Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer (2023)

BLUTJUNG DURCH DIE NACHT

8/10


Humanist Vampire Seeking© 2023 H264

ORIGINALTITEL: HUMANIST VAMPIRE SEEKING CONSENTING SUICIDAL PERSON

LAND / JAHR: KANADA 2023

REGIE: ARIANE LOUIS-SEIZE

DREHBUCH: ARIANE LOUIS-SEIZE, CHRISTINE DOYON

CAST: SARA MONTPETIT, FÉLIX-ANTOINE BÉNARD, STEVE LAPLANTE, SOPHIE CADIEUX, NOÉMIE O’FARRELL, MARIE BRASSARD, ARNAUD VACHON, PATRICK HIVON U. A.

LÄNGE: 1 STD 31 MIN


Von wegen seelenlose Böslinge: Vampire sind von dämonischen Mächten verfluchte Gestalten, die sehr wohl zu allerlei Empfindungen fähig sind. Das einzige Problem: Sie können eben nicht anders, und müssen, um selbst zu überleben, anderen wehtun. Wie Raubtiere, nur menschlich. Doch wie menschlich können Bram Stokers Blutsauger denn überhaupt noch sein? Wie sehr erinnern sie sich noch an ihren Urzustand als sterbliches Individuum, sofern sie nicht ohnehin schon als Vampir auf die Welt gekommen sind? Lässt sich ein Gewissen ausprägen wie jenes, welches die kleine Sasha verspürt? Gerade mal zu ihrem 68. Geburtstag gibt’s ein ganz besonderes Geschenk: einen menschlichen Partyclown, den die ganze Sippschaft als Highlight des Tages gemeinsam ausschlürfen darf. Auch Sasha soll langsam von Blutkonserven auf Selbstfang umerzogen und vorbereitet werden – doch das untote Mädchen weigert sich. Die feinfühlige Vampirin, von welcher schon im Titel die Rede ist, bringt es nicht übers Herz, unschuldige Sterbliche zu ermorden, auch wenn es dabei ums eigene Überleben geht. Mit dem Latein am Ende, wird Sasha an ihre ältere Cousine übergeben, die ihr zeigen soll, wo und wie geerntet wird. Als alles danach aussieht, als würde das Mädchen sich lieber selbst als andere tilgen, macht sie die Bekanntschaft mit dem depressiven Paul, der nichts lieber tun würde als seinem eigenen Leben ein Ende zu bereiten. Noch dazu, wenn es anderen zum Vorteil gereicht.

Man kann sich vorstellen, welchen Pakt die beiden jungen Gestalten eingehen werden. Wenn einer gibt, kann der andere nehmen. Doch so einfach scheint nicht mal das zu sein. Denn zwischen Sasha und Paul entwickelt sich sowas wie Zuneigung und Respekt vor den Prinzipien des jeweils anderen. Und nicht nur das: Es könnte sogar sein, als entspänne sich obendrein eine kleine Romanze, wenn die Vampirin ihr Opfer zu sich nachhause einlädt, um der Lieblingsschallplatte zu lauschen. Eine Szene, die zu den unvergesslichsten des Films zählt – lakonisch und liebevoll.

Wer sich noch an Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive mit Tilda Swinton und Tom Hiddleston erinnern kann, sieht in Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer eine gewisse Verwandtschaft. Das liegt vorallem an Sara Montpetit, die als so blasses wie zartes Geschöpf der Nacht, die den Look von Wednesday Addams und Sheila Vand als Vampirin aus A Girl Walks Home Alone at Night trägt und mit minimaler Mimik eine ganze Bandbreite an Emotionen präsentiert. Mit ihr hat Ariane Louis-Seize in ihrem Langfilmdebüt dem Genre des Vampirfilms erfrischend unkitschige Vibes hinzugefügt. La Boum für Nachtgestalten, mit Anlehnung an den Kosmos von Anne Rice, die mit der Thematik humanistischer Zähnefletscher Louis-Seize vielleicht sogar inspiriert hat. Und auch wenn die Idee nicht unbedingt neu ist – die Balance zwischen Komödie und atmosphärischem Vampirfilm zu finden, ohne seine Figuren jemals auch nur ansatzweise der Lächerlichkeit preiszugeben, zeugt von einem empathischen Inszenierungsstil und viel Liebe für all die schrägen und todessehnsüchtigen Charaktere. Félix-Antoine Bénad als Möchtegern-Selbstmörder Paul ist ebenfalls eine Entdeckung, er wäre in Harold and Maude wohl eine treffsichere Wahl für ersteren gewesen. Doch statt der alten Dame ist es diesmal ein mysteriöses Mädchen – beide zusammen sind wohl eines der erquicklichsten Paare des Filmjahres. Und wenn beide dann versuchen, das Beste aus ihrer misslichen Lage zu machen, ohne ihre Ideale zu verraten, strotzt der Film nur so vor Cleverness.

Das ganze Twilight-Franchise ist im Gegensatz zu dieser samtschwarzen, urbanen Mär einer Zuneigung lediglich die Behauptung einer empfundenen Romanze. Diese zarten Bande, die hier geschlossen werden, sind dem feingeistigen Understatement eines Vampir-Daseins würdig. Inklusive nadelspitzer Eckzähne. Denn ohne die geht es nicht. Oder doch?

Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer (2023)

Falcon Lake (2022)

DIE SCHRECKEN EINES SOMMERS

8/10


falconlake© 2023 Filmladen Filmverleih


LAND / JAHR: FRANKREICH, KANADA 2022

REGIE: CHARLOTTE LE BON

DREHBUCH: CHARLOTTE LE BON, FRANÇOIS CHOQUET, NACH DER GRAPHIC NOVEL VON BASTIEN VIVÈS

CAST: JOSEPH ENGEL, SARA MONTPETIT, MONIA CHOKRI, ARTHUR IGUAL, KARINE GONTHIER-HYNDMAN, THOMAS LAPERRIERE, ANTHONY THERRIEN U. A.

LÄNGE: 1 STD 40 MIN


Es ist ein Sommer wie damals. Zumindest fühlt es sich so an, auch wenn Smartphones oder andere mobile Endgeräte der Zerstreuung dienen. Es fällt nicht schwer, diese Dinge zu übersehen. Man will sie in dieser anregenden Zeitkapsel gar nicht als inhärent wissen – man will nur den beiden jungen Menschen zusehen, die sich anscheinend gefunden haben und sich gegenseitig faszinierend finden. Da gibt es Bastien, gerade mal Teenager, der bald seinen 14. Geburtstag feiert und mit Eltern und jüngerem Bruder irgendwo in Kanada an einem See Urlaub macht. Da gibt es Chloe, ein 16jähriges Mädchen mit langem dunklem Haar und gern auf Partys. Die Eltern der beiden sind befreundet, beide Familien teilen sich eine Hütte, und bald teilen die beiden Teenies auch die meiste Zeit des Tages miteinander, indem sie um den See strawanzen, sich Geschichten erzählen und Fotos machen, die den Geist eines ertrunkenen Jungen abbilden, der an den Ufern und verhüllt in weißes Laken immer wieder erscheint, da er selbst noch nichts davon weiß, eigentlich gestorben zu sein. Diese Idee beruht auf keinen wahren Begebenheiten, Chloe hat sich das einfach ausgedacht. Und dennoch verlässt einen nicht das Gefühl, dass der Ort ein Geheimnis birgt, welches, von der Zeit losgelöst, irgendwann in Erscheinung treten könnte. Wie das nun mal so ist bei jungen Menschen, erlebt der junge Bastien seine erste Romanze, seine ersten sexuellen Erfahrungen und erste Eifersucht. Probiert Verbotenes, fühlt noch nie Dagewesenes. Lässt die Nähe zu einem Menschen zu, der sie sucht.

Charlotte Le Bon, die man bislang nur als Schauspielerin zu schätzen gelernt hat, wagt sich mit dieser bittersüßen Ballade über die Gefühle junger Menschen an die Verfilmung einer Graphic Novel von Bastien Vivès heran. Dabei gelingt ihr das Kunststück einer stimmungsvollen Romanze, die sich niemals mit oberflächlichen Klischees abgeben will, sondern durch die greifbaren Bedürfnisse der Protagonisten hindurch bis auf ihre verborgenen Ängste stößt. Da ist viel Sorge, alleingelassen zu werden oder nirgendwo dazuzugehören. Da ist viel Angst vor Peinlichkeiten oder dem Umstand, dem anderen nicht zu genügen. Wie Joseph Engel als Bastien es meistert, so unverkrampft und wahrhaftig diesen Sommer so zu erfahren, als wäre er tatsächlich Teil seiner Biografie, bildet das Herzstück des Films, gemeinsam mit der inspirierenden Chemie zwischen ihm und Sara Montpetit, die an Ali McGraw erinnert und einen ungestümen Lebens- und Leidensdrang mit sich bringt.

Es passiert nicht viel am Falcon Lake. Es passieren Dinge, die wir alle auf eine ähnliche Weise selbst schon erlebt haben, die auch einfach so passieren, weil es eben Sommer ist, und der Tag lang genug für Müßiggang, Philosophieren und kindlichen Wagemut. Und dennoch ist der letztes Jahr in Cannes erstmals gezeigte Geheimtipp mehr als nur Stimmungsbild und Beobachtung. Hier liegt etwas Metaphysisches zugrunde – eine Dimension, die keiner so recht greifen kann, die Bastien und Chloe aber umgeben, als wären sie Teil einer höheren Bestimmung. Diese geheimnisvolle, impressionistische Welt lässt den See als Tor in eine andere Welt erscheinen, den Wald drumherum als Ereignishorizont. Hier ist vieles im Gange, dass zwischen den gesprochenen Zeilen liegt und sich meist nur in der Haltung der Figuren oder im malerischen Naturalismus eines Ortes so richtig andeutet. In seiner von Licht und Wärme, Regen und Gewitter durchdrungenen Weise erinnert Falcon Lake dabei an das intensive Erwachen Timothée Chalamets aus Call Me By Your Name.

Die Schrecken eines Sommers sind alles andere als banaler Horror – sie sind die unerwarteten Gefühle, die man zulassen muss, sich ihnen aber nicht gänzlich hingeben darf. Sie sind der Glaube an Dinge, die man nicht sehen kann. Wie die eigene Zukunft.

Falcon Lake (2022)