Spider-Man: Across the Spider-Verse (2023)

HIERARCHIEN IM SPINNENNEST

6,5/10


spider-man_acrossthespiderverse© 2023 CTMG, Inc. All Rights Reserved.


LAND / JAHR: USA 2023

REGIE: JOAQUIM DOS SANTOS, KEMP POWERS, JUSTIN K. THOMPSON

DREHBUCH: PHIL LORD, CHRISTOPHER MILLER, DAVID CALLAHAM

MIT DEN STIMMEN VON (ORIGINAL):  SHAMEIK MOORE, HAILEE STEINFELD, JAKE JOHNSON, OSCAR ISAAC, ISSA RAE, DANIEL KALUUYA, KARAN SONI, GRETA LEE, JASON SCHWARTZMAN, BRIAN TYREE HENRY, SHEA WIGHAM U. A.

LÄNGE: 2 STD 21 MIN


Ob Marvel oder DC – die weltgrößten Comic-Franchises mussten sich einfach irgendwann mit dem Clou der Multiversum-Theorie auseinandersetzen, um genügend frischen Wind in die Denk- und Zeichenstudios wehen zu lassen; um genügend Stoff zu lukrieren, damit die guten alten Helden niemals sterben müssen. Das Multiversum bietet vieles – ungeahnte Möglichkeiten, zahlreiche Welten, viele viele Alternativen. Und ein Ende ist nicht absehbar. Ja, sie haben es sich gerichtet – Marvel und DC.

Von einem Multiversum ins nächste zu hirschen besagt aber nicht, auch mit der Zeit herumzuspielen. Zumindest nicht zwingend. Der gute Loki, nordischer Gott des Schabernacks, hielt sich in gleichnamiger Serie nicht nur in diversen Nachbardimensionen auf, er beehrte auch längst vergangene Zeiten, um sich hinter lokalen Apokalypsen wie dem Unglück von Pompeij vor der TVA zu verstecken. Spider-Man Miles Morales tut das nicht, auch nicht Peter Parker in den Live Act Filmen, obwohl er vorgehabt hat, mithilfe von Dr. Strange genau das zu tun: Die Welt vergessen zu lassen, welche Identität hinter der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft steht (siehe Spider-Man: No Way Home). In beiden Fällen überlappen sich allerdings die Dimensionen, und wir, gemeinsam mit den Spider-Mens, kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus, wie viele Alternativen es von der eigenen Realität nur geben kann.

Das Konzept dahinter ist ja schön und gut. Und bietet eine gigantische Bühne für skurrile bis groteske Erscheinungsformen, absurden Konstellationen und unbegrenzten Möglichkeiten. Wie lange aber lässt sich diese reizvolle Idee noch interpretieren, damit das Publikum immer noch staunen kann? Wie lange lässt sich damit noch herumspielen, ohne dass sich so mancher Twist wiederholt oder die gesetzten Pointen auf der Stelle treten? DC fängt mit seinem Multiversum rund um Flash, basierend auf dem Comic Flashpoint, gerade erst an. Marvel hat da schon einige Kilometer hinter sich. Und hängt mit dem Sequel zu Spider Man: A New Universe noch ganz viel Spider-Versen hintendran. Es eröffnen sich in diesem mit über zwei Stunden Spielzeit auffallend und deutlich zu langen Animationsabenteuer Welten über Welten, in denen Spinnenmänner, -frauen und sonstige Kreaturen die Rollen von Morales oder Parker einnehmen. Ist schließlich vielfältig und kurios und auch sehr unterhaltsam, das alles zu sehen. Dabei ist es gut, im Kinosaal entsprechend weit hinten zu sitzen, um die Farb- und Stilkaskaden eines ausufernden Comic-Tornados auch wirklich in seinem Variantenreichtum aufnehmen zu können. Das Auge ermüdet dabei schnell, kalmierende Sequenzen rund um innerfamiliäre Probleme der Superheldinnen und -helden sorgen für die Eindämmung gnadenloser Reizüberflutung und bringen den Ausgleich. Obwohl weder das eine noch das andere niemals etwas ist, was neue Impulse bringt.

Überraschend wenig lassen sich Phil Lord, Christopher Miller und David Callahan zum Thema Multiversum einfallen. Außer dass es viele Versionen vom gleichen gibt. Die Stärken von Spider-Man: Across the Spider-Verse liegen also keinesfalls im diesmaligen Plot, der den quantentechnisch ziemlich zerlegten Wissenschaftler Jonathan Ohnn als Antagonisten ins Zentrum stellt, der als Spot zum im wahrsten Sinne des Wortes unfassbaren Verbrecher mutiert, der Löcher schafft, wo keine sind. Die Stärke liegt zweifelsohne in der Charakterisierung von Miles Morales, der im Laufe seiner unglaublichen Reise zu einem ernstzunehmenden jungen Erwachsenen heranreift, der den Weltenwahnsinn zu verstehen versucht.

Schon wieder Coming of Age? Im Grunde haben wir das alles schon durch: Eltern, die keinen Schimmer davon haben, was ihre Kids anstellen, und diese wiederum aufgrund ihrer Geheimnistuerei den Draht zu ihnen verlieren, Wen wundert’s – und wen überrascht auch noch das innerfamiliäre Pathos, das die USA so sehr so oft und immer wieder ähnlich aufs Neue aufwärmt. Im Marvel-Kosmos ist hinsichtlich dessen schon alles gesagt, und dennoch verstehen es die Macher nur zu gut, das Ganze nochmal so aufzubereiten, dass man gerne hinhört und mit Spannung darauf wartet, ob Morales nun die Karten auf den Tisch legt oder nicht.

Mit weniger Spannung verwöhnt uns der schnell und schwungvoll geschnittene Streifen mit Sprung-, Flug- und akrobatischer Sequenzen, die je nach Dimension in einen anderen Animationsstil eintauchen. Der Mix daraus ist unvermeidlich, die Übersicht dabei zu behalten eine Challenge. Mir als Grafiker gefällt natürlich, was ich da sehe – all die lebendig gewordenen Panels, hinterlegt mit den Dots charakteristischer Siebdruckraster. Versetzte Farbkanäle im Hintergrund erzeugen Unschärfe und folglich Tiefe; nichts bleibt hier flach. Und je mehr all die multiuniversalen Spinnen hin und her huschen und sich selbst überholen, je eher nähert sich das Ende eines halben Abenteuers. Der Cliffhanger ist enorm, doch keine Sorge: Im März nächsten Jahres startet Spider-Man: Beyond the Spider-Verse. Bis dahin werde ich vermutlich alle Details wieder vergessen haben. Manches wird in Erinnerung bleiben. Wie im ersten Teil das Schwein. Hier im zweiten Teil ist es vielleicht der Dino.

Spider-Man: Across the Spider-Verse (2023)

Tove

TANZEN MIT DEN MUMINS

7/10


tove© 2021 Salzgeber


LAND / JAHR: FINNLAND, SCHWEDEN 2020

REGIE: ZAIDA BERGROTH

CAST: ALMA PÖYSTI, KRISTA KOSONEN, SHANTI RONEY, JOANNA HAARTTI, EEVA PUTRO, JAKOB ÖHRMAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Kennt ihr diese knapp einen halben Meter großen, nilpferdähnlichen Strichwesen? Ihr habt diese gutherzigen Zeitgenossen sicher schon mal gesehen. Zumindest mir geht es so. Von irgendwoher kenn ich sie. Man nennt sie die Mumins. Klingelts da vielleicht? Aus der eigenen Kindheit? Beim Stöbern in Buchläden für den Nachwuchs? Kann durchaus sein. Die Mumins wurden zum Kassenschlager, waren die beliebten Stars noch beliebterer Kinderbücher. Dahinter stand Tove Jansson. Von dieser Dame hatte ich vor Sichtung dieses Films allerdings noch nie etwas gehört. Und es beweist, dass Finnland nicht nur den Komponisten Sibelius oder den Filmemacher Aki Kaurismäki hervorgebracht hat. Da gibt’s noch viele andere, die sollte man entdecken, und gerade für Leute, die ihr Glück im Ausleben ihrer künstlerischen Ader finden und sich gerne von Zielstrebigkeit und kreativem Output anderer motivieren lassen, sind Biopics wie Tove eine willkommene Ergänzung diverser Lücken auf der eigenen Wissensstraße der Kunst und Kultur. Dabei war Tove Jansson, zwar ermutigt, aber auch in eine Nische gedrängt durch ihren dominanten Vater, viel weniger eine Verfechterin der neoexpressionistischen Malerei als vielmehr eine Frau, die das etwas verstoßene Genre des Comiczeichnens bravourös mit jenen Skills verbunden hat, die zum Beispiel Astrid Lindgren wunderbar beherrscht hat – dem Geschichtenerzählen für Kinder.

Und noch was kommt hinzu, was in den Vierziger- und Fünfzigerjahren maximal in den Enklaven militanter Künstlerkreise demonstrativ ausgelebt wurde: die sexuelle Freiheit. Verfilmte Zeitbilder wie diese dürften in Ländern wie Russland oder Saudi-Arabien nicht mal unter der Hand weitergereicht werden – verboten und verpönt ist dort jedwede homosexuelle Tendenz oder gar künstlerische Darstellung. In Finnland ist das aber anders, zum Glück. Und auch im übrigen Europa. Und so lassen sich ganz entspannt hierzulande im Kino die Stationen eines Lebens verfolgen, dessen Protagonistin im übertragenen Sinne permanent am Tanzen war. Zu erkennen ist eine von Neugier und Selbstbestimmung durchwirkte Orientierungslosigkeit, die viel Unruhe erzeugt, so viel als geht gleichzeitig ausprobieren will und Individualisten wie Tove Janssen eben nicht nur an einer Sache kontinuierlich arbeiten lässt.

Diesen ewigen Tanz, mit oder ohne Mumins oder mit der leidenschaftlich geliebten Theaterregisseurin Vivica Bandler, die Toves phantastische Wesen tatsächlich auch auf die Bühne gebracht und so ihren Erfolg dafür in richtige Bahnen gelenkt hat, beherrscht die finnische Schauspielerin Alma Pöysti mit Bravour. Tove ist deswegen gelungen, weil, und so soll es auch sein, die kindlich-aparte Blondine mit dem blassen Teint alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Pöysti, die bereits mehrmals animierten Mumins-Filmen ihre Stimme lieh, hat mindestens so viel unverwechselbare Ausstrahlung wie zum Beispiel Tilda Swinton. Pöysti ist unverwechselbar in ihrer Erscheinung und man merkt, dass ihr die Materie alles andere als fremd scheint. In die Figur von Tove lässt sie sich fallen, vor allem intuitiv und impulsiv. Ihr zur Seite lässt sich Krista Kosonen entdecken, die frappant an die junge Barbara Sukowa erinnert, dabei aber eigentlich durch ihre Rolle in der schwedischen Fantasyserie Beforeigners Liebhabern europäischer Serienphantastik längst bekannt sein sollte. Ist sie aber nicht, vielleicht, weil beide Rollen so dermaßen grundverschieden sind, dass der Konnex dazwischen nicht gegeben ist. Beide zusammen, aber auch der Cast in den Nebenrollen, besticht durch Empathie für seine Rollen. In Tove regieren keine Gewalt, keine Niederträchtigkeit oder andere, nachhaltige Dramen. Das Biopic von Zaida Bergroth ist die sanfte, oft verträumte und diskret leidenschaftliche Geschichte einer Künstlergenese, die zwar bis zum finanziellen Erfolg reicht, in Wahreit aber stets den selben, im Kreise drehenden Parcour bestreitet. Das Leben, ein ständiger Neuanfang.

Tove

Glück gehabt

DER PHILOSOPH DES KLEINEREN ÜBELS

6,5/10

 

glueckgehabt© 2019 Luna Filmverleih

 

LAND: ÖSTERREICH 2019

REGIE: PETER PAYER

CAST: PHILIPP HOCHMAIR, JULIA ROY, LARISSA FUCHS, ROBERT STADLOBER, RAIMUND WALLISCH, CLAUDIA KOTTAL U. A.

 

GIS-Gebührenzahler und Flimmit-Abonnenten kennen ihn schon längst, und zwar spätestens seit der ersten Staffel der Vorstadtweiber: Philipp Hochmair. In der Wiener Antwort auf die desperaten Hausfrauen aus der Wisteria Lane gab der Burg- und Thailiatheatermime den arroganten Politiker und Mörder Joachim Schnitzler – herrlich gelackt, lüstern und durchgeknallt. Das der Mann auch anders kann, das zeigt er eben im Kino, in dem wohl nur hierzulande vom Radar erfassten Thrillerkomödie Glück gehabt. Die Figur des Schnitzler, die ist hier sehr weit weg. Hochmair gibt einen zauseligen, allerdings hochtalentierten Comiczeichner, der den lieben langen Tag sehr gerne in Pyjamahose, rauchend und biertrinkend seinen Alltag vorüberziehen lässt, während die Freundin Karriere macht. Sein filziges Erscheinungsbild irgendwo zwischen einem arglosen James Stewart-Lebenskünstler und einer dezenten Ralf König-Comicfigur ist großartig. Früher hätte diese Rolle sogar Alfred Dorfer dankend angenommen, doch der ist das Medium Film wie es scheint ziemlich durch. Hochmair kann zwar schon viel vorweisen, kommt aber im Kino womöglich erst so richtig in Fahrt. Und diesen phlegmatischen Alltagsabenteurer kann man ihm getrost abnehmen. Dabei ist er nicht das, was man unter Glückritter versteht, denn das Glück, das ist bekanntlich „dort, wo sie sind“ – in diesem Fall aber eher dort, wo Filmfigur Artur eben nicht ist. Denn all das, was geschieht, vollzieht sich scheinbar in einem imaginären Nebenraum, als käme unser Antiheld wie die Jungfrau zum Kind, und wo das Kind herkommt, geht Artur nichts an. Oder will ihn scheinbar gar nicht interessieren.

Interessant ist in erster Linie die geheimnsivolle junge Frau namens Alice, die sozusagen direkt aus dem Wunderland in Arturs Welt gestiegen kommt. Das Problem einer Leiche in ihrer Wohnung fordert das Glück dann zusätzlich noch heraus – doch wir wissen: überstrapazieren soll man selbiges nicht, denn sonst geht’s einem wie Polykrates, dem Tyrannen, der wohl zu viel davon wollte. Dabei stellt sich in der Verfilmung von Antonio Fians Roman Das Polykrates-Syndrom die Frage, ob eine Art des Glücks nicht doch nur ein Synonym für ein geringeres Übel ist. Für die Wahl des kleinsten Zwanges und der geradesten Strecke aus einem Schlamassel heraus, in dem sich dann plötzlich alle wiederfinden und Erinnerungen an Adrian Lynes Thrillerklassiker Eine verhängnisvolle Affäre wachrütteln. In Peter Payers Film sind wir aber weit entfernt von hollywood´schen Parametern. Hier in Wien geht es viel gemütlicher zu, und der Film lässt sich trotz seiner knappen 90 Minuten ausreichend Zeit, ein schwarzhumoriges Szenario zu entfalten, das dem verträumten Rhythmus des schlurfigen Philipp Hochmair treuherzig entgegenkommt, während der Zuseher will, dass sich hier manches eher Bahn bricht als es letztendlich der Fall ist. Die Faszination aber, die von der österreichisch-französischen Schauspielerin Julia Roy ausgeht, macht so manche Länge wieder wett und auch von ihr könnte es demnächst mehr im Kino zu sehen geben. Ich könnte es auch so formulieren: Julia Roy ist eine aparte Entdeckung.

Sonst aber gibt es in Glück gehabt bis auf die Umdeutung des Mysteriums Glück nicht viel mehr Neues zu entdecken. Als Psychothriller würde ich das Werk nicht bezeichnen, als Horror schon gar nicht. Ein Stilmix sieht anders aus. Vielmehr ist Payers Film eine durchaus charmante Groteske, die nichts bis zum Exzess treibt, weil Hochmairs Artur dies erstens gar nicht so weit kommen lassen und zweitens lieber nur dabei statt mittendrin sein will. Warum auch nicht? Es ist das bequemere, kleinere Übel.

Glück gehabt