Eineinhalb Tage (2023)

ROADMOVIE AUS DEM SETZKASTEN

4/10


eineinhalbtage© 2023 Netflix Inc.


LAND / JAHR: SCHWEDEN 2023

REGIE: FARES FARES

DREHBUCH: FARES FARES, PETER SMIRNAKOS

CAST: FARES FARES, ALMA PÖYSTI, ALEXEJ MANVELOV, ANNIKA HALLIN, STINA EKBLAD, ANNICA LILJEBLAD, RICHARD FORSGREN, BENGT C. W. CARLSSON U. A.

LÄNGE: 1 STD 34 MIN


Was haben Aki Kaurismäkis lakonisches, vielfach ausgezeichnetes Sozialmärchen Fallende Blätter und das Regiedebüt des schwedischen Schauspielers Fares Fares gemeinsam? Die Schauspielerin Alma Pyösti, die 2020 mit Tove, der Filmbiografie nämlicher Künstlerin, erstmals einem breiteren Publikum bekannt wurde. Seit September letzten Jahres wird sie auf Netflix als Krankenpflegerin Louise eines schönen Tages von Artan, ihrem Ex-Ehemann, heimgesucht, der, bewaffnet und emotional im Ausnahmezustand, einfach beschließt, die Mutter seiner Tochter als Geisel zu nehmen. Menschen wie Artan werden zum Unsicherheitsfaktor schlechthin, inmitten eines sicheren Europas, wo die Exekutive noch zeitnah heranrückt, wenn irgendwo einer beschließt, anderen den fremden Willen aufzuzwingen. So eine unschöne Situation lässt sich durch geschulte Verhandler entsprechend entschärfen, nur die Zeit drängt, und das Spezialkommando lässt sich bitten. Fares Fares ( u. a. Die Nile Hilton Affäre, Die Kairo Verschwörung) höchstselbst gibt den Exekutivbeamten, der in rechtschaffener Selbstlosigkeit dem aufgelösten Familienvater entgegentritt. Es gelingt ihm gar, das Geiseldrama ins Innere eines Polizeiwagens zu verfrachten, weg von all den Schaulustigen und Betroffenen, weg von möglichen Kollateralschäden, rauf auf die Bundesstraße – es bleiben Louise, Artan und der Polizist, unterwegs zu den Schwiegereltern des Mannes, dessen Tochter dort in deren Obhut weilt. Das Roadmovie kann beginnen.

Wie der Titel schon verrät, sind alle drei einen knappen Tag lang, eine Nacht und wieder einen halben Tag unterwegs. Stets hintendrein: Ein Konvoi an Polizeiwägen. Kommt einem dieses Szenario bekannt vor? Natürlich. Zwar liegt der Klassiker schon einige Jahrzehnte zurück, doch Sugarland Express von Steven Spielberg fasziniert immer noch. Allein schon wegen Goldie Hawns famoser Darstellung der Lou Jane Poplin, die ihren Mann aus dem Gefängnis befreit, einen Polizeiwagen samt Beamten kapert und diesen zwingt, die Pflegeeltern ihres kleinen Sohnes aufzusuchen. Sowohl Spielbergs Roadmovie-Klassiker als auch Fares Fares‘ Familiendrama auf vier Rädern beruhen auf wahren Begebenheiten – letzterer wohl mehr oder weniger nur sehr vage. Eher diente eine ähnliche Gesamtsituation, die es nicht mal in die internationalen Medien schaffte, als Inspiration für einen Film, bei dem man sich fühlt, als führen Opfer, Täter und Verhandler im Kreisverkehr, ohne abzubiegen. Der gebürtige Russe Alexej Manvelov punktet anfangs zwar mit einer beunruhigend nervösen Art, die aber auf Dauer keine Variationen zulässt und im Laufe des Films, der gottseidank keine eineinhalb Tage dauert, zusehends nervt. Alma Pöysti daneben auf der Rückbank hat wenig Text, gibt die Eingeschüchterte und auch sie kann ihre Figur im Laufe der Handlung kaum durch neue Erkenntnisse bereichern.

Nicht jeder, der schauspielern kann, ist auch im Regiefach bestens aufgehoben, geschweige denn als Drehbuchautor geeignet. Fares Fares hat für Eineinhalb Tage schließlich alles übernommen – und zumindest beim Skript auf vertraute Strukturen gesetzt. Ein Konzept wie dieses, auf engstem Raum und überschaubaren Plot, eignet sich bestimmt für ein Debütprojekt. Da Fares sich aber dramaturgisch nicht weiter aus dem Autofenster lehnt wie nötig, wechseln im braven Rhythmus die Interaktionen unter den dreien wie beim Bällewerfen – einmal mehr, dann wieder weniger emotional. Überraschungsmomente gibt es keine, die Geschichte ist vorhersehbar, und irgendwann ist man froh, diesen Artan losgeworden zu sein und überhaupt diese ganze bleierne Autofahrt hinter sich gebracht zu haben.

Eineinhalb Tage (2023)

Fallende Blätter (2023)

DAS SCHÖNE ZWISCHEN DEN WIDRIGKEITEN

8/10


FallendeBlaetter© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FINNLAND 2023

REGIE / DREHBUCH: AKI KAURISMÄKI

CAST: ALMA PÖYSTI, JUSSI VATANEN, JANNE HYYTIÄINEN, NUPPU KOIVU, ALINA TOMNIKOV, MARTTI SUOSALO, SAKARI KUOSMANEN, MATTI ONNISMAA U. A.

LÄNGE: 1 STD 21 MIN


Sowieso ist alles hoffnungslos? Gut, zumindest erweckt es den Anschein. Doch was Aki Kaurismäki niemals zulassen würde, ist, seine Figuren in den bodenlosen Abgrund zu werfen. Sie straucheln zwar, sie verlieren ihre Jobs, sie sind einsam und versoffen; sie haben kein Geld und keine Lobby. Doch resignieren, das tun sie nicht. Oder zumindest nicht mehr. Kaurismäki ist seit seinem Cabriolet-Klassiker Ariel hoffnungsvoller geworden. Seine Liebe zur Arbeiterklasse und all jenen, die im Grunde das System erhalten, jedoch nichts dafür bekommen, ist ungefähr so stark wie bei seinem britischen Fachkollegen Ken Loach. Doch wo dieser mit blankem Realismus soziale Defizite aufzeigt, erstellt Kaurismäki lakonische Alltagstableaus voller sprödem Charme. Bevölkert mit Gestalten, die sich das bisschen Glück aus einem sonst ereignislosen Leben picken, das aufgrund höherer Umstände nicht viel anders sein kann. Dieses Glück kann darin liegen, auf die Karaoke-Bühne zu gehen und blumige finnische Balladen zu schmettern, während dem Hochprozentigen zugetane Freitagabend-Melancholiker mit stoischer, aber dennoch verzückter Miene dem Möchtegern-Bariton lauschen.

Um jenen, der gerne jünger wäre, als er ist und darauf wartet, von einer Plattenfirma entdeckt zu werden – um den geht’s hier gar nicht primär. Sondern vielmehr um dessen Arbeitskollegen und Freund, dem Alkoholiker Holappa (Jussi Vatanen). Der bekommt so gut wie nichts auf die Reihe, weil er so viel säuft und dadurch andauernd seine Jobs verliert. Obendrein raucht er noch wie ein Schlot und ist deprimiert. Weil er eben so viel trinkt. Und weil er deprimiert ist, trinkt er. Ein Teufelskreis, dem man sich in Kaurismäkis urbanen Miniaturen mit stoischem Trotz gerne hingibt. Die ganze ernüchternde Monotonie könnte sich ändern, als dieser Holappa auf die hübsche Ansa (Alma Pöysti, zuletzt als Künstlerin Tove auf der Leinwand) trifft. Zuerst ist es nur Blickkontakt. Dann, später, ein erstes gemeinsames Kaffetrinken mit anschließendem Kinobesuch – dort läuft Jim Jarmuschs The Dead Don’t Die, eine kleine Verbeugung des Finnen vor einem Bruder im Geiste, dessen Filme wohl manchmal in einen ähnlich lakonischen Erzählstil abgleiten wie die eigenen. Diese beiden einsamen, aber niemals verlorenen Seelen sollten sich bald wiedertreffen, würde Holappa nicht Ansas Telefonnummer verlieren. So sucht die eine den anderen und umgekehrt, so harren sie vor dem Kino, in welchem gestandene Klassiker am Programm stehen, von Die Maske des Dr. Fu Manchu bis hin zu Godards Die Verachtung. Vielleicht klappt es ja, und aus dem bisschen Zuneigung könnte mehr werden. Nur nicht mehr Alkohol, denn das mag Ansa gar nicht. Im Zuge dieses Wartens und Vorbeigehens an Gelegenheiten müssen beide ihre Lage überdenken, ihr Leben ändern, soweit es in ihrer Macht steht. Eigeninitiative ergreifen dort, wo sonst der Abgrund folgt. Und dafür sind sich Kaurismäkis Liebende dann doch zu stolz, weil sie dennoch, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag, einen Sinn im Leben sehen. Der dann noch stärker wird und wichtiger in Anbetracht eines in Europa tobenden Krieges, der sich in nüchterner Berichterstattung rund um Tod und Zerstörung in einen dem Weltgeschehen scheinbar fernen Alltag mischt.

Kaurismäkis Bilder erreichen zwar nicht dieses akkurate Farbenspiel wie in seinem Meisterwerk Le Havre, aber dennoch ist das Komplementäre ein enorm wichtiges Element, das bereits vorab visualisiert, was zusammengehört und was nicht. Bescheidenes Interieur, enge Bars, längst nicht mehr neues, aber immer noch funktionstüchtiges Drumherum, in welchem pragmatische Lebensführung ihre Verwirklichung findet – so und nicht anders möbliert Kaurismäki sein Universum jenseits des Reichtums und der Gier. Sein Besinnen auf Werte, deren Streben danach im Angesicht noch viel schlimmerer Umstände – nämlich die des Krieges – von Szene zu Szene wichtiger werden, ist das, was der stilsichere Finne ausdrücken will. Die Arbeiterklasse der Gewerkschaften ist dabei immer noch ein Must-Have, Ansas Schuften in der Fabrik ein klassisches Zitat und eine Reminiszenz an seine früheren Werke. Den passenden Sound liefert dabei neben herrlich schwermütigen Chansons das reduktionistische und daher saucoole Musikduo Maustetytöt, das die ironische Melancholie dieser Tragikomödie auf den Punkt bringt.

Vielleicht hat Kaurismäki hier doch sein letztes Werk geschaffen, bevor er gedenkt, sich wieder zurückzuziehen. Und wenn es so wäre? Dann hätte er vielleicht alles gesagt. Alles zur Leidenschaft Kino und seiner Liebe dazu. Alles zum Weltschmerz und der Relativierung des eigenen Status Quo. Immer mehr wird Fallende Blätter zu seiner eigenen Flucht aus der Realität, zu einer Romanze, die Ansa und Holappa wohl im Kino gesehen hätten, könnte der Traum auf der Leinwand nicht doch noch Wirklichkeit werden.

Fallende Blätter (2023)

Tove

TANZEN MIT DEN MUMINS

7/10


tove© 2021 Salzgeber


LAND / JAHR: FINNLAND, SCHWEDEN 2020

REGIE: ZAIDA BERGROTH

CAST: ALMA PÖYSTI, KRISTA KOSONEN, SHANTI RONEY, JOANNA HAARTTI, EEVA PUTRO, JAKOB ÖHRMAN U. A. 

LÄNGE: 1 STD 46 MIN


Kennt ihr diese knapp einen halben Meter großen, nilpferdähnlichen Strichwesen? Ihr habt diese gutherzigen Zeitgenossen sicher schon mal gesehen. Zumindest mir geht es so. Von irgendwoher kenn ich sie. Man nennt sie die Mumins. Klingelts da vielleicht? Aus der eigenen Kindheit? Beim Stöbern in Buchläden für den Nachwuchs? Kann durchaus sein. Die Mumins wurden zum Kassenschlager, waren die beliebten Stars noch beliebterer Kinderbücher. Dahinter stand Tove Jansson. Von dieser Dame hatte ich vor Sichtung dieses Films allerdings noch nie etwas gehört. Und es beweist, dass Finnland nicht nur den Komponisten Sibelius oder den Filmemacher Aki Kaurismäki hervorgebracht hat. Da gibt’s noch viele andere, die sollte man entdecken, und gerade für Leute, die ihr Glück im Ausleben ihrer künstlerischen Ader finden und sich gerne von Zielstrebigkeit und kreativem Output anderer motivieren lassen, sind Biopics wie Tove eine willkommene Ergänzung diverser Lücken auf der eigenen Wissensstraße der Kunst und Kultur. Dabei war Tove Jansson, zwar ermutigt, aber auch in eine Nische gedrängt durch ihren dominanten Vater, viel weniger eine Verfechterin der neoexpressionistischen Malerei als vielmehr eine Frau, die das etwas verstoßene Genre des Comiczeichnens bravourös mit jenen Skills verbunden hat, die zum Beispiel Astrid Lindgren wunderbar beherrscht hat – dem Geschichtenerzählen für Kinder.

Und noch was kommt hinzu, was in den Vierziger- und Fünfzigerjahren maximal in den Enklaven militanter Künstlerkreise demonstrativ ausgelebt wurde: die sexuelle Freiheit. Verfilmte Zeitbilder wie diese dürften in Ländern wie Russland oder Saudi-Arabien nicht mal unter der Hand weitergereicht werden – verboten und verpönt ist dort jedwede homosexuelle Tendenz oder gar künstlerische Darstellung. In Finnland ist das aber anders, zum Glück. Und auch im übrigen Europa. Und so lassen sich ganz entspannt hierzulande im Kino die Stationen eines Lebens verfolgen, dessen Protagonistin im übertragenen Sinne permanent am Tanzen war. Zu erkennen ist eine von Neugier und Selbstbestimmung durchwirkte Orientierungslosigkeit, die viel Unruhe erzeugt, so viel als geht gleichzeitig ausprobieren will und Individualisten wie Tove Janssen eben nicht nur an einer Sache kontinuierlich arbeiten lässt.

Diesen ewigen Tanz, mit oder ohne Mumins oder mit der leidenschaftlich geliebten Theaterregisseurin Vivica Bandler, die Toves phantastische Wesen tatsächlich auch auf die Bühne gebracht und so ihren Erfolg dafür in richtige Bahnen gelenkt hat, beherrscht die finnische Schauspielerin Alma Pöysti mit Bravour. Tove ist deswegen gelungen, weil, und so soll es auch sein, die kindlich-aparte Blondine mit dem blassen Teint alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Pöysti, die bereits mehrmals animierten Mumins-Filmen ihre Stimme lieh, hat mindestens so viel unverwechselbare Ausstrahlung wie zum Beispiel Tilda Swinton. Pöysti ist unverwechselbar in ihrer Erscheinung und man merkt, dass ihr die Materie alles andere als fremd scheint. In die Figur von Tove lässt sie sich fallen, vor allem intuitiv und impulsiv. Ihr zur Seite lässt sich Krista Kosonen entdecken, die frappant an die junge Barbara Sukowa erinnert, dabei aber eigentlich durch ihre Rolle in der schwedischen Fantasyserie Beforeigners Liebhabern europäischer Serienphantastik längst bekannt sein sollte. Ist sie aber nicht, vielleicht, weil beide Rollen so dermaßen grundverschieden sind, dass der Konnex dazwischen nicht gegeben ist. Beide zusammen, aber auch der Cast in den Nebenrollen, besticht durch Empathie für seine Rollen. In Tove regieren keine Gewalt, keine Niederträchtigkeit oder andere, nachhaltige Dramen. Das Biopic von Zaida Bergroth ist die sanfte, oft verträumte und diskret leidenschaftliche Geschichte einer Künstlergenese, die zwar bis zum finanziellen Erfolg reicht, in Wahreit aber stets den selben, im Kreise drehenden Parcour bestreitet. Das Leben, ein ständiger Neuanfang.

Tove