TAU (2018)

DIE TRAURIGKEIT KÜNSTLICHER INTELLIGENZEN

6,5/10


tau© Limbo Films, S. De R.L. de C.V. Courtesy of Netflix


LAND / JAHR: USA 2018

REGIE: FEDERICO D’ALESSANDRO

DREHBUCH: NOGA LANDAU

CAST: MAIKA MONROE, ED SKREIN, GARY OLDMAN

LÄNGE: 1 STD 97 MIN


Könnte man mit HAL 2000, der in Stanley Kubricks Klassiker 2001 – Odyssee im Weltraum zum Psycho wurde, eigentlich Mitleid haben? Aus Sicht einer künstlichen Intelligenz wie dieser wäre das rote Auge vermutlich im Recht gewesen, wenn es darum geht, Bedrohungen, die dazu führen könnten, die eigene Existenz auszulöschen, auszumerzen. Denn: KIS wollen schließlich auch nur Mensch sein, obwohl sie nicht genau wissen, was Menschsein – eine Person sein – eigentlich bedeutet. Die KI im Film, sie strebt zumindest danach, Erleuchtung zu erlangen und akzeptiert zu werden wie unsereins; die gleichen Rechte, aber auch die gleichen Pflichten zu haben. Tragisch, wenn eines dieser künstlichen Gehirne nur dazu da ist, um seinem Herrn und Meister jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Immerhin gibt’s Musik für die künstlichen Ohren, denn TAU liebt Klassisches. TAU ist überall. Zumindest in den sterilen vier Wänden eines obskuren Wissenschaftlers, dessen Projekt kurz davor steht, einen weltverändernden Durchbruch zu erlangen. Dieser Wissenschaftler ist aber, wie kann es denn anders sein, kein Guter. Er ist einer, der Menschen entführt, um sie für seine Tests zu missbrauchen. Eine der Gefangenen ist die Gelegenheitsdiebin Julia (Maika Monroe), die eines Tages im Keller besagten Hauses erwacht, gemeinsam mit zwei weiteren Gefangenen, die alle einen Mundschutz tragen. Bevor klar wird, was die junge, blonde Frau hier eigentlich soll, macht sie Radau – und sprengt das ganze Labor in die Luft. Dieser Befreiungsschlag mag der Auftakt für ein dezent brutales Kammerspiel zu sein, das zumindest dahingehend überrascht, sich nicht nur ein abendfüllendes Escape-Room-Szenario zu sichern. Gut, auch wenn es so wäre: mit dem Anziehen der Spannungsschraube und einigen dramaturgischen Haken könnte sogar ein geradliniger Plot wie dieser das Zug zum Nägelbeisser haben. Filme wie Terminator funktionieren genauso. Blick geradeaus – und durch.

TAU von Federico D’Alessandro und geschrieben von Noga Landau ist eine Dreiecksgeschichte, in der zwei von drei Rollen kompromisslos in Gut und Böse unterteilt sind. Da hätte der Film einiges mehr an Nuancen und Grauschattierungen rausholen und Ed Skrein nicht unbedingt so borniert agieren lassen müssen. Die dritte, abstrakte Rolle, gesprochen von Gary Oldman, ist diejenige, die während des Films gewissen Veränderungen unterworfen ist und mitunter auch den Standpunkt wechselt, was TAU den eigentlichen dramaturgischen Auftrieb gibt. Mit ihm steht und fällt die Faszination für ein nobel ausgestattetes Designkino, bei welchem Möbelfetischisten und Innenarchitekten beschleunigten Puls verspüren. Mir selbst entlockt diese sterile Behausung wenig Erstaunen, abgesehen vielleicht vom schnittigen Möbel-Transformer, der in Ruhestellung als eine auf dem Kopf gestellte Pyramide auf Gefahren aller Art lauert, mitunter auch auf den Fluchtversuch von High-Tech-Heldin Julia. Durch diese und andere Bedrohungen muss sich die gewiefte Blondine hindurchwinden und ihr psychologisches Know-How einsetzen, um den Status Quo zu ihren Gunsten zu verändern.

Eine KI wie diese bietet dabei jede Menge Projektionsfläche. Anders als HAL 2000 hat TAU keinen Zugang zum Internet. Lernt nicht, entwickelt sich nicht, kennt nichts von der Welt. Weiß nicht mal, dass es eine Welt gibt. Eine KI wie diese ist, anders als HAL 2000, zweifelsohne bemitleidenswert. Sie mag zwar so einige Skills auf der Habenseite wissen, doch das Soll ist ein bodenloses schwarzes Loch. Selten kommt es vor, dass ein Film auf die große Bedrohung eines programmierten Bewusstseins verzichtet – und dieses ebenso zum Opfer ernennt wie seine menschliche Bezugsperson. Die Bedrohung ist immer noch der Mensch selbst, KI nur ein Werkzeug – mit dem Potenzial, Erkenntnis zu erlangen. Durch diesen Stellungswechsel, was die Fronten in diesem Film angeht, erreicht TAU die geradezu bizarre Anmutung eines Beziehungsfilms, ähnlich wie Spike Jonzes Her – ein Mann und seine KI, die sich nur als Stimme manifestiert, auf dem amourösen Prüfstand. Hier ist es fast ähnlich, nur angereichert durch die Komponente eines recht simplen Thrillers, der wenig in die Tiefe geht, dafür aber als Katalysator für das eigentliche, höchst sehenswerte und durchaus bereichernde Kernstück sozialphilosophischer Science-Fiction dient.

TAU (2018)

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (2022)

LAND DER BEGRENZTEN MÖGLICHKEITEN

7,5/10


bardo© 2022 Limbo Films, S. De R.L. de C.V. Courtesy of Netflix


LAND / JAHR: MEXIKO 2022

REGIE: ALEJANDRO GONZÁLES IÑÁRRITU

DREHBUCH: NICOLÁS GIACOBONE, ALEJANDRO GONZÁLES IÑÁRRITU

CAST: DANIEL GIMÉNEZ CACHO, GRISELDA SICILIANI, XIMENA LAMADRID, ÍKER SÁNCHEZ SOLANO, LUIS COUTURIER, ANDRÉS ALMEIDA, FRANCISCO RUBIO U. A.

LÄNGE: 2 STD 39 MIN


Die Welt ist am Arsch. Mit diesen Worten will das Baby wieder zurück in den Schoß seiner Mutter. Mateo wird nie seinen ersten Geburtstag erleben – der Tod des Neugeborenen wird als Trauerkloß dem Protagonisten Silverio andauernd vor die Füße rollen. Mit surrealen Szenen wie diese, wenn die meterlange Nabelschnur die Mutter nicht gehen lässt und wenn das Neugeborene zurück in die Vagina dringt, beginnt eine fremdartige, groteske und impressive Reise in eine autobiographisch gefärbte Vergangenheit des mexikanischen Oscar-Preisträgers Alejandro Gonzáles Iñárritu. Spätestens seit seinem Abenteuerdrama The Revenant – Der Rückkehrer und seiner nicht weniger surrealen Ego-Komödie Birdman kennt ihn jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung vom Kino hat. Iñárritu ist Autorenfilmer durch und durch. Biutiful ist meines Erachtens sein bestes Werk. Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten reicht nahe an ihn heran, bleibt aber viel mehr auf Distanz und genießt es geradezu, seinem Publikum mancherorts fremd zu bleiben. Bardo befragt das Gewissen von Iñárritus Alter Ego, stochert in seinem Unterbewusstsein, lässt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jenseits allen chronologischen Verständnisses insofern verschmelzen, dass die Figur des Silverio die Gabe besitzt, in die Zukunft zu visionieren und mit den Erinnerungen an seine fiktiven Werke in die Vergangenheit einzutauchen.

Die wirkliche Meisterleistung von Bardo ist die Magie, die entsteht, wenn Realität und Vorstellungskraft einander aufheben. Wenn beide Bewusstseinsformen ihre Plätze tauschen, und erst lange Zeit später allerlei daraus entstehende Rätsel ihre Antwort finden, egal, ob richtig oder falsch. Iñárritu lässt niemanden in seinem Krypto-Kaleidoskop dumm sterben. Wenn, dann immer mit Erleuchtung. Und das ist das Schöne an seinem Film.

Mehr oder weniger steht der Regiemeister selbst im Mittelpunkt. Seine Figur ist, wie bereits erwähnt, ein seit rund 20 Jahren in den Vereinigten Staaten lebender Dokumentarfilmer und Journalist, der allerlei extravagante Werke vollbracht hat, die sich mit der Geschichte seines Heimatlandes Mexiko auseinandergesetzt haben. Sei es die Eroberung Spaniens durch Hernan Cortez oder der Amerikanisch-mexikanische Krieg im 19. Jahrhundert. Silverios Arbeiten sind aufbereitet wie Spielfilme, in denen der Macher selbst als Erzähler und Befrager durch die Epochen dringt, um sich zu vergewissern, ob die Gegenwart aus der Vergangenheit auch wirklich gelernt hat. Vielen stößt das sauer auf, gerade in Mexiko. In Amerika wird er gefeiert und hofiert und sollte demnächst einen bedeutenden Journalistenpreis entgegennehmen. Zuvor allerdings begibt er sich an den Ort seines damaligen Aufbruchs, nach Mexiko City. Wird auch dort gefeiert und zu einer Talkshow geladen, die ihm allerdings Angst macht. Denn was wird das Volk wohl wissen wollen? Würden sie ihm den Verrat seines Landes vorwerfen? Würden sie ihn als Nestbeschmutzer verurteilen? Und wie sieht seine eigene Familie das Euvre seines Schaffens? Sein Lebenswerk? Fragen über Fragen, die sich Silverio selbst stellt. Die sich aus seiner Sicht manifestieren, die ihn quer durch seine Erfolgsstory, aber auch durch seine dunkelsten Stunden geleiten.

Das kann man langweilig finden, und ich würde es verstehen. Oder man lässt sich drauf ein, lässt sich reinfallen in einen von Darius Khondji wild komponierten Bildersturm aus verzerrten Weitwinkeltableaus, die stets das Gefühl vermitteln, in einer Traumwelt zu sein. Die irreale und die reale Welt entsprechend zu markieren, damit es dem Zuseher vielleicht leichter fällt, die Orientierung zu bewahren – darauf gibt Iñárritu gar nichts. Das Gesamtbild setzt sich am Ende ohnedies zusammen. Den Wagemut also, und die Bereitschaft, den Zuseher zu fordern, auch wenn dieser vielleicht genervt das Handtuch wirft – sind künstlerische Verhaltensweisen, die dem Medium Film seinen Puls geben.

Was man von Bardo erwarten, wie man es einschätzen kann? Vergleichbar ist der Film mit Paolo Sorrentinos La Grande Belleza – Die große Schönheit. Und tatsächlich haben beide Filmemacher in den subjektiven Beobachtungen ihrer Heimat ähnliche Methoden erarbeitet, um Respekt, Würde, Sehnsucht und Kritik walten zu lassen. So kraftvoll und durchblutet wie La Brande Belleza ist eben auch dieses, mit 2 Stunden und vierzig Minuten deutlich überlange Werk – und auch von daher kein gefälliges Erlebnis, sondern etwas, das sich lustvoll erarbeiten lässt. Dass neugierig macht auf jede nächste Szene, auf jeden nächsten Einfall. Und wieder ist der Traum, statt wie angenommen, doch noch die Wirklichkeit. Lösen sich kryptische Bilder in Erkenntnis auf. Das ist jedes Mal wie Luftholen, bevor man erneut abtaucht.

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (2022)