlich französisch wirkt, dass man nicht vermuten würde, sie im erzbritischen Downton Abbey wiederzufinden. Abgesehen von dieser TV Show ist Findlay ein neues, unverbrauchtes Gesicht auf den Kinoleinwänden dieser Welt. Diese frische Mimik verstärkt das Gefühl, als Zaungast tatsächlich über die Hecke zu blicken und eine Alltagsgeschichte zu erspähen, dessen lückenlose Betrachtung den Aufwand lohnt.

Ob im Familien- oder Freundeskreis – es gibt sicher irgendwen, den ihr kennt, der liebend gerne gärtnert, vor allem im eigenen Garten. Sei es in einer gepachteten Schrebergartenparzelle oder auf weitläufigem Grund. Vielleicht ist meine geschätzte Leserin oder mein geschätzter Leser selbst so ein passionierter Gärtner. All jenen sei Der wunderbare Garten der Bella Brown ans blühende Herz gelegt. Es ist nicht nur eine Freude, zuzusehen, wie aus der widerspenstigen Outdoor-Banausin ein blätterliebkosender Genussmensch wird. Regisseur Simon Aboud, Ehegatte der Tochter Paul McCartney´s, hat ein urbanes Märchen über die Akzeptanz des Chaos gedichtet. Über den Reiz an Kontrollverlust, die dadurch entstehende Inspiration und einem täglich neuen Geschmack des Tages auf der Zunge. So unterschiedlich auch alle möglichen Blüten in Bella Brown´s Garten duften, so variierend und oszillierend kann die eigene Existenz sein. This Beautiful Fantastic, wie Aboud´s Film im Original betitelt wird, ist von auf Zehenspitzen trippelnder Leichtfüßigkeit. Versponnen, offenherzig und den Launen der Natur eines Gartens im besten Sinne ausgesetzt. Sich diesen Reizen zu widersetzen, wäre ein Griff in den Komposthaufen.

Der wunderbare Garten der Bella Brown

Call Me by Your Name

DIE FREIHEIT, ZU LIEBEN

8,5/10

 

callmybyyourname© 2017 Sony Pictures

 

LAND: ITALIEN, FRANKREICH, BRASILIEN, USA 2017

REGIE: LUCA GUADAGNINO

MIT TIMOTHEÉ CHALAMET, ARMIE HAMMER, MICHAEL STUHLBARG, AMIRA CASAR U. A.

 

Nein, Tilda Swinton ist diesmal nicht dabei. Der neue, preisgekrönte Film von Luca Guadagnino muss ohne der aparten Ausnahmeschauspielerin auskommen, obwohl Swinton im filmischen Schaffen des Italieners eine tragende Rolle spielt. Ich kann mich noch gut an seinen opulenten Liebesfilm I am Love erinnern. Genauso wie an A Bigger Splash, der mich jedoch eher ratlos zurückließ. In Call Me by Your Name, den die Oscar-Academy zu Recht neben drei weiteren Nominierungen auch für den besten Film vorgeschlagen hat, wäre auch Tilda Swinton eher schwer zu besetzen gewesen. Denn in Call Me by Your Name geht es zwar sehr wohl auch um das weibliche Geschlecht, vorwiegend aber um die Liebe zwischen zwei Männern – oder sagen wir: zwischen einem Mann und einem Teenager. Filme zu diesem Thema gibt es bereits, da fällt mir A Single Man von Tom Ford ein. Ein todessehnsüchtiger Reigen, der aber bis auf die Konstellation der Beziehung nichts mit Guadagnigo´s betörendem Sommertraum zu tun hat.

Unweit des Gardasees, irgendwo in Norditalien, trifft der junge Elio auf einen Studenten seines Vaters, der für sechs Wochen ein Praktikum in Archäologie absolviert, allerdings aber deutlich mehr dem sommerlichen Müßiggang frönt. Ein Umstand, den Elio sehr zu schätzen weiß, entdeckt der 17jährige Junge doch bis dato unbekannte, sehnsüchtige Gefühle für den Mittzwanziger aus den Vereinigten Staaten. Und Elio ist ein Bild von einem Jüngling, von fast schon klassischer Anmut, wie eine dieser Statuen, die vom Grund des Gardasees geborgen werden. Die Zartheit seines Gesichts, das an Michelangelo´s David erinnert. Der nackte Oberkörper, sehnig und muskulös, von der Sonne gebräunt. Thimoteé Chalamet ist der Eros der Antike, ein sinnlicher Träumer, ein Virtuose am Piano. Gerne badend, abhängend, philosophierend. Der amerikanische Schauspieler ist wohl eine der Entdeckungen des Jahres, so unamerikanisch, unverbraucht und leidenschaftlich bekennt sich dieser zu einer Rolle, die mit Sicherheit enorm schwer zu spielen ist. Keine Ahnung, welcher sexuellen Richtung Chalamet angehört, das ist auch etwas, dass mich wirklich nichts angeht. Doch wie es auch sein mag – mit Sicherheit ist die Darstellung lustwandlerischer Begierde dem gleichen Geschlecht gegenüber wohl etwas, dass sehr leicht ins Lächerliche abgleiten kann oder unaufrichtig wirkt. Das ist zum Beispiel bei Brokeback Mountain passiert – ebenfalls ein Film über eine homosexuelle Beziehung unter Männern, die aber von Jake Gyllenhaal und Heath Ledger weder richtig verstanden noch empfunden wurde. In Call Me by Your Name ist sowohl die Schwärmerei, das kokettierende Verliebtsein bis hin zur gegenseitigen Liebe eine grandiose Symphonie der Gefühle, die sich entsprechend viel Zeit nimmt und bis ins kleinste Detail geht, um von der lockeren Ouvertüre bis hin zum Crescendo der Vereinigung beider Liebender alle nur erdenklichen Nuancen auf die Leinwand bringt, um dann in ein niemals tränentriefendes, aber melancholisch-schönes Finale zu münden, das mit dem intensiven Song Mystery of Love das minutenlang beobachtete Konterfei einer schmerzhaften Sehnsucht poetisch untermalt.

Guadagnino weiß in seinem sinnlichen Meisterwerk eigentlich in keiner Sekunde, was Kitsch überhaupt sein soll. Er erzählt die Geschichte eines unvergesslichen Sommers in wärmenden und kühlenden Bildern – sei es im Landhaus von Elio´s Familie oder im glutheißen Hinterland Norditaliens, im antik anmutenden, steingepflasterten Beckenbad oder verzaubert am See wie im Sommernachtstraum. Und ja – an Shakespeares märchenhaftem Spiel erinnert auch Call Me by Your Name. Vor allem in diesen Szenen, und meist, wenn Timotheé Chalamet an Oliver, gespielt von Armie Hammer, nonverbale Signale einer knospenden Lust entsendet. Armie Hammer übrigens, den ich bis dato längst nicht wirklich auf dem Radar hatte, überzeugt nicht weniger als der zeitlose Jung-Adonis, der wie ein griechischer Halbgott auf Erden sein eigenes sexuelles Erwachen bestaunt. Oliver ist nicht weniger bildschön, ein lässiger Intellektueller in kurzen Hosen und mit gewinnendem Lächeln, der aber das Problem hat, den Normen seiner Zeit verpflichtet sein zu müssen. Die Zeit – das ist Anfang der 80er Jahre. Homosexualität darf längst noch nicht unter solch einer Akzeptanz gelebt werden wie heute. Damals war die gleichgeschlechtliche Liebe etwas, das tunlichst innerhalb der eigen vier Wände bleiben hat müssen. Dass für das eigene Ansehen und den Erfolg im Leben schädigend war. Für Oliver also nichts, wofür sich ein Outing lohnen würde. Zuviel steht auf dem Spiel. Elio hingegen lassen die Ereignisse begreifen, welchen prägenden Wert sexuelle Freiheit hat. Das Elternhaus von Elio ist ein liberal denkender Zufluchtsort, eine Basis der Geborgenheit, die das Reifen jugendlicher Identität unterstützt. Michael Stuhlbarg´s Monolog zu dieser herausfordernden Problematik gegen Ende des Filmes ist von einnehmender Wucht, aufrichtig, bitter und bestärkend zugleich.

Call Me by Your Name ist wohl das Schönste und Vielschichtigste, was im Genre des Liebesfilms in letzter Zeit zu sehen war. Ein Film, in dem nicht viel passiert, in dem das Unsichtbare zwischen den Menschen in virtuoser Akrobatik die Schwierigkeit von Nähe, sexueller Bekenntnis und dem Reifen des eigenen Ichs porträtiert, versteht und in filmische Dichtung adaptiert. James Ivory, legendärer Kenner der Materie und Schöpfer von Werken wie Was vom Tage übrig blieb, welches ebenfalls von einer unlebbaren Liebe handelt, lässt sein zurecht prämiertes Drehbuch, in dem die kleinen Gesten alles sagen, eine unglaublich innovative und erfrischend junge Sprache sprechen. Die Sprache der Freiheit, zu lieben, wie oder wen man will.

Call Me by Your Name

Once upon a Time in Venice

DER SCHNÜFFLER OHNE MODEL

5/10

 

DSC_6912.NEF@ 2017 KSM

 

LAND: USA 2017

REGIE: MARK CULLEN

MIT BRUCE WILLIS, JOHN GOODMAN, JASON MOMOA, FAMKE JANSSEN U. A.

 

Bruce Willis ist zurück. Oder ist das nur ein kurzes Gastspiel? Alt ist er geworden. Immer noch kahl, dafür aber mit Fell am Rücken. Und ohne Feinripp fehlt ihm was. Auch wenn der über 60jährige immer noch vorgibt, voller Elan den bösen Buben am Skateboard zu entkommen – ich kann mich dem Eindruck nicht erwehren, dass es in Sachen Filmbiz für den auf ewig im Actionzenit einzementierten John McClane gewesen sein könnte. Sein verschlafenes kleines Comeback, das ausschließlich in Venice, Kalifornien, seinen episodenhaften Verlauf nimmt, könnte man als bequemes Intermezzo seines verfrühten Ruhestands betrachten. Von seinem Domizil bis nach Venice Beach ist es womöglich nur ein Katzensprung. Und wenn John Goodman mitmacht – warum eigentlich nicht. Dieses Warum eigentlich nicht steht ihm ins gelassen dreinblickende Gesicht geschrieben. Vielleicht hat er damals schon gewusst, dass er in die Fußstapfen von Charles Bronson steigen wird – Eli Roth steht mit seinem Remake der Selbstjustiz-Action Death Wish in den Kino-Startlöchern. Von überallher an den Kinowänden erstrahlt die neben Telly Savalas berühmteste Glatze Hollywoods im Licht der Erwartung. Eine Aufwärmrunde kann nicht schaden, wird sich der Busenfreund von Arnie und Sly wohl gedacht haben. Somit gibt es jetzt für alle, die nicht warten können, einen Ausflug in das Genre des Schnüffler-Krimis.

Mit Schnüfflern hat Bruce Willis ja schon so seine Erfahrungen. Begonnen hat seine Karriere ja mit Romantic Investigation. Gemeinsam mit Cybill Shepherd hatte er in Das Model und der Schnüffler so manchen Screwball-Charme versprüht. Seit damals sind Jahrzehnte vergangen, und der Schnüffler ist ohne Model im wahrsten Sinne des Wortes auf den Hund gekommen. Der kleine Köter kommt dem genussfreudigen Möchtegern-Detektiv irgendwann abhanden, und daran ist über den Daumen gerechnet die gesamte Unterwelt von Venice Schuld. Irgendwie jedenfalls. Das kann einer wie Bruce, so sehr er auch nach Ruhestand aussieht, nicht auf sich sitzen lassen und streunt kreuz und quer durch den wohlvertrauten Bade- und Erholungsort an der Westküste, um die Sache ins reine zu bringen. Dabei hat Bruce seinen Elan-Faktor nicht gerade bis in den roten Bereich hin angeworfen. Wie jemand, der zu lange in der Sonne gelegen hat, oder eben erst völlig verdattert aus dem Mittagsschlaf erwacht ist, ohne genau zu wissen, was eigentlich los ist. Und Bruce ist nicht der einzige, der so verschlafen wirkt. Das sind die Gangster auch. Und Buddy John Goodman in Hawaii-Hemd und mit seltsam steifen Schritten wirkt noch mehr neben der Spur wie unser alter Actionhero selbst. Wobei die Flitzerszene am Skateboard schon eine Nummer für sich ist, keine Frage!

Doch dieses Versonnen-Versponnene in Once upon a Time in Venice entbehrt nicht eines gewissen gefälligen Gewöhnungseffekts. Dieser schwüle Dauersommer, die seltsamen Typen mit der Phlegmatik eines Sonntagnachmittags und das zerstreute Hin und Her, von dem keiner weiß, wohin die ganze Hundeliebe, das Geldleihen, Geld beschaffen und Observieren führen soll, wäre gerne so schräg wie die kauzig-schwarzhumorigen Komödien der Coen-Brüder, ist aber maximal nur ein erwähnenswertes Bruce Willis-Vehikel, das den Glatzkopf nicht nur in einer verschwindenden Nebenrolle zeigt, sondern prominent in Szene setzt. Ein Film ganz eindeutig für Fans und Leute, die das On Demand-Programm gerne nebenbei laufen lassen. Ideal beim Kiffen, Zocken oder Hundekraulen.

Once upon a Time in Venice